Gut, dass der Deutsche Buchpreis 2020 einem Werk zugesprochen wurde, das sich mit zwei, den Jüngeren kaum bekannten historischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts befasst: der französischen Résistance und dem algerische Unabhängigkeitskrieg. Aber als Erzählung in Versform? Als Epos? Dass die Autorin Anne Weber es einer Frau, der 1923 in einem bretonischen Weiler geborenen Anne Beaumanoir, widmete, lässt sich als Wunsch nachholender Gerechtigkeit deuten. Waren Epen doch lange Zeit Männern vorbehalten.
Die heute 97-jährige Anne Beaumanoir ist wirklich eine Heldin und wäre es auch, wenn sie sich nur in einen der beiden Konflikte eingebracht hätte. Und keineswegs nebenbei war sie auch Mutter und eine anerkannte Neurophysiologin. Von ihr existiert eine Autobiografie, in der sie die Wurzel ihres Engagements auf die Lektüre von Malraux’ Romanen über die asiatische Revolution zurückführte. Sie hätte als junges Mädchen nicht erwarten können, »dass die Straßen von Rennes denen des Kantons der Eroberer glichen«. Und als Neurophysiologin sei sie überzeugt, »dass man mit sechzehn, siebzehn Jahren revoltieren und für die Revolution brennen m u s s«. Als junger Mensch wisse man nicht, dass Revolutionen auch Terror und Bürokratie hervorbringen. »Wer in diesem Alter nicht in irgendeiner Form revoltiert, riskiert, später eine affektive Behinderung zu entwickeln.«
Also stieß sie 1942 zur kommunistischen Résistance und verstieß mehrfach gegen die Konspirationsregeln: Unter anderem rettete sie eigenmächtig drei jüdische Kinder vor der Deportation. Eher Trotzkistin als moskautreue Genossin kam sie auch später immer wieder mit der Partei in Konflikt. Der 1955 erfolgte Bruch beruhte nicht nur auf Abscheu vor stalinistischen Machenschaften. Es missfiel ihr, dass die Kommunistische Partei Frankreichs (Parti communiste français – PCF) lange am französischen Algerien festhielt, weil sie eine baldige gemeinsame sozialistische Zukunft prognostizierte. Auf eine neue Volksfront hoffend, hatte die Partei noch 1956 für die vom sozialistischen Premier Guy Mollet vorgeschlagenen Sondervollmachten der Armee votiert, die Folter ermöglichten.
Inzwischen Ärztin und Mutter, engagierte sich Beaumanoir im Unterstützernetz der algerischen Befreiungsfront. Da sich der ebenfalls engagierte Ehemann bereiterklärte, für die Kinder zu sorgen, ging sie wieder in die Illegalität und wurde persönliche Assistentin des Leiters der Nationalen Befreiungsfront (Front de Libération Nationale – FLN) in Südfrankreich. Als solche wurde sie verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Weil sie schwanger war, wurde sie zur Geburt in häuslichen Arrest entlassen und konnte nach Tunis fliehen. Dort befand sich die algerische Exilregierung. Beaumanoir übernahm den Gesundheitsdienst, den Frantz Fanon für Kriegsflüchtlinge und bewaffnete FLN-Kräfte aufgebaut hatte.
In Frankreich noch als Terroristin ausgeschrieben, baute sie im unabhängigen Algerien dringend benötigte Ausbildungsstätten für medizinisches Personal auf. Nach dem Putsch von Houari Boumediène gegen Präsident Ahmed Ben Bella wurde ihr als Kommunist geltender Minister verhaftet. Beaumanoir, ebenfalls verfolgt, konnte in die Schweiz fliehen.
Im Epos, das ihre Berichte in freie Verse gießt, liest sich die Parallele zum Ursprung des Engagements so: »Wie lange soll das alles noch / auf diese öde, für ihren Geschmack viel zu / tatenlose Weise weitergehen? Halbherzig / fängt sie in Rennes ein Studium an, und zwar / der Medizin, während sie ganzherzig von einem / Schicksal träumt, von Opfern und von Heldentaten. […] Doch wann / wirds endlich ernst, warum vertraut ihr keiner / eine wichtige Mission an? Wann werden diese / Grünspanfarbenen, die vert-de-gris, wie die / deutschen Soldaten heißen, fortgejagt? Und / warum sieht es in Rennes’ Straßen nicht längst aus wie / in den revolutionsgeschüttelt-kantonesischen aus / dem Roman Die Eroberer. Les conquérants, schon / wieder von André Malraux? Der Gegner / ist nur nebenbei ein deutscher Nazi und im / Hauptberuf Imperial-, Kapital- und Nationalist. // Einstweilen gilt leider: abwarten und radfahren.«
Es versteht sich, dass ein Epos in gehobener Sprache daherkommt. Der Modernität halber dichtet Anne Weber manchmal auch lakonisch oder gar flapsig kokettierend. Aber hat Beaumanoirs Leben, das dem Lesepublikum schon in schlichter Sprache vorliegt, eine solche Verhübschung nötig? Zieht das nicht eine Verflachung der bereits komplexer beschriebenen Zusammenhänge nach sich?
Aus meiner Sicht entfalteten dichterische Epen über große Figuren ihren optimalen Sinn in der Zeit der Oralität und verloren ihn nach und nach, je mehr die Lesenden nach historischer Einordnung verlangten. Dafür liefern Autobiografien Teilmaterial auch dann, wenn AutobiografInnen wie Beaumanoir stark ihre subjektive Sicht einbringen. Belletristik über wichtige Personen – Bertolt Brecht ist ein prominentes Beispiel – sinkt leicht in Trivialität ab, je mehr sie subjektive und auch moralinsaure Akzente der Autoren enthalten, die sich oft als zeitgeistig entpuppen. Nicht von ungefähr zieht das Publikum mehr und mehr das Sachbuch vor.
Auch Anne Weber fühlt sich allzu intensiv in ihre Heldin ein. Bevor sich diese für Algerien engagierte, heißt es bei ihr: »Die Ereignisse, die kommen und die auch als / Ereignisse in die Geschichte eingehen, poltern / sehr ungelegen in ihr schönes Berufs- und Familienglück / hinein. Ja. So kann es sein. Die Wahrheit ist, dass wir / die Wahrheit gar nicht kennen.«
Beaumanoir hat selbst beschrieben, wie sehr sie Dogmatismus und Korruption bei den Kommunisten und dann auch bei den unabhängigen Algeriern verabscheute. Aber den Sinn ihres Engagements stellt sie nicht infrage wie Annette in Anne Webers Epos: »Sie trägt den Irrtum, der ein / Schmerz geworden ist, mit sich herum und / wälzt ihn auf den Hügel der Jahre, und aus / dem Hügel wird ein Berg.«
Verkitscht wird im Epos auch Beaumanoirs Reue, ihr Familienleben geopfert zu haben. Sie selbst schreibt, ihre Kinder hätten sich später bemüht, zu verstehen, dass »ohne diesen Opfermut« kein Engagement an vorderster Front möglich gewesen wäre: »Der Kampf an der Seite der Unterdrückten muss sich uns auf absolute, unwiderlegbare Weise aufdrängen, um alle Wagnisse einzugehen, selbst, an seinem Engagement leiden zu müssen.« Das bedeute, auch in Extremsituationen »nicht abzufallen«.
Anne Weber: Annette – Ein Heldinnenepos, Matthes & Seitz, 208 Seiten, 22 €; Anne Beaumanoir: Wir wollten das Leben ändern, Bd.1: Leben für Gerechtigkeit. Erinnerungen 1923-1956, 208 Seiten, 15 €, Bd. 2: Kampf für Freiheit. Algerien 1954-1965, 232 Seiten, 16 €, beide Edition Contra-Bass