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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vier Leben. Vier Tode

Vor­be­mer­kung: Lot­te kann­te den »son­der­ba­ren Umstand«, denn: »Wert­her hat­te, wie wir aus sei­nen Brie­fen wis­sen, nie ein Geheim­nis dar­aus gemacht, daß er sich die­se Welt zu ver­las­sen sehn­te« (Goe­thes Wer­ke, Auf­bau-Ver­lag 1981, Fünf­ter Band, S. 122). »Die mensch­li­che Natur«, hat­te er im Som­mer gegen­über Albert argu­men­tiert, ein hal­bes Jahr, bevor er sei­ne Absicht mit einem Schuss durch den Kopf in die Tat umsetz­te, »hat ihre Gren­zen: sie kann Freu­de, Leid, Schmer­zen bis auf einen gewis­sen Grad ertra­gen und geht zugrun­de, sobald der über­stie­gen ist.« Wert­her zeig­te mit­füh­len­des Ver­ständ­nis mit den Unglück­li­chen: »Und ich fin­de es eben­so wun­der­bar zu sagen, der Mensch ist fei­ge, der sich das Leben nimmt, als es unge­hö­rig wäre, den einen Fei­gen zu nen­nen, der an einem bös­ar­ti­gen Fie­ber stirbt.« Für Albert ist die­ser Gedan­ken­gang schlicht­weg »para­dox«, und sein Urteil ist klar: »Wir nen­nen das eine Krank­heit zum Tode« (S. 49).

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Es ist banal, aber es passt zum Sujet: Das Buch »Die Ver­un­glück­ten« ist im »trau­ri­gen Monat Novem­ber« (Hein­rich Hei­ne) erschie­nen. Denn trau­ri­ge Schick­sa­le umschlie­ßen die vier titel­ge­ben­den Men­schen: Inge­borg Bach­mann, Uwe John­son, Ulri­ke Mein­hof und Jean Amé­ry. Der Ver­fas­ser Mat­thi­as Bor­muth (56), Inha­ber der Hei­sen­berg-Pro­fes­sur für ver­glei­chen­de Ideen­ge­schich­te am Insti­tut für Phi­lo­so­phie der Carl von Ossietzky Uni­ver­si­tät in Olden­burg, hat sich auf Spu­ren­su­che bege­ben nach dem, was die­se Intel­lek­tu­el­len ver­bin­det, »die ihr Leben nicht aus­hal­ten konn­ten«. Gibt es gemein­sa­me Merk­ma­le? Einen Zeit­punkt, von dem an es unauf­halt­sam auf das schier unaus­weich­li­che Ende zuging? Wann trat der Tod ins Leben? Was ver­ra­ten die Wer­ke über ihre Schöp­fer? Und die Schick­sa­le über die Betroffenen?

Lebens­ab­riss Jean Amé­ry, von ihm selbst 1965 ver­fasst: »Jean Amé­ry, gebo­ren [am 31. Okto­ber; Anm. K. N.] 1912 in Wien. Stu­di­um der Lite­ra­tur und Phi­lo­so­phie in Wien. 1938 Emi­gra­ti­on nach Bel­gi­en. 1941 – 1943 Wider­stands­be­we­gung in Bel­gi­en. Ver­haf­tung durch Gesta­po. Depor­ta­ti­on nach ver­schie­de­nen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern. Lebt als frei­er Schrift­stel­ler, Jour­na­list und Rund­funk­mit­ar­bei­ter in Brüs­sel« (Bor­muth, S. 31).

Von Amé­ry erschie­nen in den 1960er und 1970er Jah­ren meh­re­re auto­bio­gra­phi­sche Essays mit sei­nen Lager­erfah­run­gen. Die immense Reso­nanz, die sie erfuh­ren, ist auch vor dem Hin­ter­grund der end­lich eröff­ne­ten Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zes­se zu sehen. Für die Öffent­lich­keit blieb Amé­ry von da an ein geach­te­ter und ein­fluss­rei­cher Essay­ist, ein Zeit­zeu­ge; dass er als Roman­au­tor nicht die glei­che Aner­ken­nung erfuhr, ver­bit­ter­te ihn. Die Wun­de heil­te nicht. Und die frü­her in den Lagern erlit­te­ne Trau­ma­ti­sie­rung wirk­te fort.

In dem 1973 erschie­ne­nen Essay »Trä­ger der Frei­heit« bewun­der­te Amé­ry, wie Bor­muth dar­legt, »vor allem histo­ri­sche Bei­spie­le der Selbst­tö­tung«: Bud­dhi­sten­mön­che, die sich in Viet­nam ver­brann­ten, oder Jan Palach, der in der ČSSR den glei­chen Weg wähl­te: »Sein Essay gibt zuletzt einen Aus­blick auf Men­schen, die unab­hän­gig von poli­ti­schen und reli­giö­sen Moti­ven rein per­sön­li­che Grün­de für den Sui­zid ange­ben.« Drei Jah­re spä­ter, 1976, ver­öf­fent­lich­te Amé­ry »Hand an sich legen«. Zwei Jah­re danach, am 17. Okto­ber 1978, setz­te er in Salz­burg sei­nem Leben ein Ende.

Bor­muth blickt zurück ins Jahr 1935, in dem Amé­rys erster Roman erschien: »Die Schiff­brü­chi­gen«: »Es ist erstaun­lich«, wie der Roman »schon 1935 von dem ahnen lässt, was dem Autor spä­ter zusto­ßen wird. Der Prot­ago­nist …, ein jun­ger Lite­rat jüdi­scher Her­kunft, spricht Gedan­ken aus, die Jean Amé­rys spä­te­ren Bewusst­seins- und Lebens­weg bis in den Frei­tod hin­ein bestim­men wer­den.« Und die, so darf man hin­zu­fü­gen, von dem erlit­te­nen Leid in den Lagern noch ver­stärkt wur­den. »Das Leben eines Schiff­brü­chi­gen« hat Bor­muth das Amé­ry-Kapi­tel überschrieben.

Die öster­rei­chi­sche Schrift­stel­le­rin Inge­borg Bach­mann, am 25. Juni 1926 in Kla­gen­furt gebo­ren und am 17. Okto­ber 1973 in Rom gestor­ben, wo sie zeit­wei­se mit Max Frisch leb­te, trat mit Lyrik her­vor. Viel gele­sen wur­den die Gedicht­bän­de »Gestun­de­te Zeit« und »Anru­fung des Gro­ßen Bären«. Ihre Lyrik war in den 1960er Jah­ren so ver­brei­tet, dass Heinz Lud­wig Arnold, der Her­aus­ge­ber der Lite­ra­tur-Zeit­schrift Text + Kri­tik, im Okto­ber 1964 in dem Son­der­heft zu Bach­mann anmer­ken konn­te, nach­dem alle Bemü­hun­gen um neue Tex­te der Autorin ver­geb­lich waren, man habe »auf den Nach­druck bereits ver­öf­fent­lich­ter Tex­te … ver­zich­tet, da die­se … im Besitz vie­ler Leser … sind«. Ihr 1957 ent­stan­de­nes Hör­spiel »Der gute Gott von Man­hat­tan« wur­de am 29. Mai 1958 gleich­zei­tig im NDR Ham­burg, im BR Mün­chen und im SWF Baden-Baden unter der Regie von Fritz Schrö­der-Jahn gesen­det. Dem »guten Gott« miss­fällt das Lie­bes­glück eines jun­gen Paa­res, und er beschließt des­sen Tod.

Den­noch ließ Bach­mann die Lyrik bald hin­ter sich, ver­öf­fent­lich­te den Erzähl­band »Das drei­ßig­ste Jahr«, in dem der Tod eben­falls the­ma­ti­siert wird: »Hin­zu-erwor­ben hat er nur die Erfah­rung, daß die Men­schen sich an einem ver­gin­gen, daß man selbst sich auch an ihnen ver­ging und daß es Augen­blicke gibt, in denen man grau wird vor Krän­kung – daß jeder gekränkt wird bis in den Tod von den ande­ren. Und daß sich alle vor dem Tod fürch­ten, in den allein sie sich ret­ten kön­nen vor der unge­heu­er­li­chen Krän­kung, die das Leben ist« (Sämt­li­che Erzäh­lun­gen, Piper, 1978, S. 101).

In der Fol­ge ent­wickel­te Bach­mann, wie Bor­muth aus­führt, ihr gro­ßes Pro­sa-Pro­jekt der »Todes­ar­ten«, aus dem »Mali­na« als ein­zi­ger Roman rea­li­siert wur­de. Zwei Jah­re spä­ter erliegt sie in Rom den Fol­gen schwe­rer Ver­bren­nun­gen, schon längst abhän­gig von Psy­cho­phar­ma­ka und Alko­hol. Viel­leicht war es die letz­te Ziga­ret­te, die ihr Zim­mer in Brand setzte.

Uwe John­son, gebo­ren am 20. Juli 1934 in Cammin im dama­li­gen Pom­mern, gestor­ben am 23. Febru­ar 1984 in Sheer­ness, einer Stadt in der eng­li­schen Graf­schaft Kent. Der Autor der berühm­ten »Jah­res­ta­ge« hadert nach der Fer­tig­stel­lung des drit­ten Ban­des mit »läh­men­den Effek­ten«. Und mit sei­ner Ehe, dem pri­va­ten Zer­würf­nis. Und mit sei­nem Ver­le­ger Sieg­fried Unseld, der end­lich den letz­ten Band auf dem Schreib­tisch haben möch­te, was schluss­end­lich auch gelingt.

Unseld gibt den Anstoß für einen Bei­trag John­sons zur Fest­schrift für Max Frisch aus Anlass des 70. Geburts­tags im Mai 1981. John­son lie­fert, wie gewünscht, den Text. Sein Titel: »Skiz­ze eines Verunglückten«.

Die Gemenge­la­ge, die aus die­ser »Skiz­ze« ent­stand, die das Feuil­le­ton elek­tri­sier­te und die Bor­muth akri­bisch dar­legt, kann hier nicht refe­riert wer­den. Eben­so wenig die Todes­li­ni­en, die Bor­muth aus John­sons Werk her­aus­ar­bei­tet. 1984 starb John­son alko­hol­krank und ein­sam in sei­nem neu­en Domi­zil in Eng­land. Erst drei Wochen spä­ter wur­de er gefunden

Wäh­rend das Schick­sal die­ser drei »Ver­un­glück­ten« damals und durch die Jah­re vor allem den Lite­ra­tur­be­trieb beschäf­tig­te, beweg­te das Leben und Ster­ben der begab­ten Publi­zi­stin Ulri­ke Mein­hof die gesam­te Öffent­lich­keit, auch inter­na­tio­nal. Nie­mand ent­ging dem Geschrei der Schlag­zei­len. Die Jour­na­li­stin wur­de in Olden­burg (Olden­burg) am 7. Okto­ber 1934 gebo­ren und ende­te durch Sui­zid am 9. Mai 1976 in Stutt­gart-Stamm­heim. Jah­re­lang hat­te sie durch ihre jour­na­li­sti­sche Arbeit, vor allem von 1960 bis 1964 als Chef­re­dak­teu­rin der Zeit­schrift kon­kret, ver­sucht, gesell­schafts­ver­än­dernd zu wir­ken. Das Ende des Jahr­zehnts sah sie in einer ter­ro­ri­sti­schen Ver­ei­ni­gung: der Baa­der-Mein­hof-Grup­pe. 1972 wur­de sie ver­haf­tet, 1974 ange­klagt, zwei Jah­re spä­ter tot in ihrer Zel­le aufgefunden.

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Nach­be­mer­kung: 75 Jah­re nach der Ver­öf­fent­li­chung von Goe­thes »Wert­her« erschien 1849 in Däne­mark ein Spät­werk des Phi­lo­so­phen Søren Kier­ke­gaard mit dem Titel: »Die Krank­heit zum Tode«. Die­se Krank­heit hat bei Kier­ke­gaard einen Namen: Ver­zweif­lung. Und somit sind wir wie­der zurück bei der Aus­gangs­fra­ge nach einer Gemein­sam­keit die­ser vier Men­schen, die auf so unter­schied­li­che Wei­se zu Pro­mi­nenz gelang­ten. Die Ant­wort ist nahe­lie­gend: Es ist die Ver­zweif­lung, die ihnen allen inne­wohnt. Sie zieht sich wie eine immer brei­ter wer­den­de Todes­li­nie durch ihr Leben, trifft sie mit alt­te­sta­men­ta­ri­scher Wucht, bis sie unaus­weich­lich vom River of No Return ver­schlun­gen wer­den. Sela.

Mat­thi­as Bor­muth: »Die Ver­un­glück­ten – Bach­mann, John­son, Mein­hof, Amé­ry«, Beren­berg, 248 Sei­ten, 24