Klaus Nilius Vom Nachdenken über die Kraft der Utopie
Der Titel der Novelle von Uwe Timm aus dem Jahr 1993 ist ein Versprechen: »Die Entdeckung der Currywurst«. Fast so wie »Die Entdeckung Amerikas«. Und wo wurde die Currywurst »entdeckt«? Natürlich in Hamburg. Wenn die Berliner jetzt aufbegehren, das stimme ja gar nicht, Berlin sei doch der wahre Geburtsort dieser kulinarischen Köstlichkeit, dann sollen sie erst einmal unter Beweis stellen, dass sie einen Flugplatz bauen können, bevor man gewillt ist, ihnen abzunehmen, dass sie sich an so etwas Kompliziertes wie die Erschaffung einer Currywurst heranwagen können.
Geschrieben steht, wie es war. In Hamburg hat die Imbissbuden-Betreiberin Lena Brücke 1945 nach Kriegsende am Großneumarkt eine Wurstbude gepachtet. Als bei einem Transport Ketchupflaschen kaputtgehen und die Soße sich mit Currypulver mischt – lecker! – ist der Verkaufsschlager geboren. So war’s. Basta. Timms »Rennschwein Rudi Rüssel« bestätigt im Übrigen alles, und ihm darf man getrost glauben, wurde es doch 1990 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Über eine Million Exemplare sind davon bisher verkauft worden.
Uwe Timm, am 30. März 1940 in Hamburg geboren, feierte vor einem halben Jahr seinen 80. Geburtstag. Anlass für den Verlag Kiepenheuer & Witsch, einen Band mit literarischen und essayistischen Betrachtungen Timms vorzustellen (»Der Verrückte in den Dünen«); und für den Wallstein Verlag, Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, Autoren, Publizisten und Übersetzer einzuladen, sich mit den Romanen, Novellen, Erzählungen, Essays, den Gedichten, Kinder- und Drehbüchern Uwe Timms zu beschäftigen (»Wunschort und Widerstand«). Um es gleich zu sagen: Die beiden Bücher ergänzen sich wunderbar.
Zeitsprung zurück ins Jahr 1919: Nach dem Mordanschlag auf den ersten Ministerpräsidenten der neu gegründeten bayerischen Republik, Kurt Eisner von der USPD, wurde am 7. April die bayerische Räterepublik ausgerufen. Politiker, Intellektuelle, Kampfgefährten wie Ernst Niekisch, Ernst Toller, Erich Mühsam, Gustav Landauer, Eugen Leviné, Max Levien und Rudolf Egelhofer gaben den Ton an. Und für sieben Tage war der Unternehmer, Finanztheoretiker und Begründer der Freiwirtschaftslehre Silvio Gesell Volksbeauftragter für Finanzen, ergo Finanzminister, in der anarchistisch-revolutionären Republik, der schon nach vier Wochen, am 2. Mai, von Freikorpsverbänden und der Reichswehr der Garaus gemacht wurde. Haftstrafen, Todesurteile oder sofortige Erschießung folgten. Die Verteidiger der Republik wurden gnadenlos verfolgt. Auch Silvio Gesell wurde verhaftet, wegen Hochverrats angeklagt, von dem Standgericht aber auf Grund seiner Selbstverteidigungsrede freigesprochen. 1924 ging Gesell erneut für einige Jahre nach Argentinien, wo er vorher schon zweimal sich aufgehalten hatte.
Also, auf nach Argentinien, ins Jahr 1931: »Zwei Männer gehen am Strand entlang, dort, wo der Sand noch feucht und fest ist.« Wir sind an der Küste des Südatlantiks, in der heutigen Provinz Buenos Aires. Bei den Männern handelt es sich um Carlos Gesell, einen Sohn Silvio Gesells, und seinen Gehilfen.
Fast vier Stunden gehen sie, bis Carlos stehen bleibt, auf den sandigen Boden zeigt und eine raumgreifende Handbewegung macht: »Hier wird die Stadt sein, und sie wird den Namen tragen des Vaters. Der Gehilfe sagt stockend: Profeta, so wird es sein.« Und so kam es.
Nach vielen Rückschlägen in den windüberwehten, unfruchtbaren, von Flugsand ständig veränderten Dünen gelang es, sie urbar zu machen, so dass die Vision des »Verrückten in den Dünen« Wirklichkeit wurde. Heute zählt das argentinische Seebad Villa Gesell über 30.000 ständige Einwohnerinnen und Einwohner. Straßennamen erinnern an Vater Silvio und dessen Geburtsort St. Vieth in Belgien.
Diese Erzählung eröffnet das gleichnamige Buch und zeigt zusammen mit den folgenden Beiträgen Timms Intention: Modelle gemeinschaftlichen Lebens zu schildern, Visionen, Gegenwirklichkeiten und andere Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens: »Andre Welten scheinen auf, nicht unähnlich dem Konjunktiv. Die Literatur bringt in der Sprache solche Gegenwelten, die einen nicht realen Ort haben, hervor, insofern sind sie utopisch.«
Timm fragt: »Braucht eine Politik, die bewusst Einfluss auf das gesellschaftliche und ökonomische Geschehen nehmen will und beides nicht allein dem Prinzip von Wachstum und Profit überlässt, eine Utopie?« »Welche philosophische, künstlerische und gesellschaftlich gestaltende Kraft kann der utopische Gedanke heute noch entfalten?« Das Nachdenken über solche Fragen wurde zum Impetus der Betrachtungen und führte zu dem Versuch, »Hinweise für mögliche Ansätze in der Wirklichkeit«, »utopische Orte und utopische Räume« zu finden.
Uwe Timm ist seit den 1970er Jahren »als Erzähler zugleich Chronist der deutschen Geschichte, ihrer Verhängnisse und Katastrophen, Aufbrüche und Utopien«. »Wunschort und Widerstand« aus dem Wallstein Verlag versammelt »neue Zugänge namhafter Autorinnen und Autoren zu dem vielschichtigen Werk«, betrachtet Timms politisches Engagement und hält zwei Laudationes parat: von Ulrich Greiner, dem ehemaligen Literaturchef der Zeit, anlässlich der Verleihung der Plakette der Freien Akademie der Künste in Hamburg 2017 und von dem Schriftsteller Moritz Rinke, der 2018 im Mannheimer Nationaltheater die Festrede auf den Schillerpreisträger Timm hielt. Der 30-seitige »Versuch einer Rezeptionsgeschichte« der Werke Uwe Timms durch den Literaturwissenschaftler Keith Bullivant komplettiert den Sammelband. Hier spannt sich der Bogen von »Widersprüche« (1971) über »Heißer Sommer« (1974) bis zu der autobiografischen Erzählung »Am Beispiel meines Bruders« (2003) und »Die Reise nach Ikarien« (2017).
Eröffnet wird das Buch jedoch von der bisher unveröffentlichten Erzählung Timms mit dem Titel »Eine Lissabonner Nacht«: Der Ich-Erzähler, ein deutscher Romanschriftsteller auf Lesereise, lässt sich in der portugiesischen Hauptstadt am Tresen einer Bar nieder, kommt mit dem Barkeeper ins Gespräch über die Ereignisse des Tages und die Abfolge der Getränke und berichtet, dass er versetzt wurde, dass ein anderer Autor die Verabredung am Nachmittag nicht eingehalten habe. Es handele sich um den italienischen Schriftsteller Antonio Tabucchi (1943 – 2012), mit dem er sich gerne über dessen 1994 erschienenes, in der Zeit der Salazar-Diktatur spielendes Buch »Erklärt Pereira« unterhalten hätte, und zwar über den Satz »Die höchste Wahrheit besteht in der Fiktion.«
Dann, das letzte Glas ist ausgetrunken und die Bar geschlossen, geht der deutsche Schriftsteller hinaus in die Nacht. Vor der Tür wartet – Tabucchi.
»Antonio, sagte ich, ich bin den ganzen Tag hinter Ihnen hergelaufen, und jetzt warten Sie hier.
Man soll nicht hinterherlaufen, sagte er.
Hätte ich Sie sonst getroffen?
Natürlich. Ich habe Sie doch durch die Stadt begleitet.
Er hakte sich unter: Lassen Sie uns ein wenig über die Bedeutung des Zweifels reden.«
So gingen sie langsam die Straßen entlang, durchs nächtliche Lissabon. Ob sie wohl auch darüber sprachen, wie wichtig es manchmal ist, auch an den Zweifeln zu zweifeln?
Uwe Timm: »Der Verrückte in den Dünen – Über Utopie und Literatur«, Kiepenheuer & Witsch, 253 Seiten, 20 €. Martin Hielscher, Friedhelm Marx (Hg.): »Wunschort und Widerstand – Zum Werk Uwe Timms«, Wallstein Verlag, 394 Seiten, 29,90 €. »Erklärt Pereira« von Antonio Tabucchi gibt es in verschiedenen Ausgaben, unter anderem als Taschenbuch bei dtv.