Die Ostermärsche offenbarten erneut den langen Atem der Friedensbewegung, die schon dadurch ihre öffentliche Aufmerksamkeit bis in die Mainstream-Nachrichten hinein erfährt, dass sie diese Aktionsform seit über sechs Jahrzehnten in vielen Städten bundesweit durchführt. Zugleich offenbarten die ausführlichen Medienberichte über die Querdenker-Aktionen, die ebenfalls an Ostern durchgeführt wurden, einerseits und die vergleichsweise spärlichen Nachrichten über die Ostermärsche andererseits, dass die Anliegen der Friedensbewegung einem großen Teil der transatlantisch ausgerichteten Mainstream-Medien ein Dorn im Auge sind.
Angesichts der aktuellen Planungen der Militärs, die völlig neuartige Atomwaffen entwickeln und so die Schwelle zum Atomkrieg absenken, sowie angesichts der EU-Militarisierung in die Richtung von Kampfdrohnen, die die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischen (vgl. auch: Ossietzky Heft 1/21 »Deutschland rüstet auf«, Heft 5/21 »Globaler Waffen-Wahn«), ist die Beharrlichkeit der Ostermarschbewegung weiterhin dringend geboten.
In der welt- und innenpolitischen Lage ist es für die Meinungsmache hinter dem Nachrichtenmanagement eine willkommene Möglichkeit, von den militärisch-ökologischen Zukunftsgefährdungen infolge der Nato-Politik abzulenken und die Öffentlichkeit mit Berichten über widerständige Aktionen der sogenannten Querdenker in Atem zu halten.
Die »Querdenken«-Kritik an Protagonisten der Macht ist darüber hinaus ein willkommener Andock-Punkt für Rechte, die mit ihrer Elite-Kritik strukturelle Verwerfungen personalisieren. Vermeintliche Verschwörungen machen Kapitalismuskritik obsolet. Marxist*innen und andere Linke sehen nicht zuerst das Symptom etwa in Form von Einschränkungen der Grundrechte. Sondern sie lenken den Blick auf Ursachen für die Defizite bei der Daseinsvorsorge und der Grundvorsorge, für ökologische Skandale, unerträgliche Brüche im Bildungs-, Erziehungs- und Gesundheitssystem.
In der Zeremonie zur Beschlussfassung des Grundgesetzes kündigte der KPD-Vertreter im Parlamentarischen Rat, Max Reimann, an, dass es erforderlich sein werde, die Grundrechte gegen die zu verteidigen, die sie beschlossen haben. Er wusste, dass Kapitalismus bedeutet, dass die Herrschenden mit autoritären Maßnahmen die Demokratie zu untergraben versuchen werden, um die Kräfte, die sich gegen ihre Vormachtstellung engagieren, zu schwächen. Das geschieht in Krisen und in stabileren Zeiten auf unterschiedliche Weise. Aber die Richtung ist stets die gleiche: nach rechts. Wer sich dagegen engagieren will, wird die Kritik nicht allein an einem isolierten Maßnahmenpaket der Regierenden in Reaktion auf eine weltweit um sich greifende Infektion neuen Typs, gegen die es noch keine Therapie gibt, festmachen. Sondern er wird sich für eine Demokratie einsetzen, in der es keine repressiven Vormacht-Funktionen einer herrschenden Klasse gibt, die Sicherheitsorgane zur Aufrechterhaltung von Ungerechtigkeit missbraucht.
Das Argument, »Querdenken« verteidige die Freiheit, ist nicht emanzipatorisch be- und gegründet. Wer Freiheit ganz im Sinne des (Neo-)Liberalismus als Freiraum versteht und von Verantwortung trennt, der wird sie nicht erreichen. Freiheit wird erst durch Partizipation und Solidarität nachhaltig und real.
Viele Kräfte, die sich an der Eindämmung der Infektionsausbreitung beteiligen, tun dies nicht als Untertanen, sie arbeiten keiner Diktatur zu, weder gewollt noch ungewollt, sondern sie handeln aus Verantwortung für das Gemeinwohl. Und sie wissen, es wird die Zeit kommen, wenn die pandemische Lage zurückgeht, in der es um das Zurückkämpfen und um den Ausbau der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte geht. Auch mir erging es so, wie Gabriele Gillen, die in ihrem »Corona-Blues« in Ossietzky 7/21 schrieb: »In meinem Leben habe ich schon über viele Themen gestritten – mit Kollegen (…) in politischen Gruppen (…). Über Atompolitik oder die Aushöhlung des Asylrechts (…), die Ausbeutung (…), die Abschaffung der Würde (…), die Rolle der Medien (…), wir haben argumentiert und auch gekämpft (…).«
Es ist in Zeiten der Pandemie keine rein individuelle Entscheidung, ob ich – etwa auf einer Demonstration in Stuttgart, Berlin oder anderswo – andere an die Hand nehme und dadurch den gebotenen Abstand unterschreite. In einer Pandemie können solche Handlungen nach ernstzunehmenden Informationen sowohl aus dem demokratisch-alternativen als auch dem medizinisch geschulten Spektrum eine Gefahr für andere darstellen. Die Tatsache auszublenden, dass so verdiente Organisationen wie die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges und das Notärzte-Komitee Cap Anamur Corona als reale Gefahr einstufen, ist wissenschaftlich unhaltbar.
Die Pandemie als Bedrohung einzustufen, ist – auch wenn man der offiziellen und medial gestützten »Corona-Politik« damit grundsätzlich zustimmt – keineswegs Ausdruck eines autoritären Charakters. Viele links-alternativ engagierte Mitmenschen haben sich in widerständigem Engagement oft genug alles andere als untertänig verhalten. Das gilt beispielsweise für Betroffene von den Berufsverboten gegen sogenannte »Radikale« oder für Antifaschist*innen, die von Neonazis bedroht werden, es gilt gleichermaßen für Ende-Gelände-Aktive und andere Akteure zivilen Ungehorsams, die sich mit Polizeigewalt konfrontiert sahen und sehen.
Wer Corona als nicht gefährlicher als die Grippe einstuft, der kann in diesem Zusammenhang auch keine antikapitalistische Kritik am Impfegoismus der reicheren Staaten auf Kosten der ärmeren Weltregionen üben, er kann auch schwerlich gegen die kapitalistische Ausrichtung des Patentrechts zugunsten von Konzernen auf Kosten der Menschen protestieren. Dass Pharma-Konzerne darauf aus sind, Profit aus einer Impf-Kampagne zu schlagen, stellt die Normalität des Kapitalismus dar. Das System Kapitalismus funktioniert weder nach sozialen noch nach ökologischen Kriterien.
Die Kritik an den sogenannten »Querdenkern« bedeutet mitnichten, die Corona-Maßnahmen der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidentenkonferenz gut zu heißen. Diese Konferenz ist kein Verfassungsorgan, sondern sie wurde im Verlauf der Pandemie installiert, um Maßnahmen auf Länderebene abzustimmen. Hier offenbart sich ein undemokratischer Umgang mit dem Souverän und seiner Vertretung, dem Bundestag. Wenn das nicht Gegenstand des Protestes wird, lernen die Herrschenden, was sie in Notstands-Situationen machen können. Deshalb ist die Demokratie mit ihren Institutionen unbedingt zu unterstützen, sie darf nicht umgangen werden.
Gesundheitspolitisch ist es problematisch, wenn Krankenhäuser anderweitig erkrankte Menschen nicht behandeln, damit sie Corona-Infizierten helfen können. Bildungs- und gesellschaftspolitisch ist es inakzeptabel, wenn Kinder und Jugendliche in vier Wände gesperrt werden, um Regeln nach dem Rasenmäher-Prinzip durchzusetzen, statt flexible Lösungen der Infektions-Eindämmung mit Tests und stabilen Kleingruppen zu versuchen. Genauso problematisch ist es, wenn Betriebe ohne klare Eindämmungsmaßnahmen am Laufen gehalten werden, aber Gastronomie-Betriebe trotz umsichtiger Hygiene-Konzepte geschlossen bleiben müssen, wenn Einkaufstempel zumindest teilweise für den Konsum zugänglich bleiben, während große Theater nicht einmal mit reduzierter Zuschauerzahl und einem Hygiene-Konzept öffnen dürfen. Alle inkonsistenten Beschlüsse sind dann Wasser auf die Mühlen der Gegen-alles-Fundamentalisten.
Viel könnte im Sinne der Menschen geregelt werden, wenn nicht Milliarden durch Steuervermeidung und durch Begünstigung (Super-)Reicher sowie durch die horrenden Ausgaben für den Militärsektor der Bevölkerung entzogen würden. Mit diesen Milliardensummen ließen sich Schulen, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen auch für kleine Gruppen bezahlen, ebenso eine Gesundheitspolitik, die ihren Namen verdient. Die Leistungsträger*innen in sogenannten systemrelevanten Berufen könnten so gut bezahlt werden, dass in den Berufen kein Beschäftigungsnotstand zu beklagen wäre.
Die Corona-Krise hat ein paar Superreichen auf Kosten der Mehrheit der Menschheit zu noch mehr Reichtum verholfen. Die soziale Kluft wird immer obszöner. Der Kapitalismus erweist sich als unfähig, den sozialen Lebensinteressen der Menschen gerecht zu werden. Die gegenwärtige Krise darf die demokratischen Kräfte nicht davon abhalten, sich gegen die Hochrüstung des Kapitals und den Abbau der Demokratie sowie gegen den ökologischen Raubbau des Kapitalismus zu wehren. Es geht um eine friedens-ökologische Umwälzung aller Lebensverhältnisse, so dass nicht mehr die Rendite und die Macht der Wenigen Ziel ökonomischen und gesellschaftlichen Handelns ist, sondern das gute Leben aller im Mittelpunkt steht. Und die aktuellen Auseinandersetzungen dürfen nicht dazu führen, dass sich die sozial-alternativen und linken Kräfte auseinanderdividieren (lassen). Die gemeinsame Vision von einer zukunftsfähigen Gesellschaft legt den antikapitalistischen Kräften die Verantwortung auf, ihre Anstrengungen auf diese ihre gemeinsame Schnittmenge auszurichten.