Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Vom Einst und Jetzt

Nach lan­ger Zeit habe ich wie­der ein­mal die Bibel aus dem Regal geholt. Es ist nicht die neue­ste Text­fas­sung der Luther­bi­bel von 2017, son­dern ein Nach­druck von Luthers deut­scher Über­set­zung mit 200 Kup­fer­sti­chen. Die­se wur­den in den Jah­ren 1625 bis 1628 von dem berühm­ten Kup­fer­ste­cher Mat­thä­us Meri­an geschaf­fen und 1630 in die in Straß­burg erschie­ne­ne Luther­bi­bel über­nom­men, die seit­dem Meri­an Bibel heißt. Ich schla­ge das Evan­ge­li­um des Lukas auf, in dem die­ser »von den Geschich­ten, die unter uns gesche­hen sind«, berich­tet, wie kurz und knapp und ohne Hir­ten auch der Evan­ge­list Mat­thä­us. Hier ste­hen die über zwei Jahr­tau­sen­de hin­weg bis zum heu­ti­gen Tage noch immer und vor allem zu Weih­nach­ten zitier­ten Wor­te: »Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kai­ser Augu­stus aus­ging, dass alle Welt geschätzt würde.«

Den Anstoß für mei­ne Bibel-Stun­de lie­fer­te der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Hel­mut Schmiedt, der von 1995 bis 2015 Neue Lite­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Koblenz gelehrt hat. Er leg­te in die­sem Jahr einen histo­ri­schen Streif­zug über »Weih­nach­ten in der Lite­ra­tur« vor. Das Buch liest sich wun­der­bar leicht, lässt sich gera­de­zu weg­schmö­kern, trotz der Dar­stel­lung der vie­len reli­giö­sen, kul­tu­rel­len, poli­tisch-sozia­len und öko­no­mi­schen Facetten.

»Unend­lich vie­le Autoren unter­schied­lich­ster Art und aus den ver­schie­den­sten Epo­chen« haben Roma­ne, Erzäh­lun­gen, Gedich­te, Lie­der über Weih­nach­ten ver­fasst, von denen vie­le auch heu­te noch in der Advents­zeit und zu Weih­nach­ten gele­sen, vor­ge­tra­gen, gesun­gen und auf­ge­führt wer­den. Schmiedt ord­net sie ein, je nach­dem, ob sie sich mit der Geburt, dem Geburts­ort Beth­le­hem, mit dem Weih­nachts­fest, sei­nen Ritua­len und sei­ner Säku­la­ri­sie­rung befas­sen. Da Ver­fas­ser und Titel jeweils direkt als Fuß­no­ten wie­der­ge­ge­ben wer­den, kön­nen die Tex­te, wo mög­lich, spon­tan aus dem Bücher­re­gal gegrif­fen wer­den: von A wie Ilse Aichin­ger und Hans-Chri­sti­an Ander­sen über B wie Johan­nes Becher, Hein­rich Böll, Ber­tolt Brecht oder Cle­mens von Bren­ta­no geht es durch das Who‘s who der Lite­ra­tur: Dosto­jew­ski, Dür­ren­matt, Dylan, Fal­la­da, Paul Fle­ming, Paul Ger­hard, Goe­the, Grass, Gree­ne, Grim­mels­hau­sen, Gry­phi­us, Eichen­dorff und ande­re fol­gen und es hört bei Stif­ter, Storm, Stritt­mat­ter, Tuchol­sky nicht auf.

Am Anfang steht jedoch die bibli­sche Dar­stel­lung der Geburt Jesu durch die bei­den Evan­ge­li­sten, die sich aller­dings ihrer­seits auf alte Mythen und Über­lie­fe­run­gen bezo­gen. Der Koran kennt eben­falls die Geburt Jesu. Schmiedt zer­legt die bibli­sche Dar­stel­lung in nach­fra­ge­wür­di­ge Aspek­te: War­um haben die bei­den Evan­ge­li­sten die Geburts­er­zäh­lung so unter­schied­lich dar­ge­stellt? Woher kom­men Ochs und Esel? Von Tie­ren an der Krip­pe ist nir­gend­wo die Rede. Und er forscht nach: Wann wur­de Weih­nach­ten zum ersten Mal gefei­ert? Woher kommt das deut­sche Wort Weih­nach­ten? Seit wann gibt es den Weih­nachts­baum und war­um? Und wie wur­de Weih­nach­ten zu einem erd­ball­um­fas­sen­den Fami­li­en­fest, anders als Ostern und Pfingsten?

Ein beson­de­res Augen­merk rich­tet Schmiedt auf die Rol­le des Lich­tes in dem an sich noch dunk­len Zeit­al­ter der Geburt, wo höch­stens rußen­de Fackeln die Sze­ne­rie spär­lich erhell­ten. Schon im Ersten Buch Mose, als die Erde noch wüst und leer war »und es fin­ster war auf der Tie­fe«, spiel­te das Licht eine ent­schei­den­de Rol­le. Gott sprach »Es wer­de Licht! Und es ward Licht«. All­über­all Licht: als der Engel den Hir­ten auf dem nächt­li­chen Feld erscheint und im Stall von Beth­le­hem, wie uns das viel gesun­ge­ne Lied »Ihr Kin­der­lein kom­met« in sei­ner zwei­ten Stro­phe berich­tet: »seht hier bei des Licht­leins hell­glän­zen­dem Strahl«. Und der Stern, dem die Wei­sen aus dem Mor­gen­land fol­gen, ist schließ­lich eben­falls nichts als Licht. Für Hel­mut Schmiedt steht daher fest: Indem die bei­den Evan­ge­li­sten den Kon­trast von Dun­kel­heit und Hel­lig­keit eta­blie­ren, machen sie den Schrift­stel­lern, die sich mit Jesu Geburt befas­sen, ein beson­ders attrak­ti­ves, da lite­ra­risch nutz­ba­res Ange­bot, das zudem den Kern der Weih­nachts­bot­schaft ent­hält: die Vor­stel­lung, dass sich »mit der Geburt Jesu der Welt herr­lich neue Per­spek­ti­ven erge­ben hätten«.

In den bei­den letz­ten Kapi­teln wid­met sich Schmiedt den lite­ra­risch dar­ge­stell­ten Schat­ten­sei­ten des Festes, denn Weih­nach­ten hat vie­le Gesich­ter. Besinn­lich­keit und Lie­be auf der einen Sei­te, Fami­li­en­dra­men und Stra­pa­zen auf der ande­ren, bis hin zum Tod, der auch an den Weih­nachts­ta­gen anklopft. Es ist, wie es ist: Weih­nach­ten kann »erfreu­li­che Ereig­nis­se noch erfreu­li­cher und uner­quick­li­che­re noch düste­rer« erschei­nen las­sen. Schließ­lich ist »an Weih­nach­ten vie­les anders als in der übli­chen Zeit«.

Hel­mut Schmiedt: Weih­nach­ten in der Lite­ra­tur, wbg Aca­de­mic (Wis­sen­schaft­li­che Buch­ge­sell­schaft), Darm­stadt 2021, 181 S., 28 €.