Es sei wohl an der Zeit, sagte Morillon, mir endlich zu zeigen, warum er die Museen plündere und gemalte Blumen aus den Bildern stehle, um sie zu uns herüberzuholen, wo jeder sie anfassen und ihren Duft atmen könne.
Damit nahm er mich mit zu der breiten Treppe im Flur. Dort wartete der gelbe Hund, und kaum setzten wir den Fuß auf die unterste Stufe, erhob er sich und lief uns voran zu der hohen Tür, die lange Zeit so fest verschlossen gewesen war. Jetzt aber reichte es aus, dass das große Tier sich auf die Hinterbeine erhob und die Klinke niederdrückte, und beide Flügel schwangen auf.
Vor unseren Füßen begann ein schmaler Weg und zwischen niedrigen Buchsbaumhecken an beiden Seiten führte er zu einer steingefassten Quelle in der Mitte, von Blumen umgeben, und Blumen wuchsen auch rechts und links des Stegs und jenseits des Brunnens. Wir blickten in einen Garten, unfertig, aber wunderbar, und heute denke ich, dass er in der Vollendung niemals hätte schöner sein können als in dem Augenblick, als Morillon ihn mir zeigte.
Die Luft war erfüllt vom Duft sich öffnender Knospen, aber obwohl die Pflanzen alle lebendig vor uns standen und ich sie hätte berühren und sogar pflücken können, so hatte ihr Äußeres doch etwas von Wesen und Form gemalter Blumen bewahrt, und hätte ich nicht gewusst, dass sie einmal Teile der verschiedensten Kunstwerke gebildet hatten, so hätte ich wohl doch gespürt, dass sie aus einer anderen Wirklichkeit genommen waren.
Der helle Pfad setzte sich fort bis zu einem aus Ruten geflochtenen Zaun, wie ich ihn einmal auf einem Gemälde gesehen hatte; es war ein Bild von Gethsemane, wo die Häscher schon durch die zerstörte Schutzwehr eindringen, während die Jünger noch schlafen. Doch das hier war ein anderer Garten, und als ich an der Hand von Morillon ein paar Schritte auf dem sandbestreuten Steig ging, sah ich an der Brunnenschale ein Buch liegen und einen Mantel von wunderbarem Blau.
In den farbenglühenden Beeten aber, bei den blühenden Ligustersträuchern, und vor allem in den überschäumenden Rosenbüschen klafften große Lücken, die ganze Szenerie war offensichtlich noch nicht vollendet, doch es gab auch Stellen, die fast ebenso verwüstet aussahen, wie die verwischten Flächen auf den Gemälden, aus denen Morillon seine Pflanzen gestohlen hatte.
Er folgte meinem Blick. »Das war ich«, sagte er niedergeschlagen. »aber dass es so kommen würde, habe ich nicht wissen können, als ich den Fremden ganze Sträuße aus den Museen holte, um ihre Sehnsucht nach Blumen zu stillen, denn in der verseuchten Luft ihrer Heimat wachsen keine Pflanzen mehr, auch die Vögel sind verstummt, und natürliche Blüten aus unseren Gärten sinken in kurzer Zeit tot und starr in sich zusammen.«
Seit einiger Zeit, fuhr er fort, welkten in der Welt dieser Fremden auch die Blumen aus den Bildern, sie verblichen wie alte Teppiche, und das immer rascher, und immer mehr von den gemalten Sträußen verlange man von ihm. Er zögerte, bevor er weitersprach: »Dabei mehren sich die Anzeichen, dass es nicht mehr lange dauert.« Und wieder hielt er inne, als wollten die Worte nicht über seine Lippen, »nicht mehr lange, bis auch in der Luft unserer Welt keine Blumen mehr wachsen«.
Ich blickte mich noch einmal um in diesem Garten aus gemalten Blüten, und dann fragte ich, ob er jene zerstörte Welt selbst betreten habe. Ich sah, wie er mit dem Kopf nickte, aber dann antwortete er mit einem Nein, nur hineingeschaut habe er, von der Spitze eines Turmes oder Hochhauses aus, tief unten habe diese fremde Welt sich ausgebreitet, in einem Abgrund, wie man in alten Bildern zuweilen die Hölle liegen sieht mit ihren Teufeln und Verdammten, »und ich wünschte«, fuhr er fort, »ich hätte nie den Blick dort hinab getan, denn was mir zuerst nur fremd und schaurig erschienen ist, und so kahl ohne Pflanzen und Blumen, so leer auch, ohne Vogelstimmen, das kommt mir immer mehr vor wie ein Skelett, und wenn Gift und Gas das Fleisch unsrer Welt erst bis auf die Knochen zerfressen haben, wird sie dieser andern ähneln oder gleich sein«, und er sprach von Städten im Abseits, mit schwarzem oder rotem Schnee, und mit blauem Nebel, der in der Kehle erst zu kratzen beginne und dann den Atem nehme. »Aber«, schloss er, »auch über uns hier schwebt ein zarter Schleier aus Gift, die Blumen welken schneller als früher, und Schmetterlinge wird man vielleicht bald nur noch auf alten Grabsteinen finden.«
Er verstummte, und nichts war mehr zu hören als das ruhige Atmen des großen gelben Hundes, der sich zwischen den offenstehenden Türflügeln niedergelegt hatte und zu uns herübersah.
Aus: Das Schattenveilchen. Roman. (unveröffentlicht)
Literaturhinweise:
Dorothea Renckhoff: Willy Millowitsch, Wienand Verlag 1996
Dies.: Verfallen, University Press 2014