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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vom Galgenberg und der Kraft der Wahrheit

Ich erin­ne­re mich, wie ich einst los­fuhr, hin zum Gal­gen­berg. Im dazu­ge­hö­ri­gen Wäld­chen hat­ten wir als Kin­der oft gespielt. Spä­te Abend­däm­me­rung, ver­wei­len auf dem Gedenk­stein. Den Blick in der Fer­ne schwei­fen las­sen. Ich mach­te mich mal wie­der auf die Suche nach dem, was hin­ter dem Hori­zont lag. War­um scheint den Men­schen zu ihrem Glück immer etwas zu feh­len? Soll­ten wir nicht ein­fach anpacken und – gera­de in der heu­ti­gen Zeit – nicht herumjammern?

Dabei hat­te ich all die Jah­re gear­bei­tet, ange­packt, war als Inge­nieur auf vie­len Kon­fe­ren­zen welt­weit. Eine Fami­lie gegrün­det, im Aus­land gear­bei­tet. Kin­der groß­ge­zo­gen. Alle Welt pack­te an, ich hat­te eine Art Gold­grä­ber­stim­mung im Sili­con Val­ley mit­er­lebt. Und den­noch beschlich mich das Gefühl, dass die moder­ne, hoch­com­pu­te­ri­sier­te Welt dem Men­schen eine bio­phy­sisch-kogni­ti­ve Struk­tur ein­ver­leibt, die zum Zer­plat­zen des Trau­mes einer fried­li­chen Zukunft führt, in der wir doch so gern unse­re Enkel auf­wach­sen sehen wür­den. Dabei war ich doch im Nukle­us die­ser neu­en Tech­no­lo­gien tätig, in der Her­stel­lung der­je­ni­gen Bau­tei­le, die in den letz­ten Jah­ren einen Traum wie­der­be­leb­ten, der schon eini­ge Male gestor­ben war: den Traum der künst­li­chen Intel­li­genz. Was war da schief­ge­gan­gen? Oder war dies von vor­her­ein alles nur eine Illusion?

Vom Gal­gen­berg aus sehen wir, wie sich die Welt bewegt, sich Din­ge, Lebe­we­sen und Men­schen ver­än­dern. Alles schein­bar auf der Grund­la­ge von inzwi­schen gut erforsch­ten Natur­ge­set­zen, einem »objek­ti­ven Welt­bild«. Dann sehen wir die heu­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen: den seit Jahr­hun­der­ten unge­bremst wach­sen­den Ener­gie­kon­sum, den Kli­ma­wan­del, die sich selbst ver­stär­ken­de Anhäu­fung von »Gütern«. Auch der Wahl­spruch der Auf­klä­rer, »Habe Mut, dich dei­nes eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen«, wird zuneh­mend von dem Glau­ben ersetzt, dass »Daten der Schlüs­sel zur Beherr­schung der Welt­ge­scheh­nis­se« sei­en. Wie frei sind wir wirklich?

Es ist, als ob eine gro­ße Wol­ke auf­zieht, wenn man ver­sucht, die aktu­el­le Iden­ti­tät zu hin­ter­fra­gen. Ja natür­lich, so könn­te es sein, wir sind ja alle durch ein Welt­bild geprägt, das sowohl den Men­schen als auch das kom­plet­te Uni­ver­sum in einer For­mel, in einem Kon­troll­re­gime ver­eint sieht. Alle Macht­ha­ber sind mit die­ser Denk­wei­se bis aufs Inner­ste ver­traut, und es ist kein Wun­der, wenn Best­sel­ler zwi­schen den Ach­sen »Wie wer­de ich reich« bis zu »Wie ret­te ich mich vor mei­nem psy­cho­pa­ti­schen Chef« flo­rie­ren. Die­ses deter­mi­ni­sti­sche, »objek­ti­ve« Welt­bild führt dazu, dass wir uns auf einen sehr begrenz­ten Teil der Rea­li­tät kon­zen­trie­ren und ande­re Per­spek­ti­ven übersehen.

Das alles sehen wir. Aber uns selbst sehen wir nicht. Wir stecken noch zu tief in unse­rer alten Iden­ti­tät. Dabei haben wir die Augen doch offen. Kön­nen wir mit unse­ren eige­nen Augen, mit die­sem Men­schen dahin­ter nicht in Berüh­rung tre­ten? Doch, das kön­nen wir. Wir müs­sen das »objek­ti­ve Welt­bild«, die damit ver­bun­de­ne Iden­ti­tät etwas bei­sei­te­schie­ben. Wir füh­len ja oft, dass es eine ande­re Wahr­heit gibt. Doch wo fin­den wir sie?

Eine über­wäl­ti­gen­de Zahl von Schrif­ten, Büchern und Mei­nun­gen wett­ei­fert um den Ursprung, die inne­re Struk­tur von Wahr­heit. Dass unse­re Aus­sa­gen »kohä­rent« zuein­an­der sei­en, das mache sie wahr. Oder dass sie mit den Din­gen über­ein­stim­men, mit ihnen »kor­re­spon­die­ren«. Wir müs­sen hier nicht wei­ter ins Detail gehen, denn eins folgt aus all die­sen Aus­füh­run­gen nicht: dass von der Wahr­heit eine Kraft aus­ge­hen könn­te. Denn wo soll­te die­se Kraft ver­an­kert sein? Dabei haben Den­ker wie Pla­ton oder Scho­pen­hau­er dies schon ein­mal her­aus­ge­ar­bei­tet – es ist aber in Ver­ges­sen­heit geraten.

Aber was soll das sein, das uns dann lei­tet und uns wirk­lich antreibt? Wo liegt die­se Wahr­heit ver­bor­gen? Wir sind noch auf dem Gal­gen­berg, dem Stand der fina­len Gesetz­ge­bung. Da zeich­net sich lang­sam ein neu­es Bild aus der Phy­sik und der Neu­ro­wis­sen­schaft ab. Aus der Phy­sik ler­nen wir dabei, dass alles Leben­di­ge dem Prin­zip der Mini­mie­rung des zu sei­ner Erhal­tung erfor­der­li­chen Ener­gie­ver­brauchs folgt. Die Pin­gui­ne, der Vogel­flug, auch der Auf­bau und die Erhal­tung jedes Amei­sen­hau­fens fol­gen die­sem grund­le­gen­den Prin­zip. Aber wuss­ten wir das nicht alle schon längst? Den­noch ver­let­zen wir seit Jah­ren die­ses Prin­zip und suchen ver­mehrt nach kurz­fri­sti­gen Lösun­gen. Haben wir nicht auch die Abgren­zung, den Bau von Zäu­nen und das Besitz­tum über das Ver­bin­den­de gestellt? So haben wir uns zwar auf der Suche nach kurz­fri­sti­gen Erfol­gen in ener­gie­auf­wän­di­ge Lösun­gen ver­wickelt; wir kön­nen uns dar­aus aber auch wie­der befrei­en. Aber wie?

Der Phy­si­ker Erwin Schrö­din­ger – Mit­be­grün­der der Quan­ten­phy­sik – hat schon vor eini­gen Jah­ren aus­ge­führt, dass wir am Beginn einer bio­lo­gi­schen Umbil­dung von ego­isti­scher zu altru­isti­scher Ein­stel­lung ste­hen könn­ten, zu einem ani­mal socia­le. Wer soll­te uns dies dann aber leh­ren – und was genau soll­ten wir tun? Brau­chen wir nun doch eine neue Theo­rie, eine neue Öko­no­mie? Schrö­din­gers Ant­wort ist ein­fach, hat aber seit­dem nie­mand mehr ernst­haft auf­ge­grif­fen: In unse­rem »objek­ti­ven Welt­bild« ist eine Ant­wort in Form einer neu­en »objek­ti­ven Theo­rie« gar nicht mög­lich. Weil es ums Gan­ze geht. Um unser eigent­li­ches Mensch­sein. Um jeden von uns – egal, wel­chen Vol­kes oder wel­cher Nation.

Uns lei­tet etwas, das auf eine inne­re Ver­bun­den­heit mit uns, der Welt der fühl­ba­ren Wahr­heit auf­baut: Das sind unse­re tat­säch­li­chen, geleb­ten Wer­te. Kön­nen wir uns noch dar­an erin­nern, wie wir als Kin­der geliebt wur­den? Haben wir uns nicht selbst – und alle unse­rer Vor­fah­ren – unse­rem Nach­wuchs innigst zuge­wen­det? Hat die Mensch­heit nicht sogar mit der Erfin­dung der Spra­che eine grund­le­gend neue Welt auf­ge­tan, die eben nicht von vor­ne­her­ein das Schick­sal jedes Neu­ge­bo­re­nen fest­legt? Ist die Spra­che nicht ein her­vor­ra­gen­des Mit­tel dazu, eben genau jene Welt auf­zu­tun, in der wir die Din­ge im Schwe­ben hal­ten und sich ent­wickeln las­sen kön­nen? Hat nicht auch bereits Wil­helm von Hum­boldt die­ses Schwe­ben der Spra­che als das Wesent­li­che unse­res Mensch­seins begrif­fen? Nicht das Maxi­mum an geld­wer­ten Mit­teln, son­dern das Gewahr­wer­den durch den Ande­ren ist der »Über­schuss«, der uns tat­säch­lich lei­ten und Ori­en­tie­rung ver­mit­teln kann. Wie ist das zu verstehen?

Hirn­for­scher kön­nen inzwi­schen für alle Auf­ga­ben, die uns das Leben stellt, spe­zi­fi­sche Funk­ti­ons­ein­hei­ten loka­li­sie­ren. Bil­den wir jetzt die Zen­tren zur Bewäl­ti­gung der Kli­ma­kri­se und des Ter­rors her­aus? Nein, das ist es wohl nicht, und es ist sogar völ­lig umge­kehrt. Was für uns wich­tig ist ange­sichts der heu­ti­gen Pro­ble­me, schöp­fen wir aus einer Quel­le, die auf einer bis­her so nicht betrach­te­ten Unbe­stimmt­heit grün­det. Der Kern ech­ter Infor­ma­ti­on besteht dar­in, dass wir uns »be-gei­stern«. Aber dazu müs­sen wir eben einen Schritt aus unse­rem der­zei­ti­gen Glau­ben, unse­rer der­zei­ti­gen Iden­ti­tät hinaustun.

Wir Men­schen haben es mit der Erfin­dung der Spra­che und den damit ver­bun­de­nen viel­schich­ti­gen Gefüh­len geschafft, das äffi­sche Patri­ar­chat ein gutes Stück zu über­win­den. Denn dort sitzt die Quel­le unse­rer inne­ren Wer­te – in der Über­win­dung von Ungleich­heit, oder, posi­tiv aus­ge­drückt, in der Schaf­fung von indi­vi­du­el­len Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten. »Bedeu­tung« erhält etwas, das wir mit ande­ren tei­len kön­nen. Und nicht das, was unser »Eigen­tum« ist. Wir ent­wickeln es mit unse­ren Kin­dern und in der Gemein­schaft. Das nen­nen wir dann »Wahr­heit«. Das haben unse­re Vor­fah­ren der­einst erschaf­fen, und wir alle erschaf­fen dies kon­ti­nu­ier­lich in unse­rer Gemein­schaft. Den Gal­gen­berg und – in einem ähn­li­chen Sin­ne – die phy­si­ka­li­schen Geset­ze brau­chen wir heu­te zum Ent­scheid über eine eher vor­der­grün­di­ge Wahr­heit, weil unse­re jet­zi­ge Iden­ti­tät nichts ande­res zulässt: Wem gehört was, wel­che Rech­nun­gen sind offen.

Wie kön­nen wir dies nun über­win­den? Es ist wie ein leben­des Etwas, die­se Zwi­schen­welt, an der jeder mit­tut und die man­che die Gei­stes­welt nen­nen, oder die Kul­tur, oder den Volks­kör­per. Die­se Dimen­si­on hat hun­dert­tau­sen­de von Jah­ren unse­ren Hun­ger nach Wis­sen gestillt, von Kin­des­bei­nen an. Und sie ist im objek­ti­ven Welt­bild im Wort­sinn »unsicht­bar«: wie die »dunk­le Materie«.

Das kom­plet­te Uni­ver­sum spielt uns dabei in die Kar­ten. Im Beginn war ja alles maxi­mal geord­net, es gab nur rei­ne Ener­gie. Dann bil­de­ten sind durch Expan­si­on neue Struk­tu­ren, Ato­me und das Leben. Aber was hält die­se Struk­tu­ren zusam­men und lässt sie gar wei­ter-ent­wickeln? Die Bedeu­tung und der Zusam­men­halt die­ser Struk­tu­ren und auch unse­res Den­kens sind – aus objek­ti­ver Sicht – »Unbe­stimmt­heit« oder eben »Mög­lich­keit für Zukünf­ti­ges«. Wir selbst – unser eige­nes, sub­jek­ti­ves Erle­ben – sind die Kehr­sei­te die­ser Unbe­stimmt­heit. Wir haben – jeder von uns – jeder­zeit die Mög­lich­keit, unse­re Iden­ti­tät zu ver­las­sen oder weiterzuentwickeln.

In die­sen Kanon kön­nen wir auch unser Bild von der Wis­sen­schaft neu ein­ord­nen. Dabei haben inzwi­schen For­scher wie Ernst Fehr nach­ge­wie­sen, dass Men­schen nicht nur nach Eigen­in­ter­es­se oder »deter­mi­ni­stisch« han­deln, son­dern nach wie vor Fair­ness und sozia­le Ein­ge­bun­den­heit prak­ti­zie­ren und damit einen Fort­schritt für alle bewirken.

So kön­nen wir jetzt bes­ser erken­nen, wel­che Beherr­schungs­ver­hält­nis­se uns tat­säch­lich umge­ben. Wir sehen vie­le Per­so­nen, die sich um Ener­gie­quel­len scha­ren. Das »objek­ti­ve Welt­bild« ver­kop­pelt uns mit den Strö­men, die allen Ener­gie­quel­len fol­gen und fei­ert die Anhäu­fung von Besitz­tü­mern. Nam­haf­te Wis­sen­schaft­ler wie Ian Mor­ris sehen des­halb die kon­ti­nu­ier­li­che Stei­ge­rung des Ener­gie­ver­brauchs als den zen­tra­len mensch­li­chen Wert. Jetzt sehen wir, dass wir in die­se Ener­gie­strö­me ledig­lich als Objek­te ein­ge­glie­dert sind. Aber wir kön­nen jetzt bes­ser ver­ste­hen, dass dies aus einer Sicht­wei­se folgt, die den Blick auf die »Kraft der Wahr­heit« ver­lo­ren hat.

Vie­le sind dazu bereits unter­wegs. Das ist es, was wir auf dem Gal­gen­berg tat­säch­lich sehen kön­nen. Ganz kon­kret zeigt sich dies dar­in, dass Men­schen jen­seits ihrer bezahl­ten Tätig­keit wirk­li­che Orte der Wert­fin­dung ent­decken oder erschaf­fen. Die dadurch frei­setz­ba­ren Ener­gien las­sen erah­nen, wel­che Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se tat­säch­lich mög­lich sind. Denn das, was die welt­wei­te Pro­duk­ti­ons- und Kriegs­ma­schi­ne­rie qua­si als ihre not­wen­di­ge Sta­bi­li­sa­ti­on tat­säch­lich maxi­miert, ist ein nie dage­we­se­ner Ver­lust. Wenn wir aber noch­mals über die Jahr­tau­sen­de unse­res Daseins zurück­schau­en, dann sehen wir sie, die Kraft der Wahr­heit. Und wenn wir sie erst erken­nen, wer­den wir auch wie­der bes­ser an ihr teilhaben.