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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vergiftete Blumen

Es sei wohl an der Zeit, sag­te Moril­lon, mir end­lich zu zei­gen, war­um er die Muse­en plün­de­re und gemal­te Blu­men aus den Bil­dern steh­le, um sie zu uns her­über­zu­ho­len, wo jeder sie anfas­sen und ihren Duft atmen könne.

Damit nahm er mich mit zu der brei­ten Trep­pe im Flur. Dort war­te­te der gel­be Hund, und kaum setz­ten wir den Fuß auf die unter­ste Stu­fe, erhob er sich und lief uns vor­an zu der hohen Tür, die lan­ge Zeit so fest ver­schlos­sen gewe­sen war. Jetzt aber reich­te es aus, dass das gro­ße Tier sich auf die Hin­ter­bei­ne erhob und die Klin­ke nie­der­drück­te, und bei­de Flü­gel schwan­gen auf.

Vor unse­ren Füßen begann ein schma­ler Weg und zwi­schen nied­ri­gen Buchs­baum­hecken an bei­den Sei­ten führ­te er zu einer stein­ge­fass­ten Quel­le in der Mit­te, von Blu­men umge­ben, und Blu­men wuch­sen auch rechts und links des Stegs und jen­seits des Brun­nens. Wir blick­ten in einen Gar­ten, unfer­tig, aber wun­der­bar, und heu­te den­ke ich, dass er in der Voll­endung nie­mals hät­te schö­ner sein kön­nen als in dem Augen­blick, als Moril­lon ihn mir zeigte.

Die Luft war erfüllt vom Duft sich öff­nen­der Knos­pen, aber obwohl die Pflan­zen alle leben­dig vor uns stan­den und ich sie hät­te berüh­ren und sogar pflücken kön­nen, so hat­te ihr Äuße­res doch etwas von Wesen und Form gemal­ter Blu­men bewahrt, und hät­te ich nicht gewusst, dass sie ein­mal Tei­le der ver­schie­den­sten Kunst­wer­ke gebil­det hat­ten, so hät­te ich wohl doch gespürt, dass sie aus einer ande­ren Wirk­lich­keit genom­men waren.

Der hel­le Pfad setz­te sich fort bis zu einem aus Ruten gefloch­te­nen Zaun, wie ich ihn ein­mal auf einem Gemäl­de gese­hen hat­te; es war ein Bild von Geth­se­ma­ne, wo die Häscher schon durch die zer­stör­te Schutz­wehr ein­drin­gen, wäh­rend die Jün­ger noch schla­fen. Doch das hier war ein ande­rer Gar­ten, und als ich an der Hand von Moril­lon ein paar Schrit­te auf dem sand­be­streu­ten Steig ging, sah ich an der Brun­nen­scha­le ein Buch lie­gen und einen Man­tel von wun­der­ba­rem Blau.

In den far­ben­glü­hen­den Bee­ten aber, bei den blü­hen­den Ligu­ster­sträu­chern, und vor allem in den über­schäu­men­den Rosen­bü­schen klaff­ten gro­ße Lücken, die gan­ze Sze­ne­rie war offen­sicht­lich noch nicht voll­endet, doch es gab auch Stel­len, die fast eben­so ver­wü­stet aus­sa­hen, wie die ver­wisch­ten Flä­chen auf den Gemäl­den, aus denen Moril­lon sei­ne Pflan­zen gestoh­len hatte.

Er folg­te mei­nem Blick. »Das war ich«, sag­te er nie­der­ge­schla­gen. »aber dass es so kom­men wür­de, habe ich nicht wis­sen kön­nen, als ich den Frem­den gan­ze Sträu­ße aus den Muse­en hol­te, um ihre Sehn­sucht nach Blu­men zu stil­len, denn in der ver­seuch­ten Luft ihrer Hei­mat wach­sen kei­ne Pflan­zen mehr, auch die Vögel sind ver­stummt, und natür­li­che Blü­ten aus unse­ren Gär­ten sin­ken in kur­zer Zeit tot und starr in sich zusammen.«

Seit eini­ger Zeit, fuhr er fort, welk­ten in der Welt die­ser Frem­den auch die Blu­men aus den Bil­dern, sie ver­bli­chen wie alte Tep­pi­che, und das immer rascher, und immer mehr von den gemal­ten Sträu­ßen ver­lan­ge man von ihm. Er zöger­te, bevor er wei­ter­sprach: »Dabei meh­ren sich die Anzei­chen, dass es nicht mehr lan­ge dau­ert.« Und wie­der hielt er inne, als woll­ten die Wor­te nicht über sei­ne Lip­pen, »nicht mehr lan­ge, bis auch in der Luft unse­rer Welt kei­ne Blu­men mehr wachsen«.

Ich blick­te mich noch ein­mal um in die­sem Gar­ten aus gemal­ten Blü­ten, und dann frag­te ich, ob er jene zer­stör­te Welt selbst betre­ten habe. Ich sah, wie er mit dem Kopf nick­te, aber dann ant­wor­te­te er mit einem Nein, nur hin­ein­ge­schaut habe er, von der Spit­ze eines Tur­mes oder Hoch­hau­ses aus, tief unten habe die­se frem­de Welt sich aus­ge­brei­tet, in einem Abgrund, wie man in alten Bil­dern zuwei­len die Höl­le lie­gen sieht mit ihren Teu­feln und Ver­damm­ten, »und ich wünsch­te«, fuhr er fort, »ich hät­te nie den Blick dort hin­ab getan, denn was mir zuerst nur fremd und schau­rig erschie­nen ist, und so kahl ohne Pflan­zen und Blu­men, so leer auch, ohne Vogel­stim­men, das kommt mir immer mehr vor wie ein Ske­lett, und wenn Gift und Gas das Fleisch uns­rer Welt erst bis auf die Kno­chen zer­fres­sen haben, wird sie die­ser andern ähneln oder gleich sein«, und er sprach von Städ­ten im Abseits, mit schwar­zem oder rotem Schnee, und mit blau­em Nebel, der in der Keh­le erst zu krat­zen begin­ne und dann den Atem neh­me. »Aber«, schloss er, »auch über uns hier schwebt ein zar­ter Schlei­er aus Gift, die Blu­men wel­ken schnel­ler als frü­her, und Schmet­ter­lin­ge wird man viel­leicht bald nur noch auf alten Grab­stei­nen finden.«

Er ver­stumm­te, und nichts war mehr zu hören als das ruhi­ge Atmen des gro­ßen gel­ben Hun­des, der sich zwi­schen den offen­ste­hen­den Tür­flü­geln nie­der­ge­legt hat­te und zu uns herübersah.
 
Aus: Das Schat­ten­veil­chen. Roman. (unver­öf­fent­licht)
Lite­ra­tur­hin­wei­se:
Doro­thea Ren­ck­hoff: Wil­ly Mil­lo­witsch, Wienand Ver­lag 1996
Dies.: Ver­fal­len, Uni­ver­si­ty Press 2014