»Vernachlässigt« ist ein zu schwacher Ausdruck für den Vorgang, den die tonangebenden Medien bedienen: die Nichtbeachtung der Literatur der DDR, vor allem der Werke, die DDR-Autoren nach der Wende geschrieben haben. Rüdiger Bernhardt ist der Anwalt dieser Schriftsteller und ihrer Literatur. Vor allem in der Wochenzeitung Unsere Zeit nahm er sich in Würdigungen und Kritiken ihrer an und schuf ein Kompendium, das professionell Auskunft über meist verschwiegene Leistungen gibt. Günter Görlich, Helmut Sakowski, Benito Wogatzki, Hermann Kant, Christoph Hein, Volker Braun, Erik Neutsch, Armin Stolper, Rudi Strahl und viele andere – sie alle haben nach 1989 weitergeschrieben, manchmal in kleineren Verlagen, aber sie haben sich nicht unterkriegen lassen und »ihrs« gesagt.
Wie Rüdiger Bernhardt, der direkt und ohne Kompromisse an den Zeitgeist Leistungen nennt und ein breites Literaturkonzept mit großem humanistischem Anliegen verteidigt. Das gilt auch für die Bewegung des »Bitterfelder Weges«, die keinesfalls nur verordnet und schnell erledigt existierte. Bernhardt beschreibt die Arbeit und Leistungen der Zirkel »schreibender Arbeiter« und würdigt Bücher und Schriftsteller, die »Bitterfeld« verpflichtet sind. Das alles mit großer Kenntnis und Faktenreichtum. Da kann es nicht verwundern, wenn er sich einige Versuche jüngster literaturhistorischer Deutung »zur Brust« nimmt und ihnen Einseitigkeit oder mangelnde Kenntnis nachweist. Der Literaturprofessor, der gerade achtzig geworden ist, ist in seinen Texten jung, kühn und trotzig.
Rüdiger Bernhardt: »Essay & Kritik. Literatur im Osten Deutschlands nach 2000«, Edition Freiberg, 430 Seiten, 19,50 €