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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Vertreibung des Geistes«

Die­ses wert­vol­le und gut auf­ge­mach­te Hör­buch ver­ei­nigt auf zwei CDs, sehr inter­es­san­te 35 O-Töne, von zumeist jüdi­schen, bekann­ten und weni­ger bekann­ten, Flücht­lin­gen, die als Gei­stes- und Natur­wis­sen­schaft­ler noch aus Deutsch­land und Öster­reich in die USA flie­hen konn­ten und nie mehr in ihre ein­sti­ge Hei­mat zurück­kehr­ten. Dazu gehö­ren zum Bei­spiel, neben den im Titel genann­ten Han­nah Are­ndt und Ernst Toch, die Nobel­preis­trä­ger Fritz Lipp­mann (Medi­zi­ner), Hans A. Bethe (Phy­si­ker) und Max Del­brück (Gene­ti­ker) sowie Theo­dor Ador­no (Sozi­al­for­scher), Wal­ter Gro­pi­us (Archi­tekt), Arnold Brecht (Ver­fas­sungs­recht­ler), Hans Jonas (Phi­lo­soph), Curt Stern (Gene­ti­ker) und die Frau­en Else Stau­din­ger (Natio­nal­öko­no­min und Flücht­lings­hel­fe­rin), Anna Männ­chen (Kin­der­psy­cho­lo­gin), Sabi­ne Gova (Kunst­hi­sto­ri­ke­rin), Til­ly Edin­ger (Palä­on­to­lo­gin).

Es gelang ihnen im Exil, oft Hür­den­reich, u. a. auf­grund der Sprach­bar­rie­re, sich erneut beruf­lich und poli­tisch ein­zu­brin­gen und teils sehr bedeut­sa­me Bei­trä­ge zur Gei­stes- und Kul­tur­ge­schich­te, oft von Welt­gel­tung, her­vor­zu­brin­gen. Die Inter­views, in denen sie exi­sten­zi­el­le Erfah­run­gen von Flucht und Exil berüh­rend zur Spra­che brin­gen, wur­den, erstaun­li­cher­wei­se, bereits Ende der 50er Jah­re, also in der restau­ra­ti­ven Ade­nau­er-Ära, von Lutz Besch und vor allem von Irm­gard Bach im Auf­trag von Radio Bre­men geführt und gesen­det und sind nun wie­der, dan­kens­wer­ter­wei­se, von den Her­aus­ge­bern einer grö­ße­ren Öffent­lich­keit zugäng­lich gemacht worden.

Hans Sar­ko­wicz schreibt im Begleit­heft über die schwie­ri­ge Ent­ste­hung der Inter­views durch die Deut­sche Irm­gard Bach, denn nicht alle Ange­frag­ten waren zu einem Gespräch bereit.

Annet­te Vogt beleuch­tet Hin­ter­grün­de der leid­vol­len Erfah­run­gen der Flücht­lin­ge aus Nazi­deutsch­land und die kom­pli­zier­te Assi­mi­la­ti­on in den USA, aber auch ihre Bei­trä­ge zur dor­ti­gen Wis­sen­schafts- und Kul­tur­ge­schich­te, die teils kriegs­ent­schei­dend waren. Zugleich aber beein­fluss­ten sie auch, trotz alle­dem, die eman­zi­pa­to­ri­sche, wis­sen­schaft­li­che und kul­tu­rel­le Nach­kriegs­ent­wick­lung in Deutsch­land. Im Begleit­heft gibt es 35 Kurz­bio­gra­fien der Inter­view­ten, die die Ori­en­tie­rung für die Höre­rIn­nen bei der Aus­wahl zum Abhö­ren der Inter­views erleich­tern und ver­tie­fen. Da die Inter­views Ende der 50er Jah­ren erfolg­ten, kamen ver­ständ­li­cher­wei­se die Trau­ma­ti­sie­run­gen durch die Nazi­zeit bei den Ver­trie­be­nen nur sehr spar­sam zur Spra­che, aber auch die Kri­tik an den Gesell­schafts­ver­hält­nis­sen in den USA, etwa, was die erneu­te Begeg­nung mit Ras­sen­dis­kri­mi­nie­rung betraf. Die »Ver­trei­bung des Gei­stes«, d. h. ins­be­son­de­re der jüdi­schen Min­der­heit, hat bis heu­te tie­fe Wun­den und kul­tu­rel­le Defi­zi­te in Deutsch­land und Euro­pa hin­ter­las­sen, die wohl nie wie­der geheilt wer­den kön­nen. Aber das kul­tu­rel­le Erbe die­ser Ver­trie­be­nen wird mit die­sem Hör­buch erneut gewür­digt, und die Stim­men der längst Ver­stor­be­nen zu hören, hat mich berührt und zum erneu­ten Nach­den­ken ange­regt. 

Annet­te Vogt und Hans Sar­ko­wicz (Hrsg.), »Ver­trei­bung des Gei­stes«. 35 Stim­men aus dem Exil von Han­nah Are­ndt bis Ernst Toch, der Hör­ver­lag, Mün­chen 2022, 30 €.