Als einen »Glücksfall des großen Raumes«, so Bernd Wagner, dürfte er sein neues Buch mit 605 Seiten empfinden. Die gute Bindung des außergewöhnlichen Buches bei Faber & Faber erlaubt mir als Mitglied der Pirckheimer-Gesellschaft, also als Freund schöner Bücher, es leicht zu durchblättern, und zwar, was mancher nicht weiß, um die dauerhafte Schräglage des Buchblockes zu vermeiden, von hinten nach vorn. Schön, im Schriftspiegel der Flattersatz, die vielen kurzen und längeren Textabschnitte in der kraftvollen Schrift »Officina Serif«, oft mit Titeln in Versalien überschrieben. Diese Aufzeichnungen schrieb Bernd Wagner (geboren 1948 in Wurzen) seit 1976 bis Heiligabend 1989 und hat sie in zwei Teile gegliedert (bis 1985 in Ost-Berlin danach in West-Berlin) und »Verlassene Werke« benannt. Sind damit Werke gemeint, die der Schriftsteller verlassen hat, oder die verlassenen Werke ringsumher? Mit dem überfliegenden Blättern entdeckte ich das kurze Kapitel »Verlassene Werke« mit dem poetischen Bild von den Steinen an den Meeresküsten, die zwar in die See zurückgeworfen werden, die aber in der Hand lagen und einmal betrachtet, nicht mehr in die Anonymität zurückkönnen.
In Wagners Prosa wird eine reichhaltige Text- und Stilvielfalt von der sich über die Jahresgliederung hinweg fortsetzenden Erzählung miteinander verbunden, die »Kommentarebene«, am Rand mit vertikalen Linien versehen. Zwischen den Gegenpolen von Fantastischem und Wirklichem folgen die Aufzeichnungen einer fragilen, doch festen, einer improvisierte, doch andauernden Fabel mit dem Credo: den »lebendigen Kontakt mit Menschen« zu suchen. Bei vielen Schriftstellern, Künstlern und anderen Geistesgrößen und bei gestrandeten Menschen, denen er sich mit »Arbeitslosenhilfe und den mageren Honoraren« ähnlich fühlt. Sein Realismus »erweckt Menschen zu einem dauerhafteren Leben als es ihnen sonst vergönnt wäre«.
Einmal begab sich Wagner in eine Neurologische Anstalt, da half es, gegen die psychosomatischen Störungen mit anderen Patienten Skatspiel zu dreschen. Oftmals konnte Wagner nicht schlafen, da stand er in der Nacht auf, um seine Träume zu notieren und hielt zufrieden fest: »Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.« Schon 1973 schrieb er eine Erzählung (in: Das Treffen, 1976), wo er sicher schon bemerkte, wie sich die »Träume zu kleinen absurden Geschichten verdichteten«. Sie können sich auch zum politischen Bild steigern, wenn er auf der Magistrale der Stadt »über allem das Gesicht eines gealterten Mannes mit in Stein gehauenen Zügen (sah), der das Leben auf der Insel in seiner Hand hielt«. Durch die Vielzahl festgehaltener Träume mit den teils merkwürdig realen, teils außerordentlich fantastischen Handlungsbildern, die uns nach Sigmund Freud einen Königsweg zum Unbewussten eröffnen, bekommt sein Realismus eigenen Charakter. Zuweilen schreibt er mit automatischer Methode und fängt Sprachbilder gleichsam im durchrosteten Eimer.
Die Fülle der Texte erscheint in ihrer Knappheit und im plötzlichen Wechsel der Inhalte und Formen oft vereinzelt und folgen in loser, doch kunstvoller Struktur und auf verschiedenen Stilschichten, manchmal im Berliner und sächsischem Dialekt. Sein Humor bereitet genussvolles Vergnügen und besitzt beim Text »Der menschliche Zoo« kräftige Ironie, sonst schwingt Selbstironie immer mit. Erheiternd ist, wie Bernd Wagner von der Liebesmühe »auf der Eckbank im Internatszimmer« erzählt oder wie er mit dem polnischen Krzystof im besten Verständnis ein Gespräch mit wenigen russischen und englischen Wörtern über Fußball und Musik führt.
Geistvolle Sentenzen und Sprachbilder oder seine Freude, mit den Texten »Anti-Materie geschaffen zu haben«. Diesen zum Widerspruch reizenden Spruch korrigiert Wagner, als er später durch Adolf Endler auf den »uralten Adressaten des Ohres« stieß.
Er erzählt über Wohnungslesungen und über Lesungen im schlossähnlichen Gebäude des Aufbau-Verlages von Elke Erb, Brigitte Struzy, Hanns Löffler oder über die Bildung einer intimen Schriftstellergemeinschaft, die sich in Anlehnung und im Unterschied von der berühmten westdeutschen »Gruppe 47« witzigerweise »Gruppe 46« nannte.
Im Wanderschritt durcheilte Wagner Berlin, kommt von der Wolliner zur Friedrichstraße und hinaus in den Pankower Bürgerpark, und steigt hinter dem noch öden Schlossplatz die Stufen hinter dem gläsernen Palast der Republik hinab zur eingemauerten Spree, kommt von der Invalidenstraße zum dunklen Viertel, das sich parallel zur Grenze hinzieht und besonders gern zum Wannenbad in der Oderberger. In seinem Hinterhof in Weißensee trat aus einer Druckerei Untergrundliteratur den Weg ins politische Leben.
Immer wieder besuchte er Sarah Kirsch, Adolf Endler, Karl Mickel, besonders Richard Pietraß, mit dem das Auskommen sehr leicht war und mit dem er eine Harz-Wanderung unternahm. Aus erster Hand ist hier über die Zeitschrift MIKADO zu erfahren, über die Herausgeberschaft, Prosaist Wagner, Lyriker Uwe Kolbe und Dramatiker Lothar Trolle, und über die Künstler um Hans Scheib, die das Blatt künstlerisch ausstatteten. Wagners Buch ist ehrlich und bleibt auch bei kritischer Betrachtung fair, wie gegenüber Paul Wiens, der, nachdem seine Mentorin für den Schriftstellerverband, Sarah Kirsch, ausgereist war, »äußerst diskret« sein zweiter Mentor wurde.
Alles unterzieht er kritischer Reflexion, stößt immer wieder auf eine Sprache mit nationalistischen und rassistischen Wendungen.
Bevor Wagner den Ausreiseantrag stellte, besuchte er West-Berlin, wo eine Distanz zur westlichen Kultur aufbrach, die doch nicht seinen Schritt verhinderte. Denn Schilderungen zeigen, wie mit ihm (nach einem Stasibericht) »auf Grund der feindl. neg. Haltung, seiner vielfältigen Aktivitäten im polit. Untergrund« drangsalierend umgegangen wurde und zu seiner Schlussfolgerung führen, »diese Gesellschaft hat mir nichts mehr zu bieten: keine Aufgaben, keine produktiven Herausforderungen«. Vorbei der Gedanke, In einem besseren Land, »in einem Staat zu leben, gegen dessen Repressionen sich anzukämpfen lohnt, weil ihm letzten Endes doch die Zukunft gehörte«. Der letzte Anstoß war die kulturfeindliche Sprengung der drei Gasometer.
Als er mit Rita in West-Berlin eintraf, erlebt er den Verlust von Gemeinsamkeit und die Eloquenz, mit der Jürgen Fuchs ihm empfahl, seinen Verbesserungsvorschlag, ob man nicht aus dem Schloss in eine stillgelegte Fabrik ziehen solle, zurückzuhalten. Dagegen das freundschaftliche Zusammensein mit dem Maler Peter Herrmann, »der auch mit Pinsel und Stift zu erzählen verstand«. Des weiteren Trennungen von Frauen und die Wonnen mit ihnen und häufiges Alleinsein.
Gern hätte er an dem Umbruch im Osten teilgenommen. An dessen künftigen Erfolg zerstörten Demonstrationen über den Leipziger Ring seinen Zweifel. Bernd Wagner schrieb einen großen authentischen Beitrag zur Kulturgeschichte Berlins, deren historischer Chronologie er eine innere entgegensetzt.
Bernd Wagner: Verlassene Werke, Verlag Faber & Faber, Leipzig 2022, 608 S., Hardcover mit Lesebändchen und Schutzumschlag, 26 €.