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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Verquer-Denker

Die Oster­mär­sche offen­bar­ten erneut den lan­gen Atem der Frie­dens­be­we­gung, die schon dadurch ihre öffent­li­che Auf­merk­sam­keit bis in die Main­stream-Nach­rich­ten hin­ein erfährt, dass sie die­se Akti­ons­form seit über sechs Jahr­zehn­ten in vie­len Städ­ten bun­des­weit durch­führt. Zugleich offen­bar­ten die aus­führ­li­chen Medi­en­be­rich­te über die Quer­den­ker-Aktio­nen, die eben­falls an Ostern durch­ge­führt wur­den, einer­seits und die ver­gleichs­wei­se spär­li­chen Nach­rich­ten über die Oster­mär­sche ande­rer­seits, dass die Anlie­gen der Frie­dens­be­we­gung einem gro­ßen Teil der trans­at­lan­tisch aus­ge­rich­te­ten Main­stream-Medi­en ein Dorn im Auge sind.

Ange­sichts der aktu­el­len Pla­nun­gen der Mili­tärs, die völ­lig neu­ar­ti­ge Atom­waf­fen ent­wickeln und so die Schwel­le zum Atom­krieg absen­ken, sowie ange­sichts der EU-Mili­ta­ri­sie­rung in die Rich­tung von Kampf­droh­nen, die die Gren­zen zwi­schen Krieg und Frie­den ver­wi­schen (vgl. auch: Ossietzky Heft 1/​21 »Deutsch­land rüstet auf«, Heft 5/​21 »Glo­ba­ler Waf­fen-Wahn«), ist die Beharr­lich­keit der Oster­marsch­be­we­gung wei­ter­hin drin­gend geboten.

In der welt- und innen­po­li­ti­schen Lage ist es für die Mei­nungs­ma­che hin­ter dem Nach­rich­ten­ma­nage­ment eine will­kom­me­ne Mög­lich­keit, von den mili­tä­risch-öko­lo­gi­schen Zukunfts­ge­fähr­dun­gen infol­ge der Nato-Poli­tik abzu­len­ken und die Öffent­lich­keit mit Berich­ten über wider­stän­di­ge Aktio­nen der soge­nann­ten Quer­den­ker in Atem zu halten.

Die »Querdenken«-Kritik an Prot­ago­ni­sten der Macht ist dar­über hin­aus ein will­kom­me­ner Andock-Punkt für Rech­te, die mit ihrer Eli­te-Kri­tik struk­tu­rel­le Ver­wer­fun­gen per­so­na­li­sie­ren. Ver­meint­li­che Ver­schwö­run­gen machen Kapi­ta­lis­mus­kri­tik obso­let. Marxist*innen und ande­re Lin­ke sehen nicht zuerst das Sym­ptom etwa in Form von Ein­schrän­kun­gen der Grund­rech­te. Son­dern sie len­ken den Blick auf Ursa­chen für die Defi­zi­te bei der Daseins­vor­sor­ge und der Grund­vor­sor­ge, für öko­lo­gi­sche Skan­da­le, uner­träg­li­che Brü­che im Bil­dungs-, Erzie­hungs- und Gesundheitssystem.

In der Zere­mo­nie zur Beschluss­fas­sung des Grund­ge­set­zes kün­dig­te der KPD-Ver­tre­ter im Par­la­men­ta­ri­schen Rat, Max Rei­mann, an, dass es erfor­der­lich sein wer­de, die Grund­rech­te gegen die zu ver­tei­di­gen, die sie beschlos­sen haben. Er wuss­te, dass Kapi­ta­lis­mus bedeu­tet, dass die Herr­schen­den mit auto­ri­tä­ren Maß­nah­men die Demo­kra­tie zu unter­gra­ben ver­su­chen wer­den, um die Kräf­te, die sich gegen ihre Vor­macht­stel­lung enga­gie­ren, zu schwä­chen. Das geschieht in Kri­sen und in sta­bi­le­ren Zei­ten auf unter­schied­li­che Wei­se. Aber die Rich­tung ist stets die glei­che: nach rechts. Wer sich dage­gen enga­gie­ren will, wird die Kri­tik nicht allein an einem iso­lier­ten Maß­nah­men­pa­ket der Regie­ren­den in Reak­ti­on auf eine welt­weit um sich grei­fen­de Infek­ti­on neu­en Typs, gegen die es noch kei­ne The­ra­pie gibt, fest­ma­chen. Son­dern er wird sich für eine Demo­kra­tie ein­set­zen, in der es kei­ne repres­si­ven Vor­macht-Funk­tio­nen einer herr­schen­den Klas­se gibt, die Sicher­heits­or­ga­ne zur Auf­recht­erhal­tung von Unge­rech­tig­keit missbraucht.

Das Argu­ment, »Quer­den­ken« ver­tei­di­ge die Frei­heit, ist nicht eman­zi­pa­to­risch be- und gegrün­det. Wer Frei­heit ganz im Sin­ne des (Neo-)Liberalismus als Frei­raum ver­steht und von Ver­ant­wor­tung trennt, der wird sie nicht errei­chen. Frei­heit wird erst durch Par­ti­zi­pa­ti­on und Soli­da­ri­tät nach­hal­tig und real.

Vie­le Kräf­te, die sich an der Ein­däm­mung der Infek­ti­ons­aus­brei­tung betei­li­gen, tun dies nicht als Unter­ta­nen, sie arbei­ten kei­ner Dik­ta­tur zu, weder gewollt noch unge­wollt, son­dern sie han­deln aus Ver­ant­wor­tung für das Gemein­wohl. Und sie wis­sen, es wird die Zeit kom­men, wenn die pan­de­mi­sche Lage zurück­geht, in der es um das Zurück­kämp­fen und um den Aus­bau der poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und sozia­len Men­schen­rech­te geht. Auch mir erging es so, wie Gabrie­le Gil­len, die in ihrem »Coro­na-Blues« in Ossietzky 7/​21 schrieb: »In mei­nem Leben habe ich schon über vie­le The­men gestrit­ten – mit Kol­le­gen (…) in poli­ti­schen Grup­pen (…). Über Atom­po­li­tik oder die Aus­höh­lung des Asyl­rechts (…), die Aus­beu­tung (…), die Abschaf­fung der Wür­de (…), die Rol­le der Medi­en (…), wir haben argu­men­tiert und auch gekämpft (…).«

Es ist in Zei­ten der Pan­de­mie kei­ne rein indi­vi­du­el­le Ent­schei­dung, ob ich – etwa auf einer Demon­stra­ti­on in Stutt­gart, Ber­lin oder anders­wo – ande­re an die Hand neh­me und dadurch den gebo­te­nen Abstand unter­schrei­te. In einer Pan­de­mie kön­nen sol­che Hand­lun­gen nach ernst­zu­neh­men­den Infor­ma­tio­nen sowohl aus dem demo­kra­tisch-alter­na­ti­ven als auch dem medi­zi­nisch geschul­ten Spek­trum eine Gefahr für ande­re dar­stel­len. Die Tat­sa­che aus­zu­blen­den, dass so ver­dien­te Orga­ni­sa­tio­nen wie die Inter­na­tio­na­len Ärz­te zur Ver­hü­tung des Atom­krie­ges und das Not­ärz­te-Komi­tee Cap Ana­mur Coro­na als rea­le Gefahr ein­stu­fen, ist wis­sen­schaft­lich unhaltbar.

Die Pan­de­mie als Bedro­hung ein­zu­stu­fen, ist – auch wenn man der offi­zi­el­len und medi­al gestütz­ten »Coro­na-Poli­tik« damit grund­sätz­lich zustimmt – kei­nes­wegs Aus­druck eines auto­ri­tä­ren Cha­rak­ters. Vie­le links-alter­na­tiv enga­gier­te Mit­men­schen haben sich in wider­stän­di­gem Enga­ge­ment oft genug alles ande­re als unter­tä­nig ver­hal­ten. Das gilt bei­spiels­wei­se für Betrof­fe­ne von den Berufs­ver­bo­ten gegen soge­nann­te »Radi­ka­le« oder für Antifaschist*innen, die von Neo­na­zis bedroht wer­den, es gilt glei­cher­ma­ßen für Ende-Gelän­de-Akti­ve und ande­re Akteu­re zivi­len Unge­hor­sams, die sich mit Poli­zei­ge­walt kon­fron­tiert sahen und sehen.

Wer Coro­na als nicht gefähr­li­cher als die Grip­pe ein­stuft, der kann in die­sem Zusam­men­hang auch kei­ne anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Kri­tik am Imp­fe­go­is­mus der rei­che­ren Staa­ten auf Kosten der ärme­ren Welt­re­gio­nen üben, er kann auch schwer­lich gegen die kapi­ta­li­sti­sche Aus­rich­tung des Patent­rechts zugun­sten von Kon­zer­nen auf Kosten der Men­schen pro­te­stie­ren. Dass Phar­ma-Kon­zer­ne dar­auf aus sind, Pro­fit aus einer Impf-Kam­pa­gne zu schla­gen, stellt die Nor­ma­li­tät des Kapi­ta­lis­mus dar. Das System Kapi­ta­lis­mus funk­tio­niert weder nach sozia­len noch nach öko­lo­gi­schen Kriterien.

Die Kri­tik an den soge­nann­ten »Quer­den­kern« bedeu­tet mit­nich­ten, die Coro­na-Maß­nah­men der Bun­des­kanz­le­rin und der Mini­ster­prä­si­den­ten­kon­fe­renz gut zu hei­ßen. Die­se Kon­fe­renz ist kein Ver­fas­sungs­or­gan, son­dern sie wur­de im Ver­lauf der Pan­de­mie instal­liert, um Maß­nah­men auf Län­der­ebe­ne abzu­stim­men. Hier offen­bart sich ein unde­mo­kra­ti­scher Umgang mit dem Sou­ve­rän und sei­ner Ver­tre­tung, dem Bun­des­tag. Wenn das nicht Gegen­stand des Pro­te­stes wird, ler­nen die Herr­schen­den, was sie in Not­stands-Situa­tio­nen machen kön­nen. Des­halb ist die Demo­kra­tie mit ihren Insti­tu­tio­nen unbe­dingt zu unter­stüt­zen, sie darf nicht umgan­gen werden.

Gesund­heits­po­li­tisch ist es pro­ble­ma­tisch, wenn Kran­ken­häu­ser ander­wei­tig erkrank­te Men­schen nicht behan­deln, damit sie Coro­na-Infi­zier­ten hel­fen kön­nen. Bil­dungs- und gesell­schafts­po­li­tisch ist es inak­zep­ta­bel, wenn Kin­der und Jugend­li­che in vier Wän­de gesperrt wer­den, um Regeln nach dem Rasen­mä­her-Prin­zip durch­zu­set­zen, statt fle­xi­ble Lösun­gen der Infek­ti­ons-Ein­däm­mung mit Tests und sta­bi­len Klein­grup­pen zu ver­su­chen. Genau­so pro­ble­ma­tisch ist es, wenn Betrie­be ohne kla­re Ein­däm­mungs­maß­nah­men am Lau­fen gehal­ten wer­den, aber Gastro­no­mie-Betrie­be trotz umsich­ti­ger Hygie­ne-Kon­zep­te geschlos­sen blei­ben müs­sen, wenn Ein­kaufs­tem­pel zumin­dest teil­wei­se für den Kon­sum zugäng­lich blei­ben, wäh­rend gro­ße Thea­ter nicht ein­mal mit redu­zier­ter Zuschau­er­zahl und einem Hygie­ne-Kon­zept öff­nen dür­fen. Alle inkon­si­sten­ten Beschlüs­se sind dann Was­ser auf die Müh­len der Gegen-alles-Fundamentalisten.

Viel könn­te im Sin­ne der Men­schen gere­gelt wer­den, wenn nicht Mil­li­ar­den durch Steu­er­ver­mei­dung und durch Begün­sti­gung (Super-)Reicher sowie durch die hor­ren­den Aus­ga­ben für den Mili­tär­sek­tor der Bevöl­ke­rung ent­zo­gen wür­den. Mit die­sen Mil­li­ar­den­sum­men lie­ßen sich Schu­len, Erzie­hungs- und Bil­dungs­ein­rich­tun­gen auch für klei­ne Grup­pen bezah­len, eben­so eine Gesund­heits­po­li­tik, die ihren Namen ver­dient. Die Leistungsträger*innen in soge­nann­ten system­re­le­van­ten Beru­fen könn­ten so gut bezahlt wer­den, dass in den Beru­fen kein Beschäf­ti­gungs­not­stand zu bekla­gen wäre.

Die Coro­na-Kri­se hat ein paar Super­rei­chen auf Kosten der Mehr­heit der Mensch­heit zu noch mehr Reich­tum ver­hol­fen. Die sozia­le Kluft wird immer obszö­ner. Der Kapi­ta­lis­mus erweist sich als unfä­hig, den sozia­len Lebens­in­ter­es­sen der Men­schen gerecht zu wer­den. Die gegen­wär­ti­ge Kri­se darf die demo­kra­ti­schen Kräf­te nicht davon abhal­ten, sich gegen die Hoch­rü­stung des Kapi­tals und den Abbau der Demo­kra­tie sowie gegen den öko­lo­gi­schen Raub­bau des Kapi­ta­lis­mus zu weh­ren. Es geht um eine frie­dens-öko­lo­gi­sche Umwäl­zung aller Lebens­ver­hält­nis­se, so dass nicht mehr die Ren­di­te und die Macht der Weni­gen Ziel öko­no­mi­schen und gesell­schaft­li­chen Han­delns ist, son­dern das gute Leben aller im Mit­tel­punkt steht. Und die aktu­el­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen dür­fen nicht dazu füh­ren, dass sich die sozi­al-alter­na­ti­ven und lin­ken Kräf­te aus­ein­an­der­di­vi­die­ren (las­sen). Die gemein­sa­me Visi­on von einer zukunfts­fä­hi­gen Gesell­schaft legt den anti­ka­pi­ta­li­sti­schen Kräf­ten die Ver­ant­wor­tung auf, ihre Anstren­gun­gen auf die­se ihre gemein­sa­me Schnitt­men­ge auszurichten.