Abende eines Wohlgefallens seien der Gemeinde der im Lande anwesenden und rege tätigen Bevölkerung gegönnt. Am Tage hat sie das Gemeinwesen in Stand und auf Trab gehalten. Was nun am Abend? Da taucht die gewichtige Frage der verdienten Erholung durch eine gewisse Unterhaltung auf. Vor allem für das ältere Segment des Volksganzen ist immer noch die alte Tante Television angesagt. Mit aktueller Wissensanreicherung vom Bericht über das Wetter sowie erheiternde oder erschütternde politische Ereignisse bis hin zu praktischen Verhaltensregeln. Ob es nun die gesunde Lebensweise oder die Heilung von Krankheiten betrifft – alles dabei. Geschichtsunterricht als Bilddokument heilt dann nebenbei von politischen Irrtümern. Und die am meisten gescheiten und am wenigsten gescheiterten Kluggeister der Gesellschaft dürfen endlos in Talkshows einander loben oder ärgern. Als lachende Dritte fühlen sich die Publikümer pudelwohl. Oder sind vor Aufregung über das Gebotene ganz baff.
Unterhaltung zu bieten ist oberstes Gebot: »Sag zum Abschied leise Service!« heißt die Devise. Die auf gewinnbringendem Verbraucherniveau belassene Klientel schluckt doch gern die süße Verlockung des Umworbenseins. Und das Schockierende wirkt besonders prickelnd. Welche für übel gehaltene Menschen auch immer auf verbrecherische Weise diese Idylle vorgespiegelten Wohllebens stören – diese müssen angezählt und zur Strecke gebracht werden. Dazu muss greifbar Erlebbares aus dem wirklichen Leben her, mit vielen Ecken und Kanten, bitte schön. Das Zauberwort heißt Krimi.
Das Abendprogramm vor allem der öffentlich-rechtlichen Anstalten ist auf die Weise voll für dieses immerhin beitragszahlende Publikum da. Und die Privaten tummeln sich lachend und schockend daneben. Doch was dürfen nun die televisionären Grunderlebnisse auf der Höhe der Zeit vermuteter Menschen sein? Bequem sich räkelnde Lebewesen bestimmter oder wechselnder gesellschaftlicher und familiärer, sexueller oder beruflicher Zuordnung erwarten etwas Restgewinn zum Abschluss des Tages. Und die bald müde in sich zusammensinkende Fangemeinde wird aufgerichtet vom Agieren meist jugendlicher Menschen. Riesige Köpfe wackeln da kreuz und quer, dazugehörige Körper Fußball spielend, durch die Gegend flitzend oder rasend, laut schreiend, verborgen flüsternd. Leise weinend, gellend lachend oder bedeutungsschwer grübelnd. Ein Wunder, wie viel vitale Schauspielkunst sich da in Details noch versteckt: Spitzenleistungen gibt es, wenn nach Götz George nun Matthias Brandt die Höhe der Darsteller-Güte markiert.
In der Mehrzahl der Produktionen ist spätestens auf den zweiten Blick erkennbar: Hier ist Krimi-Zeit. Hier wird ermittelt. Hier wird Realität pur widergespiegelt. Hier leuchtet sogar so mancher Alltagskonflikt auf. Soziale Schieflagen und Katastrophen auf der Armutsflanke münden in niedere asoziale Energie. Während die höhere sich in korrupter Gewinnsucht austobt. Die aktuelle Menschheit scheint kriminell bis in die letzte Nervenfaser aufgeladen. Die Leute stellen sich nach Kräften ein Bein, nehmen sich auf den Arm, und geraten schnell ins Handgemenge. Falls sie liebevolleren Körperkontakt suchen, wimmelt es von Übergriffen und Missbräuchen nach Strich und Faden. Ihr zur gleichen Zeit gereizter und ermatteter Geist ist ständig zum Einschnappen bereit.
Nach der Flut an Krimis zu urteilen, wimmelt die ganze Welt von Übelwollern. Hinter jeder Straßenecke lauert das nächste Verbrechen. Wer zweifelt da noch? Wenn die Hüter des Gesetzes nicht ernsthaft, bedeutungsvoll und streng mahnend ermitteln, dürfen sie selbst Problemfälle markieren. Komik kommt höchstens noch von geborenen und darin geübten Komödianten und -innen. Tragik komisch zu unterlaufen ist ja eine besondere Gabe, die eine gute Regie erst herauskitzelt. Muss man haarklein im Handumdrehen blutüberströmt stets gleich die erste Leiche zu sehen bekommen? Nein. Bei den beiden Peters, Ustinov und Falk, keinesfalls. Und wenn Axel Prahl und Jan Josef Liefers nicht ihren Dauerclinch immer neu zelebrieren würden, gäbe es wenig zu lachen. Die Zuschauenden sind spürbar ernsthaft gefesselt. Und treten so in ihre das Ganze tragende Nebenrolle: Sie dürfen teilnehmen, indem sie dem mit denkbar prominenter Schauspielelite besetzten Ermittlerteam gedanklich assistieren. Schon ist Spannung da. Geist und Kombinationsgabe ist gefragt. Und die eigene Grundkondition läuft ohnehin darauf hinaus, im täglichen Leben ununterbrochen Schuldige am eigenen, allzu häufigen Missgeschick zu ermitteln. Da entkommen sie ihrem prägenden kindlichen Grunderlebnis nie. Das darin besteht, im Zank mit anderen Kindern immer dem Gegenpart die Schuld zuzuschieben, wenn die Erwachsenen zur Ordnung rufen.
Das wächst sich normalerweise aus. Aber heute? Ja, da sind wir zeitgenössischen Typen auf unserer Achillesverse erwischt. Bei jedem kleinen persönlichen Konflikt sind wir bereit, einzuschnappen. Einmal etwas missverstanden – das kann zu ewiger Verfeindung führen. Übelnehmen ist Kult, und der Frust mit anderen kann uns die Lust am Leben verderben. Jeder quer Kommende ist ein möglicher Feind. Wer im Internet eine andere Meinung vertritt, ist dort schon im Wirrwarr formloser Sensatiönchen verstrickt. Und die Ermittlung der wahren Täter läuft schnell auf Hochtouren. Dazu ist via TV und seiner digitalen Kopie viel zu lernen. Ist das nur dem Zauberwort Spannung zu verdanken?
Dass dort gleich drei hintereinander gesendete Krimis auf demselben Sender immer neue Erwartungshaltungen hoch stacheln? Ist das noch unser aller Liebhaberei für gewitzte einfallsreiche Detektive vom Schlage Miss Marple oder Pater Brown, Hercule Poirot oder Philip Marlowe? Die klassischen literarischen Vorlagen sind längst mehrmals ausgeplündert. Donna Leons spezielle venezianische Variante hat von den Themen her und mit dieser unprätentiösen Darsteller-Crew die sympathischste Ausstrahlung weit und breit. Das ist eben nicht beliebig multiplizierbar.
Außerdem werden im Wettbewerb um die Sendeplätze ganze traditionell bewährte Formate ausgeschlossen. Vom Theatergeschehen hergeleitete Komödien sind fast ausgestorben. So etwas wie »Sketchup« oder »Klimbim« kommt der Mentalität jüngerer Comedy-Macher offenbar wie Opas verstaubt fremdes Erbe vor. Und die jetzigen Macherinnen von »Ladies Night« sind der herrlichen Masche der originären Gründerinnen nicht gewachsen. Schade drum. Denn da sind wir nun wieder auf diese rheinisch-deutsche Art kindisch albern. Kennung Lachsalven mit Schenkelklopfen ohne Anlass. Und Roman-Adaptionen wie im schwachbrüstig daherkommenden »Fabian« nach Erich Kästner ließen nur wehmütig an einstige Fallada-Verfilmungen aus der TV-Ostküche denken. Jenseits von Heinrich Breloers Thomas-Mann-Gipfel dümpelt das Genre kraftlos dahin. Überdies: Wo lernen heute junge Leute authentisch die großartige Dramatik der Weltliteratur kennen? Nur noch auf Krimi frisiert wird sie unter Umständen spielbar. Dabei hieß ein Bestseller sogar mal »Die Ermittlung«.