Unter diesem Titel hat die britische Kinderpsychiaterin Julia Nelki ein beeindruckendes Buch veröffentlicht. Im Fokus ihrer Erzählung steht die Villa Russo, eine prächtige Jugendstilvilla in Wernigerode am Nordrand des Harzes. Einer ihrer Vorfahren, der jüdische Käsefabrikant Moritz Russo, hatte das Haus 1887 errichten lassen. 1936 wurde die Villa der Familie von Nazis geraubt, betroffen waren Benno Russo, der jüngere Bruder des Erbauers, und dessen Frau, die Opernsängerin Clara Jaffe. Beide wurden im Winter 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert. Benno Russo starb dort am 18. April 1943, seine Frau wurde in Auschwitz ermordet.
Julia Nelki (geboren 1953) ist die Großnichte dieser Nazi-Opfer. Sie erzählt uns die (Kriminal-)Geschichte der Villa und ihrer wechselnden Besitzer bis heute. Dabei taucht sie tief ein in die Welt ihrer Vorfahren. Sie entdeckt sowohl sephardische als auch aschkenasische Herkünfte; wir erfahren viel über jüdisches Leben und Leiden in Europa.
Emotional berührt, wie Julia Nelki uns mitnimmt auf ihren Erkundungsprozess, bei dem sie sich mit den geschichtlichen Begebenheiten nach und nach vertraut gemacht hat. Dabei stützt sie sich auf die Recherchen ihres Vaters Wolf Nelki, eines Sozialisten und assimilierten Berliner Juden (»Hitler hat aus mir einen Juden gemacht«), der mit dem Marxisten und Brecht-Lehrer Karl Korsch befreundet gewesen war. Zusammen mit seiner Frau Erna hatte Wolf Nelki in den 1930er Jahren vor den Nazis nach England fliehen können. Bis zu seinem Tod im Jahr 1992 hatte er intensiv recherchiert, wer aus seiner Familie den Holocaust überlebte.
Sein Wille war es, dass die Villa Russo wie in der DDR auch weiterhin als Berufsschule für Behinderte genutzt wird. Doch nach 1990 machte ein mehr als zweifelhaftes Treuhand-Verfahren den Wunsch zunichte. Erbansprüche eines Nachfahren jenes Nazis, der es sich 1936 in der Villa bequem gemacht hatte, konnten zwar abgewehrt werden. Doch letztlich war es ein »Glücksfall« und ist nicht etwa das Verdienst einer beschämend agierenden Verwaltung, dass die heutigen Besitzer sich der jüdischen Tradition des Haues bewusst sind und dass die Villa Russo öffentlich als musische Begegnungsstätte wider das Vergessen neues Leben ausstrahlt.
Julia Nelkis Buch ist beste politische Bildung in einer Zeit, da neue Nazis mordend durch Deutschland ziehen. Lesen!
Julia Nelki: Villa Russo – eine deutsche Geschichte, Offizin Hannover, 230 Seiten, 18 €