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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vom Nachdenken über die Kraft der Utopie

Klaus Nili­us Vom Nach­den­ken über die Kraft der Utopie

 

Der Titel der Novel­le von Uwe Timm aus dem Jahr 1993 ist ein Ver­spre­chen: »Die Ent­deckung der Cur­ry­wurst«. Fast so wie »Die Ent­deckung Ame­ri­kas«. Und wo wur­de die Cur­ry­wurst »ent­deckt«? Natür­lich in Ham­burg. Wenn die Ber­li­ner jetzt auf­be­geh­ren, das stim­me ja gar nicht, Ber­lin sei doch der wah­re Geburts­ort die­ser kuli­na­ri­schen Köst­lich­keit, dann sol­len sie erst ein­mal unter Beweis stel­len, dass sie einen Flug­platz bau­en kön­nen, bevor man gewillt ist, ihnen abzu­neh­men, dass sie sich an so etwas Kom­pli­zier­tes wie die Erschaf­fung einer Cur­ry­wurst her­an­wa­gen können.

Geschrie­ben steht, wie es war. In Ham­burg hat die Imbiss­bu­den-Betrei­be­rin Lena Brücke 1945 nach Kriegs­en­de am Groß­neu­markt eine Wurst­bu­de gepach­tet. Als bei einem Trans­port Ketch­up­fla­schen kaputt­ge­hen und die Soße sich mit Cur­ry­pul­ver mischt – lecker! – ist der Ver­kaufs­schla­ger gebo­ren. So war’s. Basta. Timms »Renn­schwein Rudi Rüs­sel« bestä­tigt im Übri­gen alles, und ihm darf man getrost glau­ben, wur­de es doch 1990 mit dem Deut­schen Jugend­li­te­ra­tur­preis aus­ge­zeich­net. Über eine Mil­li­on Exem­pla­re sind davon bis­her ver­kauft worden.

Uwe Timm, am 30. März 1940 in Ham­burg gebo­ren, fei­er­te vor einem hal­ben Jahr sei­nen 80. Geburts­tag. Anlass für den Ver­lag Kie­pen­heu­er & Witsch, einen Band mit lite­ra­ri­schen und essay­isti­schen Betrach­tun­gen Timms vor­zu­stel­len (»Der Ver­rück­te in den Dünen«); und für den Wall­stein Ver­lag, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin­nen und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler, Autoren, Publi­zi­sten und Über­set­zer ein­zu­la­den, sich mit den Roma­nen, Novel­len, Erzäh­lun­gen, Essays, den Gedich­ten, Kin­der- und Dreh­bü­chern Uwe Timms zu beschäf­ti­gen (»Wunschort und Wider­stand«). Um es gleich zu sagen: Die bei­den Bücher ergän­zen sich wunderbar.

Zeit­sprung zurück ins Jahr 1919: Nach dem Mord­an­schlag auf den ersten Mini­ster­prä­si­den­ten der neu gegrün­de­ten baye­ri­schen Repu­blik, Kurt Eis­ner von der USPD, wur­de am 7. April die baye­ri­sche Räte­re­pu­blik aus­ge­ru­fen. Poli­ti­ker, Intel­lek­tu­el­le, Kampf­ge­fähr­ten wie Ernst Nie­kisch, Ernst Tol­ler, Erich Müh­sam, Gustav Land­au­er, Eugen Levi­né, Max Levi­en und Rudolf Egel­ho­fer gaben den Ton an. Und für sie­ben Tage war der Unter­neh­mer, Finanz­theo­re­ti­ker und Begrün­der der Frei­wirt­schafts­leh­re Sil­vio Gesell Volks­be­auf­trag­ter für Finan­zen, ergo Finanz­mi­ni­ster, in der anar­chi­stisch-revo­lu­tio­nä­ren Repu­blik, der schon nach vier Wochen, am 2. Mai, von Frei­korps­ver­bän­den und der Reichs­wehr der Gar­aus gemacht wur­de. Haft­stra­fen, Todes­ur­tei­le oder sofor­ti­ge Erschie­ßung folg­ten. Die Ver­tei­di­ger der Repu­blik wur­den gna­den­los ver­folgt. Auch Sil­vio Gesell wur­de ver­haf­tet, wegen Hoch­ver­rats ange­klagt, von dem Stand­ge­richt aber auf Grund sei­ner Selbst­ver­tei­di­gungs­re­de frei­ge­spro­chen. 1924 ging Gesell erneut für eini­ge Jah­re nach Argen­ti­ni­en, wo er vor­her schon zwei­mal sich auf­ge­hal­ten hatte.

Also, auf nach Argen­ti­ni­en, ins Jahr 1931: »Zwei Män­ner gehen am Strand ent­lang, dort, wo der Sand noch feucht und fest ist.« Wir sind an der Küste des Süd­at­lan­tiks, in der heu­ti­gen Pro­vinz Bue­nos Aires. Bei den Män­nern han­delt es sich um Car­los Gesell, einen Sohn Sil­vio Gesells, und sei­nen Gehilfen.

Fast vier Stun­den gehen sie, bis Car­los ste­hen bleibt, auf den san­di­gen Boden zeigt und eine raum­grei­fen­de Hand­be­we­gung macht: »Hier wird die Stadt sein, und sie wird den Namen tra­gen des Vaters. Der Gehil­fe sagt stockend: Pro­fe­ta, so wird es sein.« Und so kam es.

Nach vie­len Rück­schlä­gen in den win­d­über­weh­ten, unfrucht­ba­ren, von Flug­sand stän­dig ver­än­der­ten Dünen gelang es, sie urbar zu machen, so dass die Visi­on des »Ver­rück­ten in den Dünen« Wirk­lich­keit wur­de. Heu­te zählt das argen­ti­ni­sche See­bad Vil­la Gesell über 30.000 stän­di­ge Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner. Stra­ßen­na­men erin­nern an Vater Sil­vio und des­sen Geburts­ort St. Vieth in Belgien.

Die­se Erzäh­lung eröff­net das gleich­na­mi­ge Buch und zeigt zusam­men mit den fol­gen­den Bei­trä­gen Timms Inten­ti­on: Model­le gemein­schaft­li­chen Lebens zu schil­dern, Visio­nen, Gegen­wirk­lich­kei­ten und ande­re For­men des Zusam­men­le­bens und Zusam­men­ar­bei­tens: »And­re Wel­ten schei­nen auf, nicht unähn­lich dem Kon­junk­tiv. Die Lite­ra­tur bringt in der Spra­che sol­che Gegen­wel­ten, die einen nicht rea­len Ort haben, her­vor, inso­fern sind sie utopisch.«

Timm fragt: »Braucht eine Poli­tik, die bewusst Ein­fluss auf das gesell­schaft­li­che und öko­no­mi­sche Gesche­hen neh­men will und bei­des nicht allein dem Prin­zip von Wachs­tum und Pro­fit über­lässt, eine Uto­pie?« »Wel­che phi­lo­so­phi­sche, künst­le­ri­sche und gesell­schaft­lich gestal­ten­de Kraft kann der uto­pi­sche Gedan­ke heu­te noch ent­fal­ten?« Das Nach­den­ken über sol­che Fra­gen wur­de zum Impe­tus der Betrach­tun­gen und führ­te zu dem Ver­such, »Hin­wei­se für mög­li­che Ansät­ze in der Wirk­lich­keit«, »uto­pi­sche Orte und uto­pi­sche Räu­me« zu finden.

Uwe Timm ist seit den 1970er Jah­ren »als Erzäh­ler zugleich Chro­nist der deut­schen Geschich­te, ihrer Ver­häng­nis­se und Kata­stro­phen, Auf­brü­che und Uto­pien«. »Wunschort und Wider­stand« aus dem Wall­stein Ver­lag ver­sam­melt »neue Zugän­ge nam­haf­ter Autorin­nen und Autoren zu dem viel­schich­ti­gen Werk«, betrach­tet Timms poli­ti­sches Enga­ge­ment und hält zwei Lau­da­tio­nes parat: von Ulrich Grei­ner, dem ehe­ma­li­gen Lite­ra­tur­chef der Zeit, anläss­lich der Ver­lei­hung der Pla­ket­te der Frei­en Aka­de­mie der Kün­ste in Ham­burg 2017 und von dem Schrift­stel­ler Moritz Rin­ke, der 2018 im Mann­hei­mer Natio­nal­thea­ter die Fest­re­de auf den Schil­ler­preis­trä­ger Timm hielt. Der 30-sei­ti­ge »Ver­such einer Rezep­ti­ons­ge­schich­te« der Wer­ke Uwe Timms durch den Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Keith Bul­li­vant kom­plet­tiert den Sam­mel­band. Hier spannt sich der Bogen von »Wider­sprü­che« (1971) über »Hei­ßer Som­mer« (1974) bis zu der auto­bio­gra­fi­schen Erzäh­lung »Am Bei­spiel mei­nes Bru­ders« (2003) und »Die Rei­se nach Ika­ri­en« (2017).

Eröff­net wird das Buch jedoch von der bis­her unver­öf­fent­lich­ten Erzäh­lung Timms mit dem Titel »Eine Lis­sa­bon­ner Nacht«: Der Ich-Erzäh­ler, ein deut­scher Roman­schrift­stel­ler auf Lese­rei­se, lässt sich in der por­tu­gie­si­schen Haupt­stadt am Tre­sen einer Bar nie­der, kommt mit dem Bar­kee­per ins Gespräch über die Ereig­nis­se des Tages und die Abfol­ge der Geträn­ke und berich­tet, dass er ver­setzt wur­de, dass ein ande­rer Autor die Ver­ab­re­dung am Nach­mit­tag nicht ein­ge­hal­ten habe. Es han­de­le sich um den ita­lie­ni­schen Schrift­stel­ler Anto­nio Tabuc­chi (1943 – 2012), mit dem er sich ger­ne über des­sen 1994 erschie­ne­nes, in der Zeit der Sala­zar-Dik­ta­tur spie­len­des Buch »Erklärt Perei­ra« unter­hal­ten hät­te, und zwar über den Satz »Die höch­ste Wahr­heit besteht in der Fiktion.«

Dann, das letz­te Glas ist aus­ge­trun­ken und die Bar geschlos­sen, geht der deut­sche Schrift­stel­ler hin­aus in die Nacht. Vor der Tür war­tet – Tabucchi.

»Anto­nio, sag­te ich, ich bin den gan­zen Tag hin­ter Ihnen her­ge­lau­fen, und jetzt war­ten Sie hier.

Man soll nicht hin­ter­her­lau­fen, sag­te er.

Hät­te ich Sie sonst getroffen?

Natür­lich. Ich habe Sie doch durch die Stadt begleitet.

Er hak­te sich unter: Las­sen Sie uns ein wenig über die Bedeu­tung des Zwei­fels reden.«

So gin­gen sie lang­sam die Stra­ßen ent­lang, durchs nächt­li­che Lis­sa­bon. Ob sie wohl auch dar­über spra­chen, wie wich­tig es manch­mal ist, auch an den Zwei­feln zu zweifeln?

 

Uwe Timm: »Der Ver­rück­te in den Dünen – Über Uto­pie und Lite­ra­tur«, Kie­pen­heu­er & Witsch, 253 Sei­ten, 20 €. Mar­tin Hiel­scher, Fried­helm Marx (Hg.): »Wunschort und Wider­stand – Zum Werk Uwe Timms«, Wall­stein Ver­lag, 394 Sei­ten, 29,90 €. »Erklärt Perei­ra« von Anto­nio Tabuc­chi gibt es in ver­schie­de­nen Aus­ga­ben, unter ande­rem als Taschen­buch bei dtv.