Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit. Seit Wilhelm Tell ist dieser Satz sprichwörtliches Allgemeingut, dank Theaterbühne und Deutschunterricht. Manchmal jedoch nimmt das Alte einen stillen Abschied, der ganz allmählich daherkommt. Doch eines Morgens reiben wir uns urplötzlich die Augen und müssen erkennen, dass das Gewohnte verschwunden ist, versunken im River of No Return: das bisherige Umfeld, die bisherige Lebensweise, die bisherige Art, zu arbeiten, die Sitten und Gebräuche im Jahreskreis, die bisher gültigen Werte. Die Welt um uns herum ist eine andere geworden.
Ewald Frie, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, hat solch einen stillen Abschied protokolliert, und zwar am Beispiel seiner eigenen Familie: den Wandel der Landwirtschaft und der bäuerlichen Lebensweise in den letzten 70 Jahren. Dass der Historiker dabei im Individuellen das Allgemeine aufscheinen lässt, gibt dem Buch Ein Hof und elf Geschwister seinen besonderen Reiz.
Geboren wurde Frie 1962 als neuntes von elf Kindern einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland. Das älteste Kind, der spätere Hoferbe, kam 1944 zur Welt, das jüngste, ein Mädchen, 1969, fast eine Generation danach. Dazwischen liegen nicht nur 25 Jahre, sondern schier Welten, in denen in der Bundesrepublik die bäuerliche Landwirtschaft ein letztes Mal Pracht und Macht in altem Stil entfalten konnte, bevor sie endgültig versank.
Albert Einstein soll einmal gesagt haben, ich las es in einem SF-Roman, wir ähnelten Leuten in einem Boot ohne Ruder, das einen gewundenen Fluss hinabtreibt. Ringsum würden wir nur die Gegenwart wahrnehmen, sonst weiter nichts. Die Vergangenheit in den Kurven und Biegungen hinter uns vermöchten wir nicht mehr zu sehen. Aber sie sei dort vorhanden.
Um diese Vergangenheit wahrzunehmen, brauche es Historiker, die aufzeigen, »dass unsere Gegenwartslogik nicht die allgemeinverbindliche ist«, sagte Frie in einem Interview. Gingen wir ein oder zwei Generationen zurück, dann stießen wir auf ganz andere Logiken. Und wenn wir diese Logiken verstünden, würden wir überhaupt erst feststellen können, wie überraschend die Logiken sind, mit denen wir heute leben.
Frie blickt mit seiner professionellen Kompetenz als Historiker auf Geschwister und sich selbst und auf den einst prachtvollen Bauernhof der Eltern mit all den vielfach prämiierten Kühen und Rindern, mit seinen Schweinen und Hühnern. Er erzählt die gemeinsame Geschichte aus transkribierten Interviews, die er im Sommer 2020 geführt hat. Da alle Geschwister noch leben, hat er eine Rundreise zu ihnen unternommen, mit den Brüdern und Schwestern jeweils einen Tag verbracht und leitfadengestützte Interviews geführt. Im Buch hat er die Vornamen verändert: »So können sie nicht gegoogelt werden.«
»Meine Geschwister und ich erinnern uns zwar nicht im Modus von ›Früher war alles besser!‹. Aber unsere Erzählungen folgen auch einer Logik: ›Wie war das möglich?‹, fragen wir, oder: ›Wie wurde ich trotzdem Ich?‹ Doch die Logiken machen die Erzählungen nicht wertlos. Sie weisen hin auf den Wandel von Normen und Gewohnheiten. Und die verarbeiteten Geschehnisse, Momente des Arbeitens und des Außeralltäglichen, des Streits und der Versöhnung, weisen hin auf Lebenswelten, die auf- und untergegangen sind.«
Die Logik der 1950er und 1960er Jahre basierte auf Tradition, auf dem Überlieferten, das in die damalige Gegenwart aus vergangenen Generationen hineingewachsen war. Sie hatte Bestand bis zum Anbruch des Zeitalters der Traktoren, der Melkmaschinen, der Heuwender und der Mähmaschinen, Gerätschaften, die das bäuerliche Leben umkrempelten – bis die Bauern mit dem allgemeinen Wandel der ökonomischen und sozialen Verhältnisse dann auch ihre Macht, ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihr Ansehen auf dem Lande verloren. Die Bauernschaft stellte ab irgendwann nicht mehr wie selbstverständlich den Bürgermeister und bildete auch nicht mehr die Mehrheit im Gemeinderat.
Vom Hof Frie bis zum nächsten Hof waren es 150 Meter, bis zum übernächsten 300 Meter, bis zum Dorf mit der katholischen Kirche zwei Kilometer, bis zur nächsten Kleinstadt mit Jungenrealschule und Gymnasium 15 Kilometer, bis zur Kleinstadt mit der landwirtschaftlichen Realschule 20 Kilometer, und nach Münster, der Stadt mit der Landwirtschaftskammer, dem Zuchtviehmarkt, der Kreisverwaltung »und allen Schulformen und Geschäften, die wir uns überhaupt vorstellen konnten«, waren es 25 Kilometer. In die Städte fuhren Busse, allerdings sehr unregelmäßig.
Diese räumliche Situation bedeutete für die Frie-Kinder, »dass wir unter uns waren«. Nachbarskinder »waren so weit entfernt, dass wir sie nicht zufällig trafen«. Trotz der nur zwei Kilometer Entfernung war das Dorf weit weg. »Die meisten von uns nahmen es erst bei der Einschulung als Lebensraum wahr. Um ins Dorf zu fahren, musste es Gründe geben. Das Dorf war ein Ort der kleinen Leute, zu denen Bauernfamilien wie wir nicht zählten.«
Die elf Geschwister haben den Wandel erlebt und sich für das Buch erinnert, »den Wandel von Familie und Bauerngesellschaft, von Arbeit und Fest, von Katholizismus und Alltagsreligiosität, von Essen und Trinken, von Spiel und Schule«. Ebenso den Wandel der Rolle der Bäuerin hin zur Managerin der Hauswirtschaft und der Rolle der Töchter, die andere Berufe anstrebten und keinen Bauern mehr heiraten wollten.
Ich betrat das Buch wie ein Land, das ich gekannt habe, in ferner, ferner Vergangenheit. Die Parallelen waren zu offensichtlich. Auch ich habe die Abgeschiedenheit der dörflichen Lage gekannt, die fast unüberwindbaren räumlichen Entfernungen zu einer Zeit, als noch keine Busse fuhren und die Straßen ungeteert waren. Der Pflichtbesuch der evangelischen Kirche – wir waren die einzige protestantische Familie in dem katholischen Dorf – führte durch Feld und Wald und über einen Berg. Im Winter wurde er auf Skiern bewältigt. Auch die Katholiken hatten bis zu ihrer Kirche in einem Nachbarort drei Kilometer zurückzulegen. Wenn Verwandtenbesuche in nicht allzu ferne Ortschaften unternommen wurden, waren dies meistens Tagesausflüge zu Fuß, manchmal inklusive einer Übernachtung.
Die Entfernungen zum nächsten Ort, zu der Kleinstadt mit Realschule oder der Stadt mit dem Sitz der Kreisverwaltung oder erst recht zur Stadt mit dem Gymnasium vergrößerten sich wie bei Frie. Jahrelang stand ich um 5:30 Uhr auf, stieg auf mein Fahrrad, um bei Wind und Wetter, bei Nacht und Nebel und Schnee ganz allein – ich war anfangs der einzige Gymnasiast aus dem Dorf – zum sieben, acht Kilometer entfernten Bahnhof zu radeln. Von dort war es noch einmal eine halbstündige Bahnfahrt bis zur Gymnasialstadt, wo nach der Ankunft noch ein Fußweg auf mich wartete, so dass es bald 8 Uhr schlug, wenn ich im Klassenraum ankam. Und wenn die Fahrradkette abgesprungen war oder ein Reifen platt wurde und ich einen Zug später kam, hatte kein Lehrer Verständnis für den Fahrschüler, wie wir Auswärtige genannt wurden.
In unserem Dorf hatten die Bauern das Sagen. Kinder arbeiteten vor allem zur Erntezeit auf ihren Feldern, in ihren Scheunen, halfen beim Getreidedreschen. Dies alles für Naturalien. Frauen ebenfalls, manchmal auch als Mägde in der Hauswirtschaft. Ab und an setzte es für uns Kinder einen Peitschenhieb, zum Ansporn, wie es hieß. Aber wir durften auch auf Ackergäulen reiten oder hoch vom Heuwagen aus winken.
Doch allmählich veränderte sich auch bei uns die Welt. Die Männer und die jungen Burschen arbeiteten nicht mehr als Holzfäller in den Wäldern, verdingten sich auch nicht mehr in der Landwirtschaft oder zu Gelegenheitsarbeiten. Mit der neuen Buslinie, die die Dörfer verband und zu den Städten und Bahnhöfen führte, mit Motorrädern und den ersten Autos kam eine neue Mobilität auf. Bisher fast verschlossene Gegenden wurden müheloser erreicht, so die Bergwerke und die Kokshütte im Saarland oder der zehn Kilometer entfernte Truppenübungsplatz mit seinen vielfältigen Beschäftigungsmöglichkeiten. Oder Orte mit boomenden überregional tätigen Industrie- und Handwerksbetrieben. Fabriken und Autobauer weiteten auf der Suche nach Arbeitskräften ihr Einzugsgebiet aus und boten finanzielle Anreize, die den bisherigen dörflichen Horizont sprengten.
Mit dem Ausbau der Verwaltung auf Amts- und Kreisebene wurde auch der Öffentliche Dienst zu einem attraktiven Arbeitgeber, gern für junge Frauen in den Büros. Neue Bildungsangebote und finanzielle Förderungen kamen auch der dörflichen Jugend zugute, und längst war ich nicht mehr der einzige Gymnasiast aus der Gegend. Auf den Dörfern war inzwischen ebenfalls das Maschinenzeitalter angebrochen, dennoch war die Dominanz der Bauernschaft auch in meiner Heimat in den 1960er Jahren vorbei. Nach und nach gaben die örtlichen Bauern auf, sei es aus ökonomischen oder aus Altersgründen, sei es, weil sie keinen Erben oder keinen Nachfolger hatten. Schließlich hielten nur noch sogenannte Aussiedlerbetriebe außerhalb des Dorfes die bäuerliche Fahne hoch.
Allein der Katholizismus blieb eine Konstante, prägte weiterhin die Gemeinden mit seinen Prozessionen und Litaneien, mit seinen Geboten und Verboten und griff tief in das Leben der Menschen ein, zum Beispiel am 25. Juli 1968 mit Humanae Vitae, der Anti-Pillen-Enzyklika von Papst Paul VI. In steter Regelmäßigkeit erfolgten auch weiterhin die Aufrufe des für das Bistum zuständigen Bischofs und der katholischen Pastoren, CDU zu wählen.
Münsterland war halt überall. Das macht das Buch von Ewald Frie gleichermaßen spannend und aufschlussreich.
Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister – Der stille Abschied von der bäuerlichen Landwirtschaft, C.H. Beck, München 2023, 191 S., 23 €. – Aktuelle Aspekte zur Lage der Landwirtschaft finden sich in früheren Ossietzky-Ausgaben aus der Feder von Rüdiger Dammann: SOLAWI: Mit-Bauern gesucht (15/2021), Irrwege der EU-Agrarpolitik (10/2021), Nährende Geschäfte (8/2021), Bauernopfer: Kapitalismus tötet (5/2021).