Ich erinnere mich, wie ich einst losfuhr, hin zum Galgenberg. Im dazugehörigen Wäldchen hatten wir als Kinder oft gespielt. Späte Abenddämmerung, verweilen auf dem Gedenkstein. Den Blick in der Ferne schweifen lassen. Ich machte mich mal wieder auf die Suche nach dem, was hinter dem Horizont lag. Warum scheint den Menschen zu ihrem Glück immer etwas zu fehlen? Sollten wir nicht einfach anpacken und – gerade in der heutigen Zeit – nicht herumjammern?
Dabei hatte ich all die Jahre gearbeitet, angepackt, war als Ingenieur auf vielen Konferenzen weltweit. Eine Familie gegründet, im Ausland gearbeitet. Kinder großgezogen. Alle Welt packte an, ich hatte eine Art Goldgräberstimmung im Silicon Valley miterlebt. Und dennoch beschlich mich das Gefühl, dass die moderne, hochcomputerisierte Welt dem Menschen eine biophysisch-kognitive Struktur einverleibt, die zum Zerplatzen des Traumes einer friedlichen Zukunft führt, in der wir doch so gern unsere Enkel aufwachsen sehen würden. Dabei war ich doch im Nukleus dieser neuen Technologien tätig, in der Herstellung derjenigen Bauteile, die in den letzten Jahren einen Traum wiederbelebten, der schon einige Male gestorben war: den Traum der künstlichen Intelligenz. Was war da schiefgegangen? Oder war dies von vorherein alles nur eine Illusion?
Vom Galgenberg aus sehen wir, wie sich die Welt bewegt, sich Dinge, Lebewesen und Menschen verändern. Alles scheinbar auf der Grundlage von inzwischen gut erforschten Naturgesetzen, einem »objektiven Weltbild«. Dann sehen wir die heutigen Herausforderungen: den seit Jahrhunderten ungebremst wachsenden Energiekonsum, den Klimawandel, die sich selbst verstärkende Anhäufung von »Gütern«. Auch der Wahlspruch der Aufklärer, »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, wird zunehmend von dem Glauben ersetzt, dass »Daten der Schlüssel zur Beherrschung der Weltgeschehnisse« seien. Wie frei sind wir wirklich?
Es ist, als ob eine große Wolke aufzieht, wenn man versucht, die aktuelle Identität zu hinterfragen. Ja natürlich, so könnte es sein, wir sind ja alle durch ein Weltbild geprägt, das sowohl den Menschen als auch das komplette Universum in einer Formel, in einem Kontrollregime vereint sieht. Alle Machthaber sind mit dieser Denkweise bis aufs Innerste vertraut, und es ist kein Wunder, wenn Bestseller zwischen den Achsen »Wie werde ich reich« bis zu »Wie rette ich mich vor meinem psychopatischen Chef« florieren. Dieses deterministische, »objektive« Weltbild führt dazu, dass wir uns auf einen sehr begrenzten Teil der Realität konzentrieren und andere Perspektiven übersehen.
Das alles sehen wir. Aber uns selbst sehen wir nicht. Wir stecken noch zu tief in unserer alten Identität. Dabei haben wir die Augen doch offen. Können wir mit unseren eigenen Augen, mit diesem Menschen dahinter nicht in Berührung treten? Doch, das können wir. Wir müssen das »objektive Weltbild«, die damit verbundene Identität etwas beiseiteschieben. Wir fühlen ja oft, dass es eine andere Wahrheit gibt. Doch wo finden wir sie?
Eine überwältigende Zahl von Schriften, Büchern und Meinungen wetteifert um den Ursprung, die innere Struktur von Wahrheit. Dass unsere Aussagen »kohärent« zueinander seien, das mache sie wahr. Oder dass sie mit den Dingen übereinstimmen, mit ihnen »korrespondieren«. Wir müssen hier nicht weiter ins Detail gehen, denn eins folgt aus all diesen Ausführungen nicht: dass von der Wahrheit eine Kraft ausgehen könnte. Denn wo sollte diese Kraft verankert sein? Dabei haben Denker wie Platon oder Schopenhauer dies schon einmal herausgearbeitet – es ist aber in Vergessenheit geraten.
Aber was soll das sein, das uns dann leitet und uns wirklich antreibt? Wo liegt diese Wahrheit verborgen? Wir sind noch auf dem Galgenberg, dem Stand der finalen Gesetzgebung. Da zeichnet sich langsam ein neues Bild aus der Physik und der Neurowissenschaft ab. Aus der Physik lernen wir dabei, dass alles Lebendige dem Prinzip der Minimierung des zu seiner Erhaltung erforderlichen Energieverbrauchs folgt. Die Pinguine, der Vogelflug, auch der Aufbau und die Erhaltung jedes Ameisenhaufens folgen diesem grundlegenden Prinzip. Aber wussten wir das nicht alle schon längst? Dennoch verletzen wir seit Jahren dieses Prinzip und suchen vermehrt nach kurzfristigen Lösungen. Haben wir nicht auch die Abgrenzung, den Bau von Zäunen und das Besitztum über das Verbindende gestellt? So haben wir uns zwar auf der Suche nach kurzfristigen Erfolgen in energieaufwändige Lösungen verwickelt; wir können uns daraus aber auch wieder befreien. Aber wie?
Der Physiker Erwin Schrödinger – Mitbegründer der Quantenphysik – hat schon vor einigen Jahren ausgeführt, dass wir am Beginn einer biologischen Umbildung von egoistischer zu altruistischer Einstellung stehen könnten, zu einem animal sociale. Wer sollte uns dies dann aber lehren – und was genau sollten wir tun? Brauchen wir nun doch eine neue Theorie, eine neue Ökonomie? Schrödingers Antwort ist einfach, hat aber seitdem niemand mehr ernsthaft aufgegriffen: In unserem »objektiven Weltbild« ist eine Antwort in Form einer neuen »objektiven Theorie« gar nicht möglich. Weil es ums Ganze geht. Um unser eigentliches Menschsein. Um jeden von uns – egal, welchen Volkes oder welcher Nation.
Uns leitet etwas, das auf eine innere Verbundenheit mit uns, der Welt der fühlbaren Wahrheit aufbaut: Das sind unsere tatsächlichen, gelebten Werte. Können wir uns noch daran erinnern, wie wir als Kinder geliebt wurden? Haben wir uns nicht selbst – und alle unserer Vorfahren – unserem Nachwuchs innigst zugewendet? Hat die Menschheit nicht sogar mit der Erfindung der Sprache eine grundlegend neue Welt aufgetan, die eben nicht von vorneherein das Schicksal jedes Neugeborenen festlegt? Ist die Sprache nicht ein hervorragendes Mittel dazu, eben genau jene Welt aufzutun, in der wir die Dinge im Schweben halten und sich entwickeln lassen können? Hat nicht auch bereits Wilhelm von Humboldt dieses Schweben der Sprache als das Wesentliche unseres Menschseins begriffen? Nicht das Maximum an geldwerten Mitteln, sondern das Gewahrwerden durch den Anderen ist der »Überschuss«, der uns tatsächlich leiten und Orientierung vermitteln kann. Wie ist das zu verstehen?
Hirnforscher können inzwischen für alle Aufgaben, die uns das Leben stellt, spezifische Funktionseinheiten lokalisieren. Bilden wir jetzt die Zentren zur Bewältigung der Klimakrise und des Terrors heraus? Nein, das ist es wohl nicht, und es ist sogar völlig umgekehrt. Was für uns wichtig ist angesichts der heutigen Probleme, schöpfen wir aus einer Quelle, die auf einer bisher so nicht betrachteten Unbestimmtheit gründet. Der Kern echter Information besteht darin, dass wir uns »be-geistern«. Aber dazu müssen wir eben einen Schritt aus unserem derzeitigen Glauben, unserer derzeitigen Identität hinaustun.
Wir Menschen haben es mit der Erfindung der Sprache und den damit verbundenen vielschichtigen Gefühlen geschafft, das äffische Patriarchat ein gutes Stück zu überwinden. Denn dort sitzt die Quelle unserer inneren Werte – in der Überwindung von Ungleichheit, oder, positiv ausgedrückt, in der Schaffung von individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. »Bedeutung« erhält etwas, das wir mit anderen teilen können. Und nicht das, was unser »Eigentum« ist. Wir entwickeln es mit unseren Kindern und in der Gemeinschaft. Das nennen wir dann »Wahrheit«. Das haben unsere Vorfahren dereinst erschaffen, und wir alle erschaffen dies kontinuierlich in unserer Gemeinschaft. Den Galgenberg und – in einem ähnlichen Sinne – die physikalischen Gesetze brauchen wir heute zum Entscheid über eine eher vordergründige Wahrheit, weil unsere jetzige Identität nichts anderes zulässt: Wem gehört was, welche Rechnungen sind offen.
Wie können wir dies nun überwinden? Es ist wie ein lebendes Etwas, diese Zwischenwelt, an der jeder mittut und die manche die Geisteswelt nennen, oder die Kultur, oder den Volkskörper. Diese Dimension hat hunderttausende von Jahren unseren Hunger nach Wissen gestillt, von Kindesbeinen an. Und sie ist im objektiven Weltbild im Wortsinn »unsichtbar«: wie die »dunkle Materie«.
Das komplette Universum spielt uns dabei in die Karten. Im Beginn war ja alles maximal geordnet, es gab nur reine Energie. Dann bildeten sind durch Expansion neue Strukturen, Atome und das Leben. Aber was hält diese Strukturen zusammen und lässt sie gar weiter-entwickeln? Die Bedeutung und der Zusammenhalt dieser Strukturen und auch unseres Denkens sind – aus objektiver Sicht – »Unbestimmtheit« oder eben »Möglichkeit für Zukünftiges«. Wir selbst – unser eigenes, subjektives Erleben – sind die Kehrseite dieser Unbestimmtheit. Wir haben – jeder von uns – jederzeit die Möglichkeit, unsere Identität zu verlassen oder weiterzuentwickeln.
In diesen Kanon können wir auch unser Bild von der Wissenschaft neu einordnen. Dabei haben inzwischen Forscher wie Ernst Fehr nachgewiesen, dass Menschen nicht nur nach Eigeninteresse oder »deterministisch« handeln, sondern nach wie vor Fairness und soziale Eingebundenheit praktizieren und damit einen Fortschritt für alle bewirken.
So können wir jetzt besser erkennen, welche Beherrschungsverhältnisse uns tatsächlich umgeben. Wir sehen viele Personen, die sich um Energiequellen scharen. Das »objektive Weltbild« verkoppelt uns mit den Strömen, die allen Energiequellen folgen und feiert die Anhäufung von Besitztümern. Namhafte Wissenschaftler wie Ian Morris sehen deshalb die kontinuierliche Steigerung des Energieverbrauchs als den zentralen menschlichen Wert. Jetzt sehen wir, dass wir in diese Energieströme lediglich als Objekte eingegliedert sind. Aber wir können jetzt besser verstehen, dass dies aus einer Sichtweise folgt, die den Blick auf die »Kraft der Wahrheit« verloren hat.
Viele sind dazu bereits unterwegs. Das ist es, was wir auf dem Galgenberg tatsächlich sehen können. Ganz konkret zeigt sich dies darin, dass Menschen jenseits ihrer bezahlten Tätigkeit wirkliche Orte der Wertfindung entdecken oder erschaffen. Die dadurch freisetzbaren Energien lassen erahnen, welche Transformationsprozesse tatsächlich möglich sind. Denn das, was die weltweite Produktions- und Kriegsmaschinerie quasi als ihre notwendige Stabilisation tatsächlich maximiert, ist ein nie dagewesener Verlust. Wenn wir aber nochmals über die Jahrtausende unseres Daseins zurückschauen, dann sehen wir sie, die Kraft der Wahrheit. Und wenn wir sie erst erkennen, werden wir auch wieder besser an ihr teilhaben.