Nein, ich kenne meine Grenzen. Von meinen Klettertouren in den Dolomiten weiß ich, dass man Bergen mit Respekt begegnen muss. Und wenn ich auch schon auf einem Fast-Dreitausender am Gipfelkreuz stand, dieser Berg ist mir zu hoch, und die Luft da oben zu dünn, als dass ich mich hinaufwagen dürfte. Das überlasse ich Berufeneren, ehemaligen oder noch lebenden: Marcel Reich-Ranicki zum Beispiel, dem streitlustigen und allgegenwärtigen Buchprüfer; oder dem tiefensezierenden Michael Maar, der schon 1995 in »Geister und Kunst« verborgenen Spuren und geheimen Pfaden in diesem Berg folgte; oder dem feinsinnigen Ordinarius Walter Jens; oder den Heerscharen von Philologen, Kritikern und Literaturhistorikern, die sich an diesem »Berg« versuchten.
Sicherlich haben Sie schon bemerkt, dass es sich hier um keinen »normalen« Berg handelt, zu dem man sich des Morgens aufmacht und von dem man am frühen Abend zurückkehrt. Der Weg zu diesem Berg, das erste Kapitel also, ist mit »Ankunft« überschrieben. Es ist »einer der berühmtesten Anfänge der Weltliteratur«.
»Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen.« Sein Ziel ist das Internationale Sanatorium »Berghof«. Hans Castorp, dies ist der Name des jungen Mannes, »fuhr auf Besuch für drei Wochen« ins Hochgebirge. Daraus wurden schließlich sieben Jahre in der abgeschiedenen Welt des Schweizer Sanatoriums für Lungenkranke, denn: »Zeit, sagt man, ist Lethe«. Erst recht auf einem Zauberberg.
Im November des Jahres 1924 ist Thomas Manns »Jahrhundertroman aus Davos«, wie der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr sein Buch »Zauberberge« untertitelt hat, erschienen. Der in Hamburg geborene Sparr hatte während seiner Schulzeit in Lübeck den Zauberberg zum ersten Mal gelesen und somit »früh erfahren, dass die Lektüre dieses Buches auf besondere Weise verzaubert«. Diesem Zauber ging er jetzt nach, und zwar im Februar dieses Jahres in zwei Vorträgen, vormittags in der Schweizerischen Alpinen Mittelschule in Davos und abends zur Eröffnung von »100 Jahre Der Zauberberg« am Kulturplatz Davos. Diese Vorträge liegen seinem Buch zu Grunde.
Während aber »Generationen von Germanisten Motive, Bilder, Metaphern vom Zauberberg erforscht, entdeckt, hergeleitet und die Deutungen anderer verworfen haben oder ihnen gefolgt sind«, dabei stets vor Augen, dass »die Arbeit im Innern des Zauberbergs eine langwierige ist, weit reicht und immens ist«, geht Sparr einen anderen Weg. Er liefert sozusagen, um im Eingangsbild zu bleiben, die Steigeisen zum Erklimmen des Berges.
Sein Trick: Er entwarf ein Alphabet des Zauberbergs. Die Reihenfolge der Beiträge sind dem Zufall des ABC geschuldet, manche sind länger, andere eher kurz. Diese Form der Darstellung erinnert an die »Welt aus Buchstaben«, dem »Gestein«, aus dem der Zauberberg besteht. Und an den Thomas-Mann-Weg in Davos, der zur Schatzalp hinaufführt, wo das Sanatorium lag, das den Autor inspiriert hat: »Entlang dieses Wegs hat man Schilder mit den wichtigsten Zitaten aus dem Zauberberg aufgestellt. Sie sprechen zu jedem, der zufällig oder absichtsvoll den Weg entlanggeht. Von A bis Z schafft dieser Roman ein eigenes Alphabet.«
Zuvor aber, für alle, die den Roman (noch) nicht gelesen haben, um was geht es eigentlich? Ich zitiere zusammenfassend: »Kein Roman erfasst die Erschütterungen des 20. Jahrhunderts so wie Thomas Manns Zauberberg, der ein Panorama der europäischen Welt entfaltet, ihrer Menschen und der beschleunigten Zeit mit all den Neuerungen und Erfindungen, dem um sich greifenden Nationalismus, dem Antisemitismus, dem Gegensatz von Ost und West, dem ›Donnerschlag‹ des Ersten Weltkriegs und den frühen 1920er Jahren. Die Themen des Romans sind unsere: der Schnee, der heute nicht mehr so fällt wie damals; das Zwielicht der Geschlechter; die konfuse Sexualität des Menschen; die Demokratie und vieles mehr.«
Sparrs alphabetischer Leitfaden reicht von der Ankunft und der ersten Nacht Castorps in dem Gebirgsdorf – »voller Hinweise und Zeichen auf das, was ihn und die, die über ihn lesen werden, erwartet« – über das Stichwort »Bleistift« – mit dem uns »der Erzähler auf eine Spur lenkt, die sonst im Roman nicht zur Sprache kommt, obwohl sie das ganze Werk durchzieht: die Homosexualität« –weiter zum Stichwort »Demokratie«, was für Sparr »das Schlüsselwort des Romans« ist. In ihm widerspiegelt sich auch die Wandlung des politischen Thomas Mann während der zwölfjährigen Entstehungszeit des Werkes und damit seine Abkehr von den teils reaktionären Betrachtungen eines Unpolitischen, mit denen er, anders als sein Bruder Heinrich, die Kriegspolitik des deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg unterstützte.
»Gesundheit« ist ein weiteres Schlüsselthema: Sie »ist in diesem Roman so etwas wie die leibliche Seite der Demokratie: als Ausdruck von Mitte und Mäßigung«. Ebenso »Humanität«: »Die Überschneidungen von Humanität und Demokratie liegen bei diesem Autor auf der Hand. (…) Das Wort Humanität bei Thomas Mann erklingt als Postulat. Er wirbt darum.«
Und so führt Sparr seine Leserinnen und Leser durch sein 26 Buchstaben umfassendes Alphabet. Vergnüglich und mit Gewinn zu lesen, ein kurzweiliger Leitfaden, egal ob man sich zum ersten oder zum wiederholten Male auf die Tour zum Zauberberg begibt.
Thomas Sparr: Zauberberge – Ein Jahrhundertroman aus Davos, Berenberg, Berlin 2024, 80 S., 22 €.