Die Stadtbibliothek in Stuttgart ist ein Ort der umbauten Leere. Form und Inhalt stehen in einem etwas willkürlichen Verhältnis, anders gesagt, die Form folgt hier nicht der Funktion, eher ist es kalt und zugig, aber schön zum Fotografieren – leider funktioniert der Aufzug nicht.
Die Leere in der Mitte will ausgefüllt sein, der unwirtliche Ort, wohin man die Bibliothek verpflanzt hat, um vom S21 Elend abzulenken, erfordert wache Mitarbeiterinnen, die dem Zeitgeist hinterherrennen, wenn sie schon die Treppen nicht schaffen.
Dass die Cancel Culture vor der Literatur nicht haltmacht, ist bekannt (Preisverleihung), dass sie früher oder später die Bibliotheken treffen wird, kam nur dem in den Sinn, der von der Geschichte gelernt hat, was alles möglich ist. Und 2020-22 haben wir einen kleinen Vorgeschmack bekommen, wo die (einige) Mitarbeiterinnen gern mitmachten, um die Sache nach »vorwärts« zu bringen!
Nein, hier werden keine Parallelen gezogen, so weit sind wir noch lange nicht, hier werden keine Bücher verbrannt, hier wird höchstens ein QR-Code in dieselben geklebt, damit empfindliche Gemüter, die gemütliche Kehrseite der Waffenlieferungen, sich nicht erschreckt fühlen müssen. Denn es gibt – vorerst sind nur Jugendbücher gemeint, ich fantasiere hier aber schon weiter! – Bücher, neue Erkenntnis, deren Inhalt rassistisch, diskriminierend oder verletzend ist oder so empfunden wird. Also denken Sie z. B. an Romane z. B. von Balzac, wo Aristokraten schlecht wegkommen, oder solche, die sich mit dem Bürgertum beschäftigen …
Der QR-Code führt auf eine Seite, die von der AG Haltung fabriziert wurde, und die erklärt, warum es dieses Medium trotzdem gibt. Bücher, die auf Makulaturlisten landen, oder die in gesäuberten Versionen erscheinen (bitte kaufen und austauschen) betrifft das natürlich nicht.
Die AG Haltung, die man während der Coronamaßnahmenzeit vermisste, gibt gern Hilfe und Anleitung, aber die Lektorinnen haben nun viel Arbeit. Ob Gorkis Mutter überleben wird, überhaupt die russische Literatur? So viel Kinder- und dann, nach der üblichen Schamfrist, die »restliche« Literatur fällt einem ein, um die man nun fürchten muss. (Wer ist George Orwell?)
Ist das nun der Anfang, die Fortsetzung oder wie soll man das verstehen? Ich vermute, es ist der Anfang, der mit großen Schritten seinem Ende entgegeneilt, einer gesäuberten Internet-Welt, die auch keine Fluchten mehr in die materielle Welt der Bibliotheken ermöglicht, weil überall derselbe Zeit- und Ungeist regiert.
Karl Kraus’ »Die letzten Tage der Menschheit« bekommt in ferner Zukunft sicher einen Aufkleber, hat er doch die Kriegsbegeisterung der deutschen und österreichischen Presse aufs Papier gebracht. Da wollen wir keine schlechten Vorbilder, auf dass einer auf die Idee käme, die letzten Tage dauern noch an. Und Arnold Schönberg: nein, zu verstörend!