Die Stadt lag im Licht eines sonnigen Dezembertages und lockte. Allerdings nicht mich. Ich wollte nicht, wollte nicht raus aus der Zollstelle am Essener Hauptbahnhof, wo ich arbeitete. Meine Kollegen tippten sich an die Stirn. Der hat mal wieder seine Marotten, sagten sie. Wir schrieben die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Neuzeit. Manche sprachen von der Postmoderne. Das sagte mir damals nichts. Was mich beschäftigte, war weniger meine Arbeit als ein Erlass meines obersten Dienstherrn, des Bundesfinanzministers Helmut Schmidt. Ludwig Erhard, der ehemalige Wirtschaftsminister und zweite Kanzler, angeblicher Erfinder des Wirtschaftswunders, hatte seinerzeit die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik mit Hilfe der US-Amerikaner angekurbelt. Genauer gesagt: mit deren Geld. Getreu den Maximen Ludwig Erhards wollten natürlich auch seine Nachfolger gern künstlich die Wirtschaft in Gang halten. So ließ sich Finanzminister Helmut Schmidt etwas einfallen: einen freien Nachmittag für die Beamten. Nicht, um zu Hause bei der Familie zu sein oder Sport zu treiben. Das nicht. Man musste einkaufen gehen. Es ging ums Geschäft, um die Wirtschaft. Nicht um Demokratie, um demokratische Regelungen, um die ich mich als Gewerkschafter und Mitglied des Personalrates bemühte. Das Weihnachtsgeschäft sollte belebt werden. Ich wollte das schon allein nicht, weil es angeordnet worden war. Ich hatte außerdem mit Weihnachten nichts am Hut, daher auch keinen Grund, deshalb einkaufen zu gehen. Die Kollegen, die mich für ziemlich blöd hielten, meinten, ich müsse ja nichts kaufen. Es sei nicht erforderlich, Quittungen vorzuweisen. Ich könne mir doch einen schönen Tag machen. Wie sie auch. Sie hatten nämlich schon längst alle Weihnachtsgeschenke beisammen. Ich propagiere den einkaufsfreien Nachmittag, hatte ich geblödelt, dann aber meinen Vorgesetzten angerufen und gesagt, ich würde auf den freien Nachmittag verzichten. Aus Prinzip. Der war überrascht. Was denn der Quatsch solle? Ich sei der Einzige, der Schwierigkeiten mache. Ich wolle nichts kaufen, erwiderte ich, ich brauchte nichts zu kaufen, und außerdem fände ich das gegenüber den Steuerzahlern unverantwortlich, den Beamten dafür freizugeben. Das koste doch Millionen aus dem Steuersäckel. Der Vorgesetzte hatte verdutzt geschwiegen und gesagt, er würde nochmal anrufen. Das tat er nach einer Stunde. Wahrscheinlich hatte er sich Rückendeckung bei seinem Vorgesetzten geholt. Ich müsse einkaufen gehen, das sei eine dienstliche Anordnung, die käme von ganz oben, der würde er sich anschließen, und ich hätte sie zu befolgen. Ich würde aber lieber arbeiten, hatte ich geantwortet. Dann kriegte ich das schriftlich, hatte er angedroht. Ich bat darum.
Einen Tag später hatte ich die schriftliche Dienstanweisung auf dem Tisch, mit der Androhung disziplinarischer Konsequenzen bei Nichtbefolgung. Die Kollegen feixten. Das war für sie spannend. Mal sehen, in welche Scheiße ich mich da reinreiten würde. Ich überlegte drei Tage lang. Dann kam der erwähnte sonnige Wintertag. Ich blickte durch die verschmutzten Scheiben der kleinen Dienststelle nach draußen. Die Sonne lockte. Über uns donnerten die Züge durch den Hauptbahnhof und ließen mich an Urlaub und Freiheit denken. Zufrieden war ich in diesem Behördenapparat, der dem Bundesfinanzminister unterstand, schon lange nicht mehr. Aber was tun? Wie unter Zwang zog ich meine Jacke an, sagte tschüss und trat vor die Tür.
Gegenüber dem Hauptbahnhof liegt das Hotel Handelshof mit seinem riesigen Schriftzug Essen, die Einkaufsstadt auf dem Dach. Sic!, dachte ich. Geradeaus erblickte ich den Willy-Brandt-Platz, der früher Kettwiger Tor hieß, und konnte die Kettwiger Straße hinunterschauen, Essens fußläufige Einkaufszone, die erste in der Bundesrepublik überhaupt. Ich las Schilder wie Peek und Cloppenburg, Karstadt, Hören und Lesen, Tabak Höing, Lichtburg, C & A. Menschen strömten in die Straße hinein, andere kamen mit Einkaufstüten in beiden Händen zurück. Nach links ging es durch die Hachestraße an der Hauptpost vorbei zur Zentralbibliothek in der Hindenburgstraße. Ein Ziel, das ich häufig ansteuerte. Nach rechts verlief die Hollestraße, an deren Ende linkerhand die Volkshochschule lag. Ein Waschbetonbau in verschachtelten kubischen Bauteilen, der Anfang der Siebziger modern gewesen war, ebenso wie die Erfindung der Volkshochschulen. Ich hatte dort schon Abendveranstaltungen besucht, unter anderem Lesungen. Auch Weiterbildungskurse konnte man belegen.
Ich ging nach rechts, zur Volksbildungsanstalt, und schrieb mich für einen Deutsch- und einen Geschichtskurs ein. Ein weiteres Fach, ich wählte Musik, wollte ich selbst zu Hause beackern. Ich konnte Klavier spielen, die Theorie würde ich nachlesen. Formulare für die Anmeldung zur Begabtensonderprüfung für das Lehramt an Schulen in Nordrhein-Westfalen wurden mir mitgegeben.
Als ich die Hollestraße entlang zum Kettwiger Tor zurückkam, war es noch nicht Feierabendzeit. Ich betrat die kleine Kneipe Laterne gegenüber dem Hauptbahnhof und genehmigte mir ein Siegerpils. Denn wie ein Sieger kam ich mir vor. Doch dieser »Sieg« kostete es einiges an Schweiß. Die beiden Kurse fanden dienstags und donnerstags von 19 bis 22 Uhr statt. Ein ganz schöner Schlauch nach einem vollen Arbeitstag. An den Wochenenden hatten wir genügend zu tun mit Schularbeiten. Es war fast wie früher. Ich ging wieder »zur Schule«. Die Mühe wurde aufgewogen durch die interessanten Menschen, die ich kennenlernte. Die Kursleiterin für Deutsch, eine Gymnasiallehrerin, und der Kursleiter für Geschichte, ein Dozent der noch nagelneuen Gesamthochschule Essen, boten Einblicke und Erkenntnisse, die uns in der Schulzeit verwehrt worden waren. Das war höchst spannend. Die Mitstreiter setzten sich aus Leuten verschiedener Berufe zusammen, die alle viel erzählen konnten und etwas Neues vorhatten. Wie ich.
Am spannendsten waren die Pausen, die wir in der Kantine verbrachten. Ein relativ offener Raum auf einer Empore des großen Saales, wo Bier, Kakao, Cappuccino, belegte Brötchen und kalte Buletten verkauft wurden. Auch einen großen runden Tisch gab es dort, an dem ich zusammen mit einem Fachbereichsleiter der VHS den zweiten Essener Literaturstammtisch gründete. Aber das war viel später. Vorerst hockten wir in den Pausen in der Kantine und quatschten über Gott und die Welt. Vor allem über Politik. Damals wollte ich, wenn ich einmal unzurechnungsfähiger Rentner sein würde, so drückte ich mich aus, Franz-Josef Strauß erschießen, den ich für alles, nur nicht für einen Demokraten, hielt. Die anderen bewunderten mich. Es war aber eine sichere Sache: Wenn ich so alt sein würde, wie Strauß nie geworden ist, wäre er normalerweise nicht mehr unter den Sterblichen gewesen. Er erstickte, wie es hieß, stockbesoffen am Erbrochenen bei einem Jagdausflug.
Irgendwann beschlossen wir, keine Pause mehr zu machen, sondern den Unterricht am Ende zu kürzen. Einige wollten lieber eher nach Hause, da der nächste Tag für sie früh anfing. Der Rest, der harte Kern, wie ich zu sagen pflegte, steuerte dann nach Schluss der Kurse die Kantine an. Der Sprachgebrauch war ebenfalls modernisiert worden. Es hieß nicht mehr Kantine, sondern Caféteria. Natürlich ist dieses Wort für Menschen im Ruhrgebiet viel zu kompliziert und zu lang. So hieß es kurzerhand Caféte, was der Sache einen französischen Touch gab. Es hätte durchaus öfter sehr spät werden können, wenn nicht das Personal gewesen wäre. Die Damen wollten um 22.30 Uhr Schluss machen. Sie hatten ein Recht darauf. Wir verstanden das. Es passte uns aber überhaupt nicht. Schließlich fanden wir einen Kompromiss: die irische Lösung. Kurz vor Toresschluss orderten wir noch ordentlich, die Damen ließen die Rollladen pünktlich herunter, und wir versprachen, die leeren Gläser und Teller auf die Theke zu stellen, wo sie am nächsten Tag abgeräumt werden konnten. Um 23.30 Uhr war dann endgültig Schluss, der Hausmeister erschien und warf uns raus. Die Bildungsanstalt für das Volk wurde abgeschlossen. Das Volk musste schlafen gehen, am nächsten Tag wieder gesund und munter und einsatzfähig sein.
Um es kurz zu machen: Die Kurse waren nützlich, viele von uns bestanden die Prüfung, die zum Studium berechtigte. Vor allem in Musik beeindruckten meine dilettantischen Improvisationen die beiden Prüfer sehr. Allerdings wählte ich als Studienfächer lieber Germanistik und Geschichte. Ich sparte noch fünf Jahre und kündigte dann im Alter von 40 Jahren meinen Beamtenjob, der mir dauerhafte Sicherheit versprach (lebenslänglich, pflegte ich zu sagen). Von vielen wurde ich für verrückt erklärt. Man gibt doch nicht einen solch sicheren Job auf! Einen guten Verdienst – und dagegen? Das Nichts?
Das Studium bot mir viel und machte Spaß. Vor allem lernte ich Menschen aus Bereichen kennen, die mir vorher verschlossen geblieben waren. Ich lernte auch, was unter Postmoderne zu verstehen war. Nebenher arbeitete ich journalistisch und verdiente damit sogar Geld. Ich war glücklich. Nach bestandenem Staatsexamen erfüllte ich mir einen langersehnten Traum: Meine Frau (die ebenfalls ihre Arbeitsstelle kündigte) und ich kauften einen alten VW-Campingbus und machten uns für ein Jahr aus dem Staub, auf eine Reise durch Westeuropa, die von Jütland über Frankreich und Spanien bis Portugal und dann in die Provence führte. Danach war alles anders. Wir hatten Blut geleckt, was gewisse Freiheiten betraf. In normale Jobs zurück? Das ging nicht mehr. Wir gelangten in die Kunst- und Kulturszene, was schließlich mit beruflicher Selbständigkeit endete. Wir waren glücklich. Im Nachhinein ließ sich sagen, dass die Entscheidung richtig war. Doch wann und wo war sie gefallen?
Immer wieder schiebt sich dieser Waschbetonbau mit seinen verschachtelten kubischen Bauteilen vor mein geistiges Auge, vor allem aber die Caféte, dieser relativ offene Raum auf einer Empore des großen Saales. Später, als ich mich oft mit der örtlichen Gruppe des Bundes für Umwelt und Naturschutz dort traf und mit dem Literaturstammtisch, zog es mich nach den Pflichtübungen stets in die Caféte, die von anderen als scheußlich bezeichnet wurde. Die anderen – andere andere als damals – wollten lieber eine der umliegenden Kneipen aufsuchen. Manchmal schaffte ich es, die Leute zu überreden. Sie verstanden nicht, was ich an diesem Ort gefressen hatte. Sie konnten es nicht verstehen – und ich wollte es nicht erklären. Mir zog es das Herz zusammen, wenn ich mir ein Bier dort bestellte. Und es war mir sehr vertraut, wenn die Bedienung – längst waren es andere Damen – pünktlich die Rollläden herunterlassen wollte.
Inzwischen hat sich gewaltig etwas geändert. Die Volkshochschule ist in einen modernen Bau in der Stadtmitte umgezogen, die alte Atmosphäre ist dahin. Obwohl es sich bei der alten VHS um ein Filetgrundstück handeln soll, hat sich bisher kein Investor dafür interessiert. Der Bau steht noch und verfällt. Die früher einmal helle Fassade sieht dunkel und verschmutzt aus. Dieser Waschbetonbau mit seinen verschachtelten kubischen Bauteilen macht heute einen traurigen Eindruck. Auf der einen Seite neben dem Eingang sind die Mauern wild besprüht, auf der anderen Seite durfte ein Künstler sich austoben. Bunte Lichtblicke. Ob sie noch da ist, die Caféte? Ich sehe sie vor mir, ja, ich rieche den Duft des Cappuccinos und der Brötchen. Den Duft der Freiheit und der Demokratie.