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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Voll korrekt

Die Stadt­bi­blio­thek in Stutt­gart ist ein Ort der umbau­ten Lee­re. Form und Inhalt ste­hen in einem etwas will­kür­li­chen Ver­hält­nis, anders gesagt, die Form folgt hier nicht der Funk­ti­on, eher ist es kalt und zugig, aber schön zum Foto­gra­fie­ren – lei­der funk­tio­niert der Auf­zug nicht.

Die Lee­re in der Mit­te will aus­ge­füllt sein, der unwirt­li­che Ort, wohin man die Biblio­thek ver­pflanzt hat, um vom S21 Elend abzu­len­ken, erfor­dert wache Mit­ar­bei­te­rin­nen, die dem Zeit­geist hin­ter­her­ren­nen, wenn sie schon die Trep­pen nicht schaffen.

Dass die Can­cel Cul­tu­re vor der Lite­ra­tur nicht halt­macht, ist bekannt (Preis­ver­lei­hung), dass sie frü­her oder spä­ter die Biblio­the­ken tref­fen wird, kam nur dem in den Sinn, der von der Geschich­te gelernt hat, was alles mög­lich ist. Und 2020-22 haben wir einen klei­nen Vor­ge­schmack bekom­men, wo die (eini­ge) Mit­ar­bei­te­rin­nen gern mit­mach­ten, um die Sache nach »vor­wärts« zu bringen!

Nein, hier wer­den kei­ne Par­al­le­len gezo­gen, so weit sind wir noch lan­ge nicht, hier wer­den kei­ne Bücher ver­brannt, hier wird höch­stens ein QR-Code in die­sel­ben geklebt, damit emp­find­li­che Gemü­ter, die gemüt­li­che Kehr­sei­te der Waf­fen­lie­fe­run­gen, sich nicht erschreckt füh­len müs­sen. Denn es gibt – vor­erst sind nur Jugend­bü­cher gemeint, ich fan­ta­sie­re hier aber schon wei­ter! – Bücher, neue Erkennt­nis, deren Inhalt ras­si­stisch, dis­kri­mi­nie­rend oder ver­let­zend ist oder so emp­fun­den wird. Also den­ken Sie z. B. an Roma­ne z. B. von Bal­zac, wo Ari­sto­kra­ten schlecht weg­kom­men, oder sol­che, die sich mit dem Bür­ger­tum beschäftigen …

Der QR-Code führt auf eine Sei­te, die von der AG Hal­tung fabri­ziert wur­de, und die erklärt, war­um es die­ses Medi­um trotz­dem gibt. Bücher, die auf Maku­la­tur­li­sten lan­den, oder die in gesäu­ber­ten Ver­sio­nen erschei­nen (bit­te kau­fen und aus­tau­schen) betrifft das natür­lich nicht.

Die AG Hal­tung, die man wäh­rend der Coro­na­maß­nah­men­zeit ver­miss­te, gibt gern Hil­fe und Anlei­tung, aber die Lek­to­rin­nen haben nun viel Arbeit. Ob Gor­kis Mut­ter über­le­ben wird, über­haupt die rus­si­sche Lite­ra­tur? So viel Kin­der- und dann, nach der übli­chen Scham­frist, die »rest­li­che« Lite­ra­tur fällt einem ein, um die man nun fürch­ten muss. (Wer ist Geor­ge Orwell?)

Ist das nun der Anfang, die Fort­set­zung oder wie soll man das ver­ste­hen? Ich ver­mu­te, es ist der Anfang, der mit gro­ßen Schrit­ten sei­nem Ende ent­ge­gen­eilt, einer gesäu­ber­ten Inter­net-Welt, die auch kei­ne Fluch­ten mehr in die mate­ri­el­le Welt der Biblio­the­ken ermög­licht, weil über­all der­sel­be Zeit- und Ungeist regiert.

Karl Kraus’ »Die letz­ten Tage der Mensch­heit« bekommt in fer­ner Zukunft sicher einen Auf­kle­ber, hat er doch die Kriegs­be­gei­ste­rung der deut­schen und öster­rei­chi­schen Pres­se aufs Papier gebracht. Da wol­len wir kei­ne schlech­ten Vor­bil­der, auf dass einer auf die Idee käme, die letz­ten Tage dau­ern noch an. Und Arnold Schön­berg: nein, zu verstörend!