Seit den 1990er Jahren war Klemperer auf Grund seiner Tagebücher postum zu Ruhm gelangt, der zwar im Laufe der Jahre etwas verblasst, aber keineswegs verschwunden ist. Hierfür sorgen immer wieder Publikationen des Aufbau-Verlages (Filmtagebücher, Revolutionstagebücher, Briefe).
Wichtig sind aber zur Aufrechterhaltung der Erinnerung an ihn auch immer wieder Detailstudien. Zu diesen zählt »Victor Klemperer und Leipzig (1916-1919)« von Lothar Poethe.
Als Fachstudie allein wäre dieses Buch für das allgemeine Publikum wohl nicht sehr interessant. Die Bedeutung beruht darauf, dass sie eingebettet ist in Klemperers Biografie. Die Grundlage dafür hat Klemperer selbst geliefert: in seinem »Curriculum Vitae« (2 Bände, zuerst 1989 erschienen).
»CV« wurde von Klemperer unter dramatischen Umständen in den Jahren 1939 bis 1942 verfasst: Er war als Jude verfolgt, hatte seinen Lehrstuhl, seinen Zugang zunächst zu wissenschaftlichen, dann auch zu privaten Büchereien verloren und verwertete nun seine Tagebücher, (die er anschließend aus Sicherheitsgründen vernichtete), um seine Biografie bis zum Jahre 1918 zu schreiben. Immer wieder verglich er darin seine Sicht in der Zeit des Ersten Weltkriegs mit der seiner Schreibgegenwart. Poethe (S. 9) betont, dass Klemperer »sich erfolgreich bemühte«, seine Erinnerungen nachträglich zu korrigieren oder zu beschönigen.
Die Behandlung des Hauptthemas umfasst deutlich weniger als die Hälfte des Textteils, der zur Veranschaulichung mit vielen Fotos ausgestattet ist. So gelingt dem Autor eine lebendige Darstellung Klemperers Leipziger Jahre.
Die Versetzung von der Westfront nach Leipzig (1916) – über verschiedene Etappen – war für Klemperer letztlich von lebensrettender Bedeutung. Er arbeitete in der Militärzensur. Seine Behörde »Prüfungsstelle Ober Ost Leipzig« war in der Deutschen Bücherei untergebracht, die 1913 begonnen hatte, alle deutsch geschriebenen Bücher zu sammeln und zu katalogisieren, und in der der Autor Poethe jahrzehntelang gearbeitet hat. Er kann auf Grund seiner Fachkompetenz die wichtigen Linien herausarbeiten: »Ober Ost« (Kurland, Litauen, Bialystok-Grodno) als koloniales Projekt, das Ziel der Zensur, das Wohlwollen der ansässigen Bevölkerung für die deutschen Besetzer zu erlangen.
Hinsichtlich Klemperers politischer Haltung kommt Poethe zu folgendem Ergebnis: »In den Erinnerungen Kl.s findet sich kein Hinweis darauf, dass er über das Wesen der deutschen Militärverwaltung des großen, bis zur Besetzung zum russischen Reich gehörenden Territoriums reflektiert habe, von kritischer Distanz seines Mitwirkens als (…) kleines Rädchen der Unterdrückungs- und Ausbeutungsmaschinerie ist nur gelegentlich etwas zu spüren« (S. 30 f.). Von daher erscheint Kl.s Entwicklung bis zum Eintritt in die KPD im Jahre 1945 umso bemerkenswerter.
Neben Kl.s Zensurtätigkeit nimmt sein Privatleben in der Leipziger Zeit (Theater, Wohnverhältnisse) eine große Rolle in Poethes Buch ein.
Fazit: Auch am Spezialthema weniger Interessierte werden aus diesem Buch Gewinn ziehen.
Lothar Poethe: Victor Klemperer und Leipzig (1916-1919), BoD 2021, 126 S., 8.99 €.