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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vermeer in Amsterdam

Die Kom­po­si­tio­nen des gro­ßen Mei­sters der nie­der­län­di­schen Male­rei des 17. Jahr­hun­derts, Johan­nes Ver­meer, und vor allem sei­ne genia­le Licht­füh­rung haben ihn zu einem der heu­te welt­weit bekann­te­sten Maler gemacht. Sei­ne Bil­der sind in ein mil­des, aber alles offen­ba­ren­des Licht getaucht, oder bes­ser: Sie wer­den von Licht durch­flu­tet. In unfehl­ba­rer Sicher­heit ver­mag er sei­ne Gestal­ten, einen Gegen­stand dem ande­ren, zuzu­ord­nen. Sei­ne Palet­te drückt sich in einer küh­len Farb­ska­la, den gedämpf­ten Gelb- und Blau­tö­nen, dem Schim­mer von Gold und Grau aus, das im Schwarz ver­an­kert ist. Und die Gemäl­de des Delf­ter Mei­sters sind von einer unbe­schreib­li­chen Stil­le, so dass dem Betrach­tet der Atem stockt.

Ver­meer soll zwi­schen 45 und 50 Wer­ke – inner­halb von 18 Jah­ren, von 1654 bis 1672, durch­schnitt­lich zwei Gemäl­de pro Jahr – geschaf­fen haben. Bis heu­te wur­den ihm 37 Wer­ke zuge­schrie­ben, von denen 24 signiert und 5 zusätz­lich datiert sind. Von den frü­hen Histo­ri­en­bil­dern über klei­ne­re Dar­stel­lun­gen von All­tags­sze­nen und expe­ri­men­tel­le Tro­nien (das sind Cha­rak­ter­stu­di­en von Men­schen mit auf­fäl­li­gen Gesichts­zü­gen und her­vor­ste­chen­der Klei­dung, wie sie in den Nie­der­lan­den wäh­rend des »Gol­de­nen Zeit­al­ters« beliebt waren) bis hin zu den spä­ten Alle­go­rien, die dann wie­der grö­ße­res For­mat haben. Das Rijks­mu­se­um in Amster­dam, das selbst vier bedeu­ten­de Wer­ke Ver­meers besitzt, zeigt jetzt dank groß­zü­gi­ger Leih­ga­ben aus den gro­ßen Muse­en in aller Welt mit wenig­stens 28 Wer­ken die bis­her größ­te Ver­meer-Aus­stel­lung, die jemals statt­ge­fun­den hat. Und der Ansturm ist so enorm, dass schon alle ver­füg­ba­ren Kar­ten aus­ver­kauft sind.

Das beein­drucken­de Gemäl­de »Bei der Kupp­le­rin« (1656) stellt die Ver­bin­dung zwi­schen den frü­hen Histo­ri­en­bil­dern und den klas­sisch zurück­hal­ten­den, licht­durch­flu­te­ten Inte­ri­eurs nach 1657 dar, für die Ver­meer berühmt gewor­den ist. Eine Gen­re­sze­ne, ein »Bor­dell­bild« bie­tet sich dem Betrach­ter: Der Frei­er in roter Jacke hat sei­ne Hand besitz­ergrei­fend auf den Busen des in Gelb geklei­de­ten Freu­den­mäd­chens gelegt, das ein Wein­glas in der Lin­ken hält, wäh­rend er mit der Rech­ten eine Mün­ze in ihre geöff­ne­te Hand drückt. Wach­sam wird die Zah­lung von der im Hin­ter­grund ste­hen­den, schwarz geklei­de­ten Alten, der »Kupp­le­rin«, ver­folgt. Als Ver­mitt­ler hat aber wohl der Musi­ker im histo­ri­sie­ren­den Kostüm fun­giert, der sich an den lin­ken Rand zurück­ge­zo­gen hat und der nun als ein­zi­ger in Blick­kon­takt zum Betrach­ter getre­ten ist. Mit dem Trink­ge­fäß in der Hand scheint er nach der erfolg­reich ver­lau­fe­nen Akti­on die Rol­le des »Erzäh­lers« über­nom­men zu haben. Ihm ist wohl mehr das Ver­gnü­gen am Reiz des Ver­bo­te­nen anzu­se­hen, als dass er vor Alko­hol, Betrug und Sit­ten­ver­fall war­nen will.

Aus Dres­den stammt Ver­meers berühm­tes Gemäl­de »Brief­le­sen­des Mäd­chen am offe­nen Fen­ster« (um 1657-1659), eines der rät­sel­haf­te­sten Bil­der des Mei­sters des nie­der­län­di­schen Barocks. Es ist das erste von sechs Gemäl­den, in denen sich der hol­län­di­sche Maler mit dem The­ma des Brief­le­sens oder Brief­schrei­bens aus­ein­an­der­setz­te. Ein Vor­hang auf der rech­ten Sei­te ver­deckt zu einem Drit­tel den eben­so hohen wie tie­fen Raum und scheint uns den Zugang zu dem Bild zu ver­weh­ren. Was in dem brief­le­sen­den Mäd­chen im stren­gen Pro­fil vor­geht, dringt nicht nach außen, voll­zieht sich nur in ihrem Innern. Dage­gen mag das offe­ne Fen­ster – zusam­men mit dem Brief – wohl den Wunsch der jun­gen Frau ver­an­schau­li­chen, aus der häus­li­chen Enge aus­zu­bre­chen und in Kon­takt mit der Außen­welt zu tre­ten. Rönt­gen­auf­nah­men haben an der Rück­wand des Zim­mers das Gemäl­de eines Cupi­dos ent­deckt, der auf die Mas­ken der Ver­stel­lung und Täu­schung tritt. Lie­be über­win­det Betrug und Lüge­rei – hier wird also die Bot­schaft der Lie­be verkündet.

»Häu­ser­an­sicht in Delft (Die klei­ne Stra­ße)« (um 1658) stellt schein­bar nur eine Stra­ßen­sze­ne dar: Zwei Frau­en sind mit häus­li­chen Arbei­ten beschäf­tigt, Kin­der spie­len unter der Haus­bank, aber wel­che Ruhe und wohl­ge­füg­te Form strah­len die mehr­stöcki­ge Haus­fas­sa­de – wir sehen sie in einer Ver­kür­zung, den­noch ist sie wirk­lich – und die angren­zen­den Gie­bel, der bewölk­te, Regen ankün­di­gen­de Him­mel aus. Das Drei­eck des wol­ki­gen Him­mels wird zu dem umge­kehr­ten Drei­eck des Stu­fen­gie­bels in Bezie­hung gesetzt, Es ist das Para­de­bei­spiel einer hol­län­di­schen Stadt­land­schaft und Alltagsszene.

»Die Dienst­magd mit Milch­krug« (1658/​59), auch als »Das Milch­mäd­chen« bezeich­net, zeigt eine Küchen­magd bei der Arbeit – nichts Unge­wöhn­li­ches, aber Ver­meer setzt hier das Licht all­um­fas­send als ver­bin­den­des Ele­ment in die Sze­ne ein. Es fällt durch ein Fen­ster auf der lin­ken Sei­te in den Raum und beleuch­tet die Frau, die sich mit ihren wei­chen Haut­tö­nen, dem Weiß der Hau­be und dem Gelb, Grün und Blau der Klei­dung pla­stisch von der ver­schat­te­ten Wand abhebt. Umge­kehrt geschieht dies auf der rech­ten Sei­te durch die dunk­le Schat­ten­kon­tur vor der lich­ten Wand. So kommt ein fas­zi­nie­ren­des Spiel zwi­schen Licht und Schat­ten zustan­de. Mit vie­len klei­nen – leuch­ten­den – Farb­punk­ten erweckt Ver­meer zudem die Illu­si­on von Lichtreflexen.

Sechs Jah­re nach dem »Brief­le­sen­den Mäd­chen« mal­te Ver­meer »Die Brief­le­se­rin in Blau« (1663). Wäh­rend die Lesen­de im Dresd­ner Früh­werk hin­ter einer zwei­fa­chen Bar­rie­re – Vor­hang und Tisch – optisch abge­schirmt ist, hat man hier unmit­tel­bar Zugang zum Pri­vat­be­reich der Brief­le­se­rin. Die Farb­ge­gen­sät­ze Blau und Gelb domi­nie­ren. Aber was dazwi­schen an Farb­tö­nen ein­ge­setzt wird – die Licht­quel­le selbst ist nicht zu sehen –, ver­wan­delt den Raum in etwas Unge­wöhn­li­ches, etwas, das sich von der Wirk­lich­keit abhebt. Eine neue Auf­fas­sung von Raum, Licht und Per­spek­ti­ve tritt uns ent­ge­gen. Ver­meers Inte­ri­eur-Sze­nen wan­deln sich zu illu­sio­ni­sti­schen Raum­ein­drücken, deren For­men und Figu­ren in Far­ben, Licht und Schat­ten auf­ge­löst wer­den. Glä­ser, Tel­ler, Fay­en­cen, Mobi­li­ar, Gewän­der, wis­sen­schaft­li­che wie Zei­chen-Instru­men­te, Glo­ben, Uhren sind in Ver­meers Bil­dern als signi­fi­kan­te Gegen­stän­de immer wie­der zu fin­den. Der Mei­ster aus Delft bril­lier­te in der Dar­stel­lung von Stoff­lich­keit, Mate­ria­li­en und ihren Lichtreflexen.

Cha­rak­te­ri­stisch für sei­ne Innen­räu­me: Das Tages­licht dringt zwar durch die geöff­ne­ten Fen­ster in sie hin­ein, aber nie wird ein Blick durch die­se Fen­ster in die Außen­welt gewährt. Ver­meer prä­sen­tiert eine abge­schie­de­ne Welt, die den Betrach­ter eigent­lich nicht nötig hat.

Anders ist das bei dem Tro­nie »Das Mäd­chen mit dem Per­len­ohr­ge­hän­ge« (1664-67), auch als »Mona Lisa des Nor­dens« bekannt gewor­den; von einem geheim­nis­vol­len Zau­ber umge­ben, ist es eines der popu­lär­sten Wer­ke Ver­meers. Das Mäd­chen – wer sie ist, ist unbe­kannt – trägt eine ocker­grü­ne Jacke, von der sich der wei­ße Kra­gen deut­lich absetzt, und einen ultra­ma­rin­blau­en Tur­ban mit gel­bem her­ab­fal­len­dem Tuch. Die schim­mern­de Haut ihres Gesichts wird in Licht- und Schat­ten­ebe­nen wie­der­ge­ge­ben. Ein trä­nen­för­mi­ger Per­len­ohr­ring, mit weni­gen Pin­sel­stri­chen ange­deu­tet, sticht aus der Schat­ten­zo­ne her­aus und fun­kelt im Licht. Mit seit­wärts gewen­de­tem Blick schaut die jun­ge Frau den Betrach­ter an, nicht koket­tie­rend, nicht fra­gend, son­dern ernst, über­le­gen wis­send. Es spricht mit dem Betrach­ter, doch was es sagt, bleibt ein Geheimnis.

Sei­ne Vor­lie­be für wohl­aus­ge­wo­ge­ne Flä­chen­dis­po­si­tio­nen, sein Ver­fah­ren, kom­ple­xe Struk­tu­ren auf weni­ge Ele­men­te zu redu­zie­ren (dabei spielt die Geo­me­trie eine wesent­li­che kom­po­si­to­ri­sche Rol­le), sei­ne Art der Licht­be­hand­lung, bei der fast schon Plein­air-Wir­kun­gen erreicht wer­den und die Schat­ten in far­bi­gem Schim­mer erschei­nen, über­haupt sei­ne ein­zig­ar­ti­ge Wei­se des Farb­auf­trags haben Ver­meer zu einer schon in sei­ner Zeit sin­gu­lä­ren Erschei­nung wer­den las­sen. Das eigent­li­che Geheim­nis aber, das wohl immer unge­löst blei­ben wird und doch immer wie­der von Neu­em bezau­bert, ist die Macht von Ver­meers unfehl­ba­rem Gespür für küh­le Far­ben, für Har­mo­nie, und sei­ne Fähig­keit, licht­durch­flu­te­te Räu­me zu schaf­fen. Die Rät­sel­haf­tig­keit sei­ner Bil­der – und in der Tat, jedes scheint bei aller Lapi­da­ri­tät ein Geheim­nis zu ber­gen – macht sie unvergänglich.

Johan­nes Ver­meer. Rijks­mu­se­um Amster­dam, Muse­umstra­at 1, tägl. 9-17 Uhr, bis 4. Juni. Die Aus­stel­lung ist defi­ni­tiv aus­ver­kauft. Alle Wer­ke Ver­meers kön­nen aber online erkun­det wer­den. Kata­log (Bel­ser Ver­lag), 59 €.