Am Abend des 8. November 1939, um 21.20 Uhr, explodiert die Bombe: Mauern zerbersten, ein Teil der Decke stürzt ein. Schreie, Entsetzen, Panik. Sieben Menschen sterben unter den Trümmern, ein achter wird die Verletzungen nicht überleben. Über sechzig Personen sind teilweise schwer verletzt. Hitler, dem die Bombe galt, überlebt. Dreizehn Minuten vor der Detonation hatte er seine Rede in dem mit über 3 000 »alten Kämpfern« gefüllten Bürgerbräu-Saal in München beendet. Während die braunen Parteigenossen immer wieder in »Heil«-Rufe einstimmten, war ihr Führer vom Rednerpult gestiegen und hatte – ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit – den Saal verlassen, um noch am Abend einen Sonderzug nach Berlin zu erreichen. Hätte Hitler noch an seinem Rednerpult gestanden, er hätte den Anschlag nicht überlebt. Als ihn im Zug die Nachricht vom Bombenattentat erreicht, sagt er zu seinen Begleitern: »Dass ich den Bürgerbräukeller früher als sonst verlassen habe, ist mir eine Bestätigung, dass die Vorsehung mich mein Ziel erreichen lassen will.«
Die nationale Hatz nach dem Attentäter hat ein rasches Ende. Noch während Hitler seine Rede hielt, war ein schmächtiger Mann beim Versuch, die Grenze zur Schweiz illegal zu überschreiten, bei Konstanz festgenommen worden. Sein Name: Georg Elser, 36 Jahre alt, Schreinergeselle von der Ostalb. Die Zöllner finden bei ihm belastende Gegenstände: Drähte und Hülsen, ein Notizbuch mit Adressen von Sprengstoff-Fabrikanten. Doch der Mann schweigt. Die Beamten bringen Elser zur Gestapo. Die Verhöre werden härter. Es setzt auch Prügel. Vier Tage lang. Ohne Ergebnis. Am fünften Tag gesteht Elser. Er fragt seine Peiniger: »Was kriegt einer, der so etwas gemacht hat?«
Wer war dieser unscheinbare Handwerker? Ein Möchtegern-Märtyrer? Tatsächlich ist Georg Elser alles andere als ein idealistischer Spinner. Die Königsbronner kennen ihn als zurückhaltenden Einzelgänger. Er ist kein Parteimitglied. Politik interessiert ihn nicht. Aber er leidet an dem, was um ihn herum, unter dem Jubel seiner Landsleute, passiert.
Die württembergische Ostalb ist eine Hochburg des Pietismus. Und einer wie Elser, ein pedantisch-penibler Handwerker, will am liebsten sein eigener Herr sein. Ihm fehlt jede Voraussetzung dafür, sich an die nationale Aufbruchstimmung anzupassen. Sein Gerechtigkeitssinn, sein tief verwurzelter pietistischer Charakter geben ihm die Energie und die Ausdauer, von Herbst 1938 an über ein Jahr lang das Attentat zu planen und vorzubereiten. Eine schwierige Gewissensfrage war dem vorausgegangen: Dem Pietisten ist Gewalt zutiefst fremd. Elser entscheidet sich dennoch für den Anschlag. Er sieht keine andere Möglichkeit, das drohende Unheil zu stoppen. Ein Mann mit Eigensinn und Mut in einem Ozean von Opportunismus.
Er inspiziert in München den Bürgerbräukeller, fertigt Zeichnungen, besorgt Sprengstoff. In der Nacht zum 5. August 1939 beginnt er, an der Säule zu arbeiten, die seine Bombe verbergen soll. Unter dem Schein seiner Taschenlampe bricht er Stück für Stück des Mauerwerks heraus. Den Schutt wirft er in die Isar. Er arbeitet 35 Nächte. In der Nacht zum 6. November ist er fertig und fährt nach Konstanz.
Drei Wochen später, nach seiner Verhaftung, seinem Geständnis und weiteren Verhören in den Räumen des Berliner Reichssicherheitshauptamtes, wird Elser aus dem Gefängnis abgeholt und in das 80 Kilometer entfernte KZ Sachsenhausen gebracht. Der Plan der Nazis: In einem Schauprozess soll er nach dem Kriegsende als Zeuge gegen den britischen Geheimdienst vorgeführt werden. Als Werkzeug britischer Spione, die Hitler töten wollten. Als ein für die NS-Propaganda wichtiger Häftling genießt er Vorzugsbehandlung, wird aber völlig isoliert. Kein Brief erreicht ihn, eigene Briefe bleiben unbeantwortet.
Fünf Jahre später droht Deutschland die Niederlage im Krieg. Der Kronzeuge Georg Elser wird nicht mehr gebraucht. Ende 1944 wird er nach Dachau gebracht. Am 5. April 1945 erreicht ein Schnellbrief Himmlers den dortigen Lagerkommandanten. Darin heißt es knapp: »Bei einem der nächsten Terrorangriffe auf München bzw. die Umgebung von Dachau ist angeblich Elser verunglückt. Ich bitte zu diesem Zweck Elser in absolut unauffälliger Weise zu liquidieren.« Genauso wird verfahren. Am 9. April wird Elser rücklings von KZ-Wächtern erschossen.
In der Galerie deutscher Widerstandskämpfer führte Georg Elser bis vor wenigen Jahren ein Schattendasein. Anders als der vier Jahre ältere Graf von Stauffenberg eignete er sich nicht für die Rolle des staatlich verklärten Helden. Hier der gebildete Offizier, der zunächst den Verheißungen des NS-Regimes vertraut, engagiert mitgemacht hat und erst später umgekehrt ist, dann aber entschieden zur Tat schritt. Dort der zurückhaltende Schreinergeselle Elser, der bereits 1939, als Stauffenberg und Millionen andere Deutsche noch dem Führer zujubelten, als Schreinergeselle mit Volksschulabschluss den mörderischen Charakter des Regimes erkannte und den Entschluss zum Attentat fasste.
Keine Frage: Georg Elser war und ist eine Herausforderung für die deutsche Öffentlichkeit. Er machte deutlich, dass ein einfacher Mann aus dem Volke sich zu einer weltgeschichtlichen Tat aufraffen konnte. Er strafte all jene Lügen, die sich weiterhin einredeten, sie hätten dem Terror des NS-Staates nichts entgegensetzen können. Seine Tat beschämte viele Deutschen.
Wie aber kann die öffentliche Würdigung für einen solchen Mann aussehen? Wie das Erinnern? Gesellschaften erinnern sich der Vergangenheit nicht allein in Anerkennung des für sich Großen. Erinnerung bedarf einer sie tragenden Gruppe: der adelige, militärische, sozialdemokratische, der kommunistische oder kirchliche Widerstand wird von Adel, Militär, Partei oder Kirche im Gedächtnis gehalten. Wohin also mit Elser?
Elser erging es wie vielen anderen Frauen und Männer des Widerstands: Das politische Nachkriegs-Deutschland sorgte sich mehr um die Integration der NS-Täter als um die Rehabilitierung der Opfer. Schlimmer noch: Juristen, die schon dem NS-Regime treu zu Diensten waren, richteten wieder über Menschen, sprachen wieder Urteile.
So im Jahr 1955 am Berliner Landgericht im Rahmen eines Wiedergutmachungsverfahrens im Fall Maurice Bavaud. Die Geschichte des jungen Schweizers weist zahlreiche Parallelen zu Georg Elser auf: Im Oktober 1938 kauft der 22-jährige Maurice eine Pistole und reist nach Deutschland, um Hitler zu töten. Von Berlin fährt er nach München, wo er seinen Plan, Hitler während des Gedenkmarsches der SA zur Feldherrnhalle niederzustrecken, wegen des ungünstigen Schusswinkels aufgeben muss. Bavaud wird später in einem Zug ohne Fahrkarte aufgegriffen, verwickelt sich in Widersprüche, wird schließlich der Gestapo überstellt, die ihn verhört und ihm ein Geständnis abpresst; vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt, wird er am 14. Mai 1941 in Berlin-Plötzensee durch die Guillotine hingerichtet.
Bavaud findet nicht nur in der Erinnerung der Nachwelt nicht statt, er wird zehn Jahre nach Kriegsende von der Justiz des Landes, die ihn einst in den Tod beförderte, erneut verurteilt. Bavauds Familie hatte ein Wiederaufnahmeverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland beantragt. Es ging dabei auch um eine Wiedergutmachungs-Zahlung in Höhe von 40 000 Franken. Doch der hingerichtete Hitler-Attentäter wurde ein zweites Mal verurteilt: diesmal zu fünf Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrenverlust. Immerhin erging die Entscheidung »gerichtsgebührenfrei«. Man habe – so das Gericht – nicht anders entscheiden können, weil »das Leben Hitlers im Sinne der Vorschrift des Paragraphen 211 StGB in gleicher Weise als geschütztes Rechtsgut anzuerkennen war. Der Antrag auf Aufhebung des Todesurteils des Volksgerichtshofs vom 18.12.1939 wird zurückgewiesen.«
Erst in einem dritten Verfahren – 1956 – wurde das Todesurteil aus dem Jahr 1939 endlich aufgehoben und keine Freiheitsstrafe mehr ausgesprochen. Endlich überwies die Bundesrepublik Deutschland der Familie Bavaud 40 000 Schweizer Franken, die vorab bestätigen musste, dass damit »diese Affäre definitiv liquidiert sei«. Georg Elser – Maurice Bavaud: zwei Hitler-Attentäter, die ohne jegliche Unterstützung einer Verschwörer-Gruppe früher als andere wagten, »es« zu tun. Und mit ihren Leben bezahlten.
Beide Schicksale fanden lange Zeit kaum Eingang in die Geschichte des Hitler-Widerstands. Allein vierzig Jahre wurde in München über Elsers Tat gestritten, ehe sich die Stadtregierung zu einer Ehrung durchrang. Heute, mehr als siebzig Jahre nach seinem Attentatsversuch, ist Georg Elser endlich rehabilitiert: Mehr als fünfzig Straßen und Plätze und drei Schulen sind mittlerweile im ganz Deutschland nach ihm benannt; die Post legte sogar 2003 eine Georg-Elser-Sondermarke auf. Im Berliner Regierungsviertel steht am Spreeufer in der »Straße der Erinnerung« eine Elser-Büste, neben Thomas Mann, Edith Stein und Walter Rathenau. Und es gibt seit November 2011 eine siebzehn Meter hohe Skulptur inmitten des alten Regierungsbezirkes an der Wilhelmstraße, ein Stahlband mit Lichterkette, das Profil Elsers skizzierend. Die Silhouette, so wollen es Initiatoren um den Schriftsteller Rolf Hochhuth verstanden sehen, soll sich in der Nähe des einstigen Bunkers von Adolf Hitler »über den Ort der Täter erheben«.
Mittlerweile gibt es aber auch hörbar auch Kritik an der »unheimlichen Gedenkkultur des Georg Elser«. Die Kritiker stellen fest, Elser tauge als optimale Projektionsfläche für die nachgeholte Opposition gegen den Nationalsozialismus, weil er sich ideal als Vorbild für alle »zeitgeistigen Gut-Menschen« eigne. Die Rechtshistorikerin Angelika Nußberger, ehemalige Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, hat auf die Instrumentalisierung der Schicksale von Menschen hingewiesen, die in einem bestimmten historischen Kontext aus der Menge herausgetreten sind – und wie sich die rechtlichen und moralischen Bewertungen in der Nachbetrachtung verändern. Aus Attentätern und Vaterlandsverrätern werden Helden.
Das gilt auch für deutsche Widerstandskämpfer. Die Tatsache, dass aus heutiger Sicht die NS-Zeit mit Blick auf Angriffskriege, Rassenideologie und Holocaust eine barbarische Zeit war, macht es gewissermaßen einfach, alle Gegner des Systems als aufrechte, mutige Menschen zu identifizieren. Es sind ganz und gar unstrittige Helden. Wer denjenigen Respekt zollt, die gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat, gleich aus welchen Gründen, gekämpft haben, steht auf der Seite von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es sind »bequeme« Helden. An ihrer Ehrenhaftigkeit ändert das nichts.
Vom Autor erscheint in Kürze: WIDERSTREIT – Über Macht, Wahn und Widerstand, Nomen Verlag, 254 Seiten, 20 €.