Von der Thematik »Verlassenwerden« lebt eine Literatur- und Popmusikindustrie. Man fürchtet fast, wenn man das Cover betrachtet, in so etwas hineingezogen zu werden, denn dort prangen, gelb unterlegt, die Wörter: »ZÄRTLICH, TRAURIG, SCHMERZHAFT, SCHÖN«. Das mag so empfunden worden und damit richtig sein, aber solche Termini erinnern doch an Regale in der Bahnhofsbuchhandlung, an denen man lieber vorübergeht. Matthias Jüglers Roman »Die Verlassenen« aber ruft ganz andere Dimensionen auf, er zieht einen hinein in die Fragen, die Literatur immer wieder verhandelt und verhandeln muss: Wann ist Vergangenes vergangen? Wie viel Wahrheit ertragen wir? Ist Vergebung möglich? Diesen Diskurs führt das Buch in seiner Handlung überzeugend.
Erzählt wird eine »ostdeutsche« Geschichte, das Leben Johannes Wagners. Der einzelgängerische Junge wächst in Halle auf. Früh verliert er seine Mutter, und der Vater verschwindet auf einmal, spurlos und rätselhaft: »Das letzte Mal habe ich meinen Vater im Juni 1994 gesehen.« So hebt die Geschichte an, und alle Vermutungen, die das Fortgehen eines Mannes in der Lebensmitte erklären können, wie man sie aus Erfahrung und Literatur kennt, treffen nicht zu. Vielmehr, und das ist der bald aufkeimende Verdacht beim Lesen, sind Stasiverwicklungen im Spiel. Und damit kann, was in Halle begann, erst in Norwegen enden, und im Grunde ist auch gar nichts zu »Ende«. Denn Verlassene sind dann alle Romanfiguren. Das Gefühl der Wirkung von Vergangenheit, die Einsamkeit erzeugt, ist in diesem Roman überzeugend vermittelt worden.
Mehr von der Fabel zu verraten, wäre unfair der erzählten Geschichte gegenüber. Zumal mitten im Buch die Reproduktionen von »Erstinformationen«, »Beobachtungsberichte«, Fotos, also Stasidokumente auftauchen. Vielleicht ist es ein wenig altväterisch, wenn man sich fragt, ob Dokumente unbedingt in einen Text gehören, der als »Roman« apostrophiert wird. Es hätte seine Wirkung nicht verfehlt, diese in einem Erzähltext auch zu »erzählen«. Aber man soll nicht darüber klügeln, was geschrieben werden könnte, sondern was geschrieben ist.
Deswegen ein Wort zur Sprache des Buches. Sie ist wohltuend leise, vermeidet jeden Knalleffekt. Das ist ein unbedingter Gewinn. Freilich erweckt sie auch mitunter das Gefühl bewussten Unterkühlens, sodass wiederum manches seltsam unbeteiligt wirkt.
Die vom Klappentext behauptete Warmherzigkeit entsteht nicht aus sprachlicher Technik, sondern daraus, dass nicht verurteilt wird, dass nicht mit dem Finger aus dem Heute in die böse Vergangenheit gezeigt wird, sondern dass mitgeteilt wird, wie es nun einmal war und was daraus folgte. In dieser Hinsicht dürfte dies ein vorbildlicher Roman sein, der eine Haltung für künftige Auseinandersetzungen mit der »Vergangenheit DDR« vorführt.
Matthias Jügler: Die Verlassenen, Roman, Penguin Verlag, 2021, 170 S., 18 €.