Nach langer Zeit habe ich wieder einmal die Bibel aus dem Regal geholt. Es ist nicht die neueste Textfassung der Lutherbibel von 2017, sondern ein Nachdruck von Luthers deutscher Übersetzung mit 200 Kupferstichen. Diese wurden in den Jahren 1625 bis 1628 von dem berühmten Kupferstecher Matthäus Merian geschaffen und 1630 in die in Straßburg erschienene Lutherbibel übernommen, die seitdem Merian Bibel heißt. Ich schlage das Evangelium des Lukas auf, in dem dieser »von den Geschichten, die unter uns geschehen sind«, berichtet, wie kurz und knapp und ohne Hirten auch der Evangelist Matthäus. Hier stehen die über zwei Jahrtausende hinweg bis zum heutigen Tage noch immer und vor allem zu Weihnachten zitierten Worte: »Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.«
Den Anstoß für meine Bibel-Stunde lieferte der Literaturwissenschaftler Helmut Schmiedt, der von 1995 bis 2015 Neue Literaturwissenschaft an der Universität Koblenz gelehrt hat. Er legte in diesem Jahr einen historischen Streifzug über »Weihnachten in der Literatur« vor. Das Buch liest sich wunderbar leicht, lässt sich geradezu wegschmökern, trotz der Darstellung der vielen religiösen, kulturellen, politisch-sozialen und ökonomischen Facetten.
»Unendlich viele Autoren unterschiedlichster Art und aus den verschiedensten Epochen« haben Romane, Erzählungen, Gedichte, Lieder über Weihnachten verfasst, von denen viele auch heute noch in der Adventszeit und zu Weihnachten gelesen, vorgetragen, gesungen und aufgeführt werden. Schmiedt ordnet sie ein, je nachdem, ob sie sich mit der Geburt, dem Geburtsort Bethlehem, mit dem Weihnachtsfest, seinen Ritualen und seiner Säkularisierung befassen. Da Verfasser und Titel jeweils direkt als Fußnoten wiedergegeben werden, können die Texte, wo möglich, spontan aus dem Bücherregal gegriffen werden: von A wie Ilse Aichinger und Hans-Christian Andersen über B wie Johannes Becher, Heinrich Böll, Bertolt Brecht oder Clemens von Brentano geht es durch das Who‘s who der Literatur: Dostojewski, Dürrenmatt, Dylan, Fallada, Paul Fleming, Paul Gerhard, Goethe, Grass, Greene, Grimmelshausen, Gryphius, Eichendorff und andere folgen und es hört bei Stifter, Storm, Strittmatter, Tucholsky nicht auf.
Am Anfang steht jedoch die biblische Darstellung der Geburt Jesu durch die beiden Evangelisten, die sich allerdings ihrerseits auf alte Mythen und Überlieferungen bezogen. Der Koran kennt ebenfalls die Geburt Jesu. Schmiedt zerlegt die biblische Darstellung in nachfragewürdige Aspekte: Warum haben die beiden Evangelisten die Geburtserzählung so unterschiedlich dargestellt? Woher kommen Ochs und Esel? Von Tieren an der Krippe ist nirgendwo die Rede. Und er forscht nach: Wann wurde Weihnachten zum ersten Mal gefeiert? Woher kommt das deutsche Wort Weihnachten? Seit wann gibt es den Weihnachtsbaum und warum? Und wie wurde Weihnachten zu einem erdballumfassenden Familienfest, anders als Ostern und Pfingsten?
Ein besonderes Augenmerk richtet Schmiedt auf die Rolle des Lichtes in dem an sich noch dunklen Zeitalter der Geburt, wo höchstens rußende Fackeln die Szenerie spärlich erhellten. Schon im Ersten Buch Mose, als die Erde noch wüst und leer war »und es finster war auf der Tiefe«, spielte das Licht eine entscheidende Rolle. Gott sprach »Es werde Licht! Und es ward Licht«. Allüberall Licht: als der Engel den Hirten auf dem nächtlichen Feld erscheint und im Stall von Bethlehem, wie uns das viel gesungene Lied »Ihr Kinderlein kommet« in seiner zweiten Strophe berichtet: »seht hier bei des Lichtleins hellglänzendem Strahl«. Und der Stern, dem die Weisen aus dem Morgenland folgen, ist schließlich ebenfalls nichts als Licht. Für Helmut Schmiedt steht daher fest: Indem die beiden Evangelisten den Kontrast von Dunkelheit und Helligkeit etablieren, machen sie den Schriftstellern, die sich mit Jesu Geburt befassen, ein besonders attraktives, da literarisch nutzbares Angebot, das zudem den Kern der Weihnachtsbotschaft enthält: die Vorstellung, dass sich »mit der Geburt Jesu der Welt herrlich neue Perspektiven ergeben hätten«.
In den beiden letzten Kapiteln widmet sich Schmiedt den literarisch dargestellten Schattenseiten des Festes, denn Weihnachten hat viele Gesichter. Besinnlichkeit und Liebe auf der einen Seite, Familiendramen und Strapazen auf der anderen, bis hin zum Tod, der auch an den Weihnachtstagen anklopft. Es ist, wie es ist: Weihnachten kann »erfreuliche Ereignisse noch erfreulicher und unerquicklichere noch düsterer« erscheinen lassen. Schließlich ist »an Weihnachten vieles anders als in der üblichen Zeit«.
Helmut Schmiedt: Weihnachten in der Literatur, wbg Academic (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 2021, 181 S., 28 €.