Im Dorf meiner Kindheit, Remkersleben in der Börde, läutete in den 1950er Jahren zu Anlässen, die dies geboten, nur eine Kirchenglocke. Deren Ton erschien mir unangenehm schrill. Eine Erzählung meiner Mutter war, dass die anderen Glocken für Kriegszwecke eingeschmolzen worden seien und nur diese übrig geblieben sei. Ich konnte mir »Einschmelzen« nicht vorstellen, auch nicht die Kriegszwecke.
Aber der Krieg war immer noch da: In den Gesprächen der Erwachsenen: der Russe, der Ami, der Tommy, der Zusammenbruch; in Magdeburg noch die Trümmerberge, der magenkrank aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Vater auf dem Küchentisch liegend, bei seiner »Rollkur«. Sein Erschrecken, als 1962 in der DDR die Wehrpflicht eingeführt wurde, er war fast fünfzig Jahre alt und fürchtete sich doch vor einer Einberufung. In der Schule wurde uns beigebracht, dass noch vor Magdeburg die heranrückende Nato gestoppt und zurückgejagt würde, um auf eigenem Territorium vernichtet zu werden. Auch eine Schnitzeljagd trage dazu bei, uns körperlich zu »ertüchtigen«. Die hinter dem Dorf zutage tretende Salzquelle hielten die Kinder für radioaktiv verseucht, denn überall war die Rede von Atomwaffenversuchen. Das schrille Läuten der Kirchenglocke war auch an der Salzquelle zu hören, und wir liefen nach Hause.
Ich bin nur einmal auf dem romanischen Turm von St. Michael gewesen, bis an die Glocke ließ uns die Pfarrerin nicht, weil sie für die Sicherheit ihrer Christenlehrekinder fürchtete. So weiß ich nicht, ob darauf, wie auf vielen Glocken, steht: »Verleih uns Frieden gnädiglich …« So übersetzte Martin Luther »Da pacem, Domine, in diebus nostris«, bei ihm: »zu unsern Zeiten«. Es läuten viele Glocken im Lande diese Botschaft.
Und es war trotzdem immer Krieg.
Und kaum war er aus, der Erste Weltkrieg etwa, wurden selbst im kleinen Bördedorf Manöver und das »Friescheiten« (Freischießen) abgehalten. Der nicht ganz zu Unrecht vergessene Schriftsteller Franz Herwig (1880-1931) schildert dies in »Mein Jugendland«. Höhepunkt des Manövers sei gewesen, wenn, unter den Klängen des »Hohenfriedberger Marsches«, der »General« hinter der Kapelle marschiert sei. Den stellte sein Onkel dar, der Kriegsveteran Andreas Rabethge. Das war mein Urgroßvater. Selbst meine dem Militärwesen abholde Mutter schwärmte noch im Alter, dass sie voller Stolz und »ganz erhoben« war, wenn beim Vorbeimarsch ihrem Opa salutiert wurde, und über seinem Grab sei eine Ehrensalve abgefeuert worden. Herwig versteigt sich gar zur Folgerung, dass diese Erlebnisse ihn für »einen Pazifisten verdorben« hätten. Damit nicht genug, beim »Friescheiten« gebe es nun sogar Maschinengewehre und Kanonen, und als Ehrengast werde er teilnehmen.
Es muss tief sitzen in uns, das militärische, dem Pazifismus feindliche Denken und Fühlen. Und seit der Krieg uns wieder ganz nahekommt und zudem von Russland begonnen wurde, darf das wieder heraus, und zwar laut und vernehmlich. Von Waffen und deren Lieferung ist die Rede, nicht davon, dass man Verhandlungen anstoßen, dass man vermitteln, dass man die Waffen zum Schweigen bringen müsse. Nein: selbst ein ehemaliger Pastor und Bundespräsident würde, wie er erklärte, zur Waffe greifen.
Das Lied »Verleih uns Frieden gnädiglich« ist sehr bekannt, mancher muss nicht einmal das Gesangbuch aufschlagen, um den kurzen Text singen zu können. In meinem alten, noch aus den 1950er Jahren stammenden Evangelischen Kirchengesangbuch (Ausgabe für die Kirchenprovinz Sachsen), hat das Lied noch eine zweite Strophe. Sie stammt von Johann Walter, der von 1496 bis 1570 lebte, Liedtexte schrieb und Gesangbücher herausgab. Diese Strophe findet man in den heutigen Kirchengesangbüchern nicht mehr, sie klingt deutlich nach Untertanengeist. Und doch lohnt es sich, einmal ihren Anfang zu betrachten: »Gib unserm Volke und aller Obrigkeit Fried und gut Regiment …« Regiment meint hier noch ganz im alten Sinne »Regierung«. Um eine Regierung, die vom Frieden spricht und ihn schaffen will und ihn hält, auch mit Worten, um die sollten wir bitten, wenn wir das Lied singen.
Die Erinnerungen Franz Herwigs habe ich gefunden in »Noch ein paar Geschichten … aus Remkersleben und Meyendorf« (S. 53 ff.) von Otto Jacob. Das Buch enthält keine Quellenangabe, es ist selbst ohne Verlagsangabe und Erscheinungsjahr.
Von Albrecht Franke erschien zuletzt »Eine Liebe zu Zeiten Ceauşescus«, Prosodia Verlag 2022.