Der deutsche Außenminister sei froh und dankbar, verkündete er am 28.05.2021 zum Abschluss der Verhandlungen mit Namibia, dass es gelungen sei, eine Einigung über das dunkelste Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte zu erzielen. »Unser Ziel war und ist es«, so Maas, »einen gemeinsamen Weg zu echter Versöhnung im Angedenken der Opfer zu finden.« Ihm fiel es im Namen der BRD zu, gegenüber der Weltöffentlichkeit nach über 110 Jahren den Völkermord deutscher Kolonialtruppen an 65.000 Hereros und mindestens 10.000 Namas im über 10 000 km entfernten Afrika einzugestehen. »Wir werden die Ereignisse der deutschen Kolonialzeit im heutigen Namibia und insbesondere die Gräueltaten in der Zeit 1904 bis 1908 ohne Schonung und Beschönigung (…) jetzt auch offiziell als Völkermord bezeichnen.«
Es ist zu bezweifeln, dass diesem Schritt weitere folgen werden, da die Herrschenden wenig Interesse haben, die Büchse der Pandora zu öffnen. Das namibische Volk um Verzeihung zu bitten, die Massaker offiziell als Völkermord zu qualifizieren und Namibia und den Nachkommen der Opfer mit einem auf 30 Jahre gestreckten Wiederaufbauprogramm in Höhe von 1,1 Mrd. Euro zu unterstützen, ist sicher nicht nichts, aber eigentlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es stellen sich nämlich mit diesem Eingeständnis des Genozids viele weitere Fragen, die der öffentlichen Debatte bedürfen, um ins öffentliche Bewusstsein gehoben zu werden. Der Völkermord steht nicht im luftleeren Raum; er ist eingebettet in den gesamten deutschen Kolonialismus in der Zeit von Mitte der 1880er Jahre bis zum I. Weltkrieg. Zu erinnern wäre auch an die deutsch-koloniale Blutspur gegen Chinesen im Boxerkrieg und die Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes mit 75.000 bis 300.000 Toten im Süden Deutsch-Ostafrikas. All diese Gewaltakte stehen nicht außerhalb ökonomischer Strukturen und Gesetzmäßigkeiten.
Solche Strukturen und Gesetzmäßigkeiten verortete Marx in ein bestimmtes Stadium der Entwicklung des Kapitalismus und nannte es »ursprüngliche Akkumulation«. Im »Kapital« hat Marx die Ausrottung und Versklavung der eingeborenen Bevölkerung als die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära bezeichnet. Das christlichen Kolonialsystem beschrieb B. Howitt 1838, den Marx zitierte: »Die Barbareien und ruchlosen Gräueltaten der sog. christlichen Racen, in jeder Region der Welt und gegen jedes Volk, das sie unterjochen konnten, finden keine Parallelen in irgendeiner Ära der Weltgeschichte, bei irgendeiner Race, ob noch so wild und ungebildet, mitleidslos und schamlos« (Kapital, MEW Bd. 23, S. 779, Dietz, 1977).
Aber auch beim Übergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium setzte sich die Blutspur des Kapitals fort. Deutschland erlebte nach dem Sieg über Frankreich einen wirtschaftlichen Boom, für den die alten Absatzmärkte nicht genügten. Neue Chancen erblickten Lobbygruppen des Industrie- und Bankkapitals in der Kolonisierung Afrikas. Während Bismarck anfangs etwas zögerlich war, wurde ihm schnell klar, dass es nicht um seine Befindlichkeiten ging, sondern um die, deren Interessen er durchzusetzen hatte. Im Jahre 1884 wurde der Erwerb von Kolonien staatsoffiziell, dem sich zumindest rhetorisch die Sozialdemokratie widersetzte, weil sie damals noch – auf dem Boden des Marxismus stehend – erkannte, dass die »moderne Staatsgewalt nur ein Ausschuss ist, der die gemeinschaftlichen Interessen der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet«, wie es in der Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus heißt. Deshalb fragte Bebel 1889 im Reichstag: »Nun, wer ist denn diese Ostafrikanische Gesellschaft? Ein kleiner Kreis von Großkapitalisten, Bankiers, Kaufleuten und Fabrikanten, d. h. ein kleiner Kreis von sehr reichen Leuten, deren Interessen mit denen des deutschen Volkes gar nichts zu tun haben. (…) Wo immer wir die Geschichte der Kolonialpolitik in den letzten dreihundert Jahren aufschlagen, überall begegnen wir Gewalttätigkeiten und der Unterdrückung der betreffenden Völkerschaften (…), die nicht selten mit deren vollständigen Ausrottung endet.«
Derartige Zusammenhänge publik zu machen, sollte auch heute noch Aufgabe der Sozialdemokratie sein. Es dürfte auch nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt sein, wenn es der deutschen Regierung mit dem Eingeständnis des Genozids vor allem ums Prestige ging. Da sich die BRD lange Zeit aus Opportunitätsgründen gegenüber dem Nato-Bündnispartner Türkei sperrte, den von der osmanischen Regierung veranlassten Massenmord an 300.000 bis 1,5 Millionen Armeniern den Jahren 1915 und 1916 als Völkermord zu benennen, aber sich andrerseits gern in der Rolle des Anklägers gegen Menschlichkeitsverbrechen gefällt, hätte sie erheblich an Glaubwürdigkeit verloren, wenn sie sich nicht zu diesem Schritt durchgerungen hätte.
Auf das Eingeständnis, dass Krieg und Völkermord wesenseigen zum Kapitalismus gehören, werden wir wohl noch lange warten müssen.