Dieses wertvolle und gut aufgemachte Hörbuch vereinigt auf zwei CDs, sehr interessante 35 O-Töne, von zumeist jüdischen, bekannten und weniger bekannten, Flüchtlingen, die als Geistes- und Naturwissenschaftler noch aus Deutschland und Österreich in die USA fliehen konnten und nie mehr in ihre einstige Heimat zurückkehrten. Dazu gehören zum Beispiel, neben den im Titel genannten Hannah Arendt und Ernst Toch, die Nobelpreisträger Fritz Lippmann (Mediziner), Hans A. Bethe (Physiker) und Max Delbrück (Genetiker) sowie Theodor Adorno (Sozialforscher), Walter Gropius (Architekt), Arnold Brecht (Verfassungsrechtler), Hans Jonas (Philosoph), Curt Stern (Genetiker) und die Frauen Else Staudinger (Nationalökonomin und Flüchtlingshelferin), Anna Männchen (Kinderpsychologin), Sabine Gova (Kunsthistorikerin), Tilly Edinger (Paläontologin).
Es gelang ihnen im Exil, oft Hürdenreich, u. a. aufgrund der Sprachbarriere, sich erneut beruflich und politisch einzubringen und teils sehr bedeutsame Beiträge zur Geistes- und Kulturgeschichte, oft von Weltgeltung, hervorzubringen. Die Interviews, in denen sie existenzielle Erfahrungen von Flucht und Exil berührend zur Sprache bringen, wurden, erstaunlicherweise, bereits Ende der 50er Jahre, also in der restaurativen Adenauer-Ära, von Lutz Besch und vor allem von Irmgard Bach im Auftrag von Radio Bremen geführt und gesendet und sind nun wieder, dankenswerterweise, von den Herausgebern einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.
Hans Sarkowicz schreibt im Begleitheft über die schwierige Entstehung der Interviews durch die Deutsche Irmgard Bach, denn nicht alle Angefragten waren zu einem Gespräch bereit.
Annette Vogt beleuchtet Hintergründe der leidvollen Erfahrungen der Flüchtlinge aus Nazideutschland und die komplizierte Assimilation in den USA, aber auch ihre Beiträge zur dortigen Wissenschafts- und Kulturgeschichte, die teils kriegsentscheidend waren. Zugleich aber beeinflussten sie auch, trotz alledem, die emanzipatorische, wissenschaftliche und kulturelle Nachkriegsentwicklung in Deutschland. Im Begleitheft gibt es 35 Kurzbiografien der Interviewten, die die Orientierung für die HörerInnen bei der Auswahl zum Abhören der Interviews erleichtern und vertiefen. Da die Interviews Ende der 50er Jahren erfolgten, kamen verständlicherweise die Traumatisierungen durch die Nazizeit bei den Vertriebenen nur sehr sparsam zur Sprache, aber auch die Kritik an den Gesellschaftsverhältnissen in den USA, etwa, was die erneute Begegnung mit Rassendiskriminierung betraf. Die »Vertreibung des Geistes«, d. h. insbesondere der jüdischen Minderheit, hat bis heute tiefe Wunden und kulturelle Defizite in Deutschland und Europa hinterlassen, die wohl nie wieder geheilt werden können. Aber das kulturelle Erbe dieser Vertriebenen wird mit diesem Hörbuch erneut gewürdigt, und die Stimmen der längst Verstorbenen zu hören, hat mich berührt und zum erneuten Nachdenken angeregt.
Annette Vogt und Hans Sarkowicz (Hrsg.), »Vertreibung des Geistes«. 35 Stimmen aus dem Exil von Hannah Arendt bis Ernst Toch, der Hörverlag, München 2022, 30 €.