Das Grundgesetz hat seit seinem Inkrafttreten am 23. Mai 1949 diverse Ergänzungen und Veränderungen erfahren, mehrfach verbunden mit einem Abbau von politischen Rechten. Das Strafrechtsänderungsgesetz »gegen Hochverrat, Staatsgefährdung und Landesverrat« vom 30. August 1951 war Ausdruck des damals weithin geschürten Antikommunismus. Die Gegner der Remilitarisierung der Bundesrepublik waren damals ebenfalls im Visier der westdeutschen Staatsführung unter Kanzler Adenauer. Am 19. September 1950 eröffnete der sogenannte Adenauer-Erlass die Strafverfolgung von Mitgliedern einer jeden als verfassungsfeindlich eingestuften Organisation. Hauptziel des Erlasses waren kommunistisch geprägte Vereinigungen. Anfang der 1950er Jahre wurde das Verteilen von Flugblättern gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik bestraft, FDJ und KPD wurden im Verlauf der Wiederbewaffnung Deutschlands verboten.
Max Reimann, der für die KPD im Parlamentarischen Rat am Grundgesetz mitgewirkt hatte, hatte bereits am 23. Mai 1949, im Verlauf der Zeremonie für das Inkrafttreten des Grundgesetzes, vorausgesehen: »Die Gesetzgeber aber werden im Verlaufe ihrer volksfeindlichen Politik ihr eigenes Gesetz brechen.«
Menschen, die des Kommunismus verdächtigt wurden, wurden spätestens ab der Bekanntgabe des KPD-Verbots am 17. August 1956 verfolgt und inhaftiert. Auf die Wehrpflicht folgten 13 Jahre später die Notstandsgesetze, kurz danach folgten Berufsverbote für Marxisten, Sozialisten und radikale Demokraten auf Basis des von Willy Brandt unterzeichneten sogenannten Radikalenerlasses; parallel erfuhr auch die Kriegsdienstverweigerung eine delegitimierende Stimmungsmache, die Franz Josef Degenhardt mit seinem berühmten Lied »Befragung nach Punkten« anprangerte.
Der Sozialdemokrat Gert Börnsen schrieb im August 1973 in der Zeitung Die Zeit: Hintergrund des »Extremistenerlasses« und der Berufsverbotspraxis seien Klassenauseinandersetzungen in der Bundesrepublik. »Die Bedrohung der spätkapitalistischen Ordnung ist nicht durch noch so extreme rechtsradikale und neonazistische Ideologen und deren Vertreter im Staatsdienst gegeben, sondern durch ›Linke‹. ‹(…) Die zunehmende öffentliche Kritik an der Konzentration und Zentralisation des Kapitals, an der Monopolisierung und Oligopolisierung der Wirtschaft und die politischen Auswirkungen dieser Kritik auf Staat und Gesellschaft haben die Rechtskräfte in der BRD nervös gemacht und verschärfte Maßnahmen des Staates gegen die Kritiker fordern lassen« (Die Zeit, 24.8.1973).
Auch nach der Aufnahme der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes ging die Aushöhlung demokratischer Rechte ungebrochen weiter. Unter dem Vorwand des Antiterrorkampfes werden demokratische Rechte wie der Schutz des Fernmeldegeheimnisses und weitere Schutzrechte immer massiver abgebaut. Eine Reihe von Bundesländern hat damit begonnen, das Demonstrations- und Versammlungsrecht einzuschränken. Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit stimmten in den sieben Jahrzehnten seit Inkrafttreten des Grundgesetzes nie überein.
Aktuell gerät das Versammlungsrecht immer konkreter in den Vordergrund der Bemühungen führender Kräfte von Staat und Politik, Widerstand zu kontrollieren, zu begrenzen und zu kriminalisieren. Versammlungsgesetze können dafür dienen, die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 2 GG demokratisch legitimiert einzuschränken, wenn sie unter Verweis auf Artikel 2 Abs. 2 den Schutz der körperlichen Unversehrtheit und des Rechts auf Leben höher gewichten als die Demonstrationsfreiheit. Seit 2006 lagerte der Bund das Versammlungsrecht in die Kompetenz der Bundesländer aus.
Zum Berliner Gesetzgebungsprozess schrieb der Republikanische Anwaltsverein: »Die Versammlungsfreiheit ist – neben der Meinungsfreiheit – eines der wichtigsten politischen Grundrechte, das für den politischen Meinungskampf, die gesellschaftliche Teilhabe und die Sicherstellung von demokratischen Grundsätzen von zentraler Bedeutung ist.«
Das erste Versammlungsrecht auf Länderebene führte schon 2008 zu einer Klage von Gewerkschaften beim Bundesverfassungsgericht, die teilweise von Erfolg gekrönt war: Das Bundesverfassungsgericht veröffentlichte am. 17. Februar 2009 dazu eine Pressemitteilung mit folgender Ausführung: »Dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung liegt eine Verfassungsbeschwerde mehrerer Landesverbände von Gewerkschaften und Parteien sowie anderer nichtstaatlicher Organisationen gegen annähernd das gesamte BayVersG zugrunde. Die Beschwerdeführer rügen einen versammlungsfeindlichen Charakter des Gesetzes als Ganzes sowie seiner Regelungen im Einzelnen. Die Vorschriften führten zu bürokratischer Gängelei und Kontrolle der Bürger, die von der Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit abschreckten. Ausdrücklich ausgenommen von den Angriffen sind allerdings die Vorschriften, die spezifischen Gefahren rechtsextremistischer Versammlungen begegnen sollen (Art. 15 Abs. 2 Nr. 1a und 2 BayVersG).«
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Bußgeldvorschriften bezüglich der Bekanntgabe-, Anzeige- und Mitteilungspflichten der Veranstalter, der Mitwirkungspflicht des Leiters und des Militanzverbots der Teilnehmer daraufhin einstweilen außer Kraft gesetzt. Auch werden die Befugnisse für polizeiliche Beobachtungs- und Dokumentationsmaßnahmen im Zusammenhang mit Versammlungen einstweilen modifizierend eingeschränkt. So sind insbesondere Übersichtsaufzeichnungen, bei denen eine Speicherung des Versammlungsgeschehens erfolgt, nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von der Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen.
Die gefährlichen Wirkungen der Einschränkung der Demokratie werden aktuell in Nordrhein-Westfalen deutlich, wo sich ein neues Versammlungsrecht im gesetzgeberischen Prozess befindet. Wenn NRW-Innenminister Reul das Gesetzespaket als Mittel gegen Umtriebe von rechts rechtfertigt, ist das zynisch. Undemokratische Schritte, hier der Landesregierung NRW, wie die Regelungen zum Militanzverbot oder zur Aufzeichnung von Versammlungen bahnen den Rechten den Weg, anstatt ihnen entschlossen entgegenzutreten.
Wer eine demokratische Versammlung anmeldet, dem werden fortan weitgehende Sicherheitsverpflichtungen auferlegt, es drohen sogar Freiheits- und Geldstrafen, Ordner und einfache Teilnehmer und Teilnehmerinnen müssen mit Konsequenzen rechnen, Video-Aufzeichnung der Versammlung erwecken den Eindruck eines Generalverdachts, und sie steigern die Gefahr der Willkür. Ein Gummiparagraph (§ 27) zum Beispiel regelt, dass die Polizei einschreiten kann, wenn sich jemand ihrem Eindruck nach aggressiv oder provokativ verhält. Rechte Polizei-Chat-Gruppen und andere bedenkliche Strukturen in einigen Polizeibehörden offenbaren, welche Gefahr hier im Raum steht.
- 7 des Gesetzespakets sieht vor, dass niemand eine nicht verbotene Versammlung stören darf. Dieses Störungsverbot führt dazu, dass Rechte auf öffentlichen Versammlungen die Demokratie verhöhnen können und demokratische Gegenkundgebungen kriminalisiert werden.
- 18 besagt unter dem Stichwort »Militanzverbot«, es »ist verboten, eine (…) Versammlung unter freiem (…) Himmel zu veranstalten, zu leiten oder an ihr teilzunehmen, wenn diese infolge des äußeren Erscheinungsbildes 1. durch das Tragen von (…) uniformähnlichen Kleidungsstücken, 2. durch ein paramilitärisches Auftreten oder 3. in vergleichbarer Weise (…) einschüchternd wirkt«. Auch hier ist ein enormer Ermessensspielraum für Sicherheitskräfte gegeben. Als uniform-ähnlich können auch einheitliche Streik-T-Shirts von Gewerkschaftlern gelten.
Wir wissen, dass der Schoß der rechten Gefahr immer noch fruchtbar ist, und sagen zu derartigen Gesetzes-Neuerungen: Wehret den Anfängen! Der Widerstand gegen solche Entwicklungen steckt noch in den Kinderschuhen. Die Gewerkschaften spielen bei der Mobilisierung eine zentrale Rolle, da beispielsweise auch Streik-Aktionen leicht ebenfalls durch gesetzlich beschlossene Repression behindert und kriminalisiert werden können, indem Sicherheitsbehörden etwa die Verdi-Westen von Gewerkschaftlern als uniformähnliche Bekleidung »einschätzen«.
Demokratische Initiativen der Zivilgesellschaft verteidigen das Versammlungsrecht unter #VersGNRWstoppen, um weiterhin zu demokratischem Engagement zu ermutigen.
RA Jasper Prigge fasst auf seiner Website zusammen: »Der Gesetzesentwurf ist offenbar von dem Ziel getragen, Versammlungen einzuschränken. (…) Der Staat täte besser daran, die Wahrnehmung von Grundrechten zu fördern und es Menschen so einfach wie möglich zu machen, sich zu versammeln. Denn die Versammlungsfreiheit ist in einer Demokratie ein hohes Gut. Sie ermöglicht es, unmittelbaren Protest auf die Straße zu tragen. (…) Es wird eine Zeit kommen, da wird es wieder möglich sein, mit vielen Menschen gemeinsam zu demonstrieren. Dieser Gesetzesentwurf will dies erschweren – das sollten wir nicht zulassen.«