Auf meinem Heimweg aus Krieg und Gefangenschaft wollte ich, um schneller voranzukommen, im Mai 1945 in Krumhermsdorf, einem kleinen Ort im Lausitzer Bergland, auf den letzten Wagen eines Güterzuges aufspringen, der sich dort gerade in Bewegung setzte. Beide Puffer waren aber schon besetzt. Auf ihnen hockten mit baumelnden Beinen junge Männer in zerknautschter Wehrmachtsuniform. Als sie merkten, was ich vorhatte, zogen sie mich auf den einzigen noch freien Platz, die Kupplung zwischen den Puffern. Dort kam ich, auf einem Bein balancierend, mit Mühe zum Stehen. Die Spitze des eisernen Hakens drückte nach kurzer Zeit durch die Schuhsohle gegen meine wundgelaufenen Füße, so dass ich immer wieder von einem Bein auf das andere hüpfen musste.
Nach etwa zwei Stunden hielt der Zug in den weitläufigen Gleisanlagen eines kleinen Bahnhofs, und ich war froh, abspringen zu können. Ein Blick auf das Ortsschild sagte mir, dass ich mich in Sebnitz befand. Quietschend öffneten sich hier und da die Schiebetüren der Güterwagen. Sie beherbergten Familien aus Schlesien, von denen ich erfuhr, dass sie von den deutschen Behörden gezwungen worden waren, sich mit einem Teil ihrer Habe nach Westen abzusetzen. Nun sollten sie nach langer Irrfahrt angeblich in die Heimat zurückgebracht werden. Ihr Angebot, mir einen Platz in einem der Wagen zu suchen, nahm ich gern an. Doch dann hieß es plötzlich, russische Soldaten durchsuchten den Zug nach ehemaligen Wehrmachtsangehörigen. Sofort brach Unruhe aus, und ich musste den Wagen verlassen.
Blindlings rannte ich quer über die Gleise stadtauswärts. Über einen schmalen Weg, vorbei an Gärten und vereinzelten Häusern, erreichte ich keuchend eine von Buschwerk bewachsene Anhöhe. Die Sonne stand schon ziemlich tief, und über der Landschaft lag ein goldener Glanz, der in krassem Gegensatz zu meiner inneren Verfassung stand. Zu keiner Zeit, nicht während der zurückliegenden Tage und Wochen, an denen ich morgens nicht wusste, was mich abends erwartete, und auch niemals im Laufe meines späteren Lebens, habe ich mich so verstoßen, so verlassen von Gott und der Welt gefühlt wie in diesem Moment, vogelfrei im wahrsten Sinne des Wortes.
Seit zwei Wochen war ich unterwegs in meine böhmische Heimat. Nach meiner Gefangennahme im umkämpften Berlin und der anschließenden Flucht war ich eines Morgens auf der Suche nach etwas Essbarem in der Nähe der brandenburgischen Stadt Treuenbrietzen sowjetischen Soldaten in die Arme gelaufen. Sie lachten und riefen immer wieder: »Woina kaput! Woina kaput!« Allmählich verstand ich, dass Deutschland in der Nacht kapituliert hatte und der Krieg zu Ende war. Einer der Soldaten band mir einen Fetzen weißen Stoffs um den linken Arm und sagte in gebrochenem Deutsch: »Du nach Chause.«
Die Sonne meinte es damals gut mit den Menschen. Unter einem wolkenlosen Maihimmel machte ich mich zu Fuß auf den Heimweg und erreichte am Abend Kurzlipsdorf. Dort schlief ich erstmals nach Wochen wieder in einem Bett. Ich hatte auf gut Glück bei einem Bauern angeklopft und wurde freundlich aufgenommen. So war es in den nächsten Tagen auch in Lebien, in Arzberg, in Sora, in Sürßen und wie die Orte alle hießen, in denen ich übernachtete. Nur einmal musste ich auf Stroh in einer Scheune schlafen.
Aber selbst so ein dürftiges Lager war jetzt weit und breit nicht in Sicht. Niedergeschlagen machte ich mich wieder auf den Weg und fand mich kurz darauf in einem Buchenwald wieder, unter dessen Blätterdach es dunkel war wie in einem Tunnel ohne Licht am Ende. Der Gedanke, die Nacht ohne Dach über dem Kopf auf dem Waldboden verbringen zu müssen, schreckte mich nicht. Aber es kam anders. Abseits der Straße, von der ich nicht wusste, wohin sie führte, sah ich ein Licht und erkannte die Umrisse eines Gebäudes, das wenig einladend wirkte. Das Licht kam von einer Lampe über der Tür. Vorsichtig drückte ich die Klinke nach unten. Mir verschlug es den Atem. Das Haus war vollgestopft mit Menschen. Teils lehnten sie an den Wänden, teils saßen oder lagen sie auf dem Boden. Keiner sagte ein Wort. Niemand fragte: »Wo kommst du her um diese Zeit?« Mir selbst war auch nicht danach, ein Gespräch anzufangen. Wortlos quetschte ich mich zwischen die schweigenden Gestalten und schlief auf dem Fußboden schnell ein.
Kaum dass es hell war, verließ ich die ungastliche Stätte. Dass ich mich in sensiblem Gelände dicht an der alten deutsch-tschechischen Grenze befand, war mir nicht bewusst, ich erfuhr es aber im Lauf des Vormittags, nachdem ich den Buchenwald verlassen hatte. Auf einem einsamen Weg zwischen zwei Schonungen umringten mich Männer in Zivil mit schussbereiten Gewehren. Sie sprachen tschechisch miteinander. Erstmals nach langer Zeit vernahm ich wieder die Sprache meines Geburtslandes, die mir von Kindesbeinen an vertraut war. Für einen Moment stieg Wärme in mir auf. Mit mir sprachen die Männer kein Wort. Sie zogen mir Jacke und Hemd über den Kopf und beäugten meine Achselhöhlen. Ich nahm an, dass sie nach Läusen oder sonstigem Ungeziefer suchten, und meinte leichthin auf Tschechisch, so etwas würden sie nicht bei mir finden, auch wenn sie stundenlang suchten.
Weiter kam ich nicht, vor allem konnte ich den Männern nicht erklären, dass sie den Sohn eines sudetendeutschen Antifaschisten vor sich hatten. Ich bekam einen Schlag ins Gesicht und taumelte zu Boden. »Verschwinde«, bellte einer. »ehe wir uns die Sache anders überlegen.« Wonach die Männer gesucht hatten, nämlich nach der bei SS-Angehörigen üblichen Blutgruppentätowierung, wusste ich nicht. Hielten sie mich vielleicht für einen von denen, die sie auf der anderen Seite der Grenze irgendwo im Wald vermuteten? Dann wäre meine letzte Stunde wohl gekommen gewesen. In meiner Unwissenheit nahm ich den Zwischenfall nicht sonderlich ernst. Zum Glück wusste ich nicht, was mich noch erwartete. Aber das ist eine andere Geschichte.