Bei 75 Prozent der CoViD-19-Infektionen ist unklar, wo sich die Betroffenen infizieren, erklärt Bundeskanzlerin Merkel. Die Frage, ob steigende Corona-Zahlen mit Ansteckungen am Arbeitsplatz zusammenhängen, spielt bei Lockdown-Planungen keine Rolle. Für die Verschärfung der Corona-Regeln verkündete Merkel bereits im August die Prioritäten: »erstens das Wirtschaftsleben – zweitens Schule und Kita«. Ein weiterer Ausfall von Arbeitskräften, die durch Homeschooling oder Kinderbetreuung gebunden sind, soll vermieden werden. Die Arbeitskraft muss verwertet, die Gewinne müssen gesteigert werden, findet wohl auch Bayerns Ministerpräsident Söder: »Schule und Kita hat ja den Zweck auch, um die Wirtschaft laufen zu lassen.«
Die Gesundheit der Beschäftigten spielt bei den Überlegungen keine große Rolle. Ein Bericht der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) soll jedoch beruhigen: »Betriebe ergreifen umfangreiche Maßnahmen« gegen Corona, lautet das Resümee einer repräsentativen Befragung von über 1500 Betrieben im August, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und die BAUA gemeinsam durchgeführt haben.
Jedes Unternehmen stehe vor der »Herausforderung, [seine] Beschäftigten vor CoViD-19-Infektionen zu schützen und gleichzeitig den Betrieb aufrecht zu erhalten«. Das erfolge durch unterschiedliche Aktivitäten. 83 Prozent der befragten Betriebe träfen Maßnahmen, um den Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten. 88 Prozent verbesserten die Handhygiene. Rund jeder dritte Betrieb baue Schutzscheiben ein, um Bereiche zu trennen. Jeder fünfte überprüfe seine Klima- und Lüftungsanlagen, allerdings haben nur 58 Prozent der Betriebe die Reinigungsintervalle für gemeinsam genutzte Räume und Arbeitsmittel verkürzt.
Der Haken an der Untersuchung: Es wurden lediglich Vertreter der Unternehmen gefragt, eine Prüfung unter Beteiligung der Belegschaften oder Gewerkschaften vor Ort erfolgte nicht. Auch Betriebsbegehungen fanden zur Datenermittlung nicht statt. Dabei verstoßen – unabhängig von Corona – Unternehmen häufig gegen bestehende Schutzbestimmungen. »Hohe Arbeitsbelastung macht krank«, berichtet die Hans-Böckler-Stiftung über eine Auswertung des DGB zum »Index Gute Arbeit« im Oktober. Von 6500 befragten Beschäftigten gaben 46 Prozent an, die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit von elf Stunden werde »zumindest gelegentlich unterschritten«. Mehrbelastung durch Personalknappheit bestätigen vier von fünf Beschäftigten. Auch Arbeitsverdichtung ist ein verbreitetes Übel: 57 Prozent geben an, dass ihre Arbeitslast im vergangenen Jahr gestiegen ist. Deutlich häufiger sind bei ihnen Erschöpfung oder Rückenschmerzen. Zwei Drittel der Beschäftigten berichten, dass es regelmäßig zu »Ausfällen oder Verkürzungen« der gesetzlich vorgeschriebenen Pausen komme. »Ein umfassender betrieblicher Arbeitsschutz tut not«, fordert die gewerkschaftliche Stiftung (www.boeckler.de).
Fehlende Kontrollen durch Arbeitsschutzbehörden wurden bei Corona-Ausbrüchen in der Fleischindustrie plötzlich ein öffentliches Thema – dabei ist die Arbeitsschutzkontrolle bundesweit seit Jahren in der Krise. Auf Anfrage der Linkspartei gab die Bundesregierung im Mai zu, dass in den letzten 15 Jahren »ein Personalabbau im Bereich der Arbeitsschutzaufsicht stattgefunden« hat. Die Überwachung im Arbeitsschutz befinde sich in einer »kritischen Gesamtsituation«.
Welche Bedeutung der Arbeitsschutz auf Regierungsebene hat, zeigt die Landesregierung Niedersachsens mit einer Entscheidung im November: In Krankenhäusern wird der 12-Stundentag per Verordnung eingeführt – ignoriert werden dabei Untersuchungen, die hohe Infektionszahlen des medizinisches Personals in China oder Italien auf längere Arbeitszeiten zurückführen.