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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vergessene Krisen

Ange­sichts der Zunah­me schwe­rer und lang andau­ern­der Not­la­gen und Bedro­hun­gen in der Welt sprach UN-Gene­ral­se­kre­tär Antó­nio Guter­res im Som­mer 2021 von einem »Orkan huma­ni­tä­rer Kri­sen«. Die COVID-19-Pan­de­mie und ihre Fol­gen setz­ten und set­zen den­je­ni­gen Gesell­schaf­ten, die schon zuvor geschwächt waren, beson­ders hef­tig zu. Auch der Kli­ma­wan­del ver­schärft Armut, Migra­ti­on, Ernäh­rungs­un­si­cher­heit, Hun­ger – und nicht zuletzt der Kampf um die Ver­tei­lung von knap­per wer­den­den Res­sour­cen wie Was­ser, Land und Holz. Doch über die mei­sten huma­ni­tä­ren Kri­sen wird in unse­ren Medi­en, auch den »sozia­len«, nur wenig berich­tet. Denn die Medi­en ver­öf­fent­li­chen mit Vor­lie­be das, was Quo­te oder Klicks bringt. Mensch­li­ches Leid und andau­ern­de Hoff­nungs­lo­sig­keit brin­gen nur weni­ge Klicks. Und damit nur gerin­ge oder kei­ne Werbeeinahmen.

Im Online-Jour­na­lis­mus sind die Nut­zungs­da­ten, die Klicks, sofort ver­füg­bar. Das Redak­ti­ons­ma­nage­ment kann detail­liert ver­fol­gen, wie erfolg­reich die Arti­kel geklickt wer­den, was eine unmit­tel­ba­re Anpas­sung ihrer Inhal­te und Prä­sen­ta­ti­on erlaubt. Schlecht geklick­te Berich­te wer­den umge­hend opti­miert, also sen­sa­tio­nel­ler ver­packt, damit hof­fent­lich mehr Leser auf sie ansprin­gen. Denn mehr Klicks brin­gen mehr Wer­be­geld. The­men wer­den des­halb immer sel­te­ner nach Wich­tig­keit oder gesell­schaft­li­cher Rele­vanz aus­ge­wählt, son­dern nach dem poten­zi­el­len Erfolg der Klickzahlen.

Wenn wir also nicht auf einen Bericht über den Hun­ger in Sam­bia oder über die zer­stör­ten Ern­ten in Mala­wi klicken, son­dern lie­ber auf eine Sto­ry über die Schla­ger häm­mern­de Gym­na­stik­queen Hele­ne Fischer, auf einen rei­ße­ri­schen Report über kri­mi­nel­le Asyl­be­wer­ber oder die teuf­li­sche See­le des Rus­sen an sich, bekom­men wir in den digi­ta­len Nach­rich­ten­por­ta­len eben noch mehr von Hele­ne Fischers Lie­bes­le­ben, von ver­bre­che­ri­schen Aus­län­dern oder rus­si­schen Mon­stern. Und noch weni­ger sorg­fäl­ti­ge, gründ­li­che, nach­denk­li­che Tex­te zu jenen The­men und Fra­gen, die für unser Zusam­men­le­ben, für die Gegen­wart und Zukunft unse­res Pla­ne­ten von Bedeu­tung sind. Wie der Blick auf die huma­ni­tä­ren Kri­sen an vie­len Orten der Welt.

Zwi­schen dem 1. Janu­ar und dem 30. Sep­tem­ber 2021 zum Bei­spiel gab es nach Anga­ben des inter­na­tio­na­len Medi­en­be­ob­ach­tungs­dienst Melt­wa­ter 512 Online-Arti­kel über Sam­bia und 832 über Mala­wi, aber 239.422 Online-Arti­kel zu den Welt­all-Flü­gen von Jeff Bezos und Elon Musk und 362.522 Online-Arti­kel zum Inter­view von Har­ry & Meg­han mit Oprah Win­frey. Ein Ergeb­nis unse­rer Klicks.

Die Kri­se des Qua­li­täts­jour­na­lis­mus ist auch die gei­sti­ge Kri­se des ober­fläch­li­chen und des­in­ter­es­sier­ten Medi­en­nut­zers, der lie­ber auf Bou­le­vard statt auf Hin­ter­grund klickt und so über die Nach­fra­ge das Ange­bot steuert.

Mit ihrem jähr­li­chen und immer im Janu­ar ver­öf­fent­lich­ten Bericht »Suf­fe­ring in Silence« will die inter­na­tio­na­le Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on CARE auf jene huma­ni­tä­ren Kri­sen auf­merk­sam machen, die jeweils im Vor­jahr die gering­ste media­le Auf­merk­sam­keit erhal­ten haben, die im »Orkan huma­ni­tä­rer Kri­sen« nicht wahr­ge­nom­men wer­den. In 2021 waren das zum Bei­spiel der Hun­ger in Sam­bia oder Mala­wi, die Ver­trei­bun­gen in der Zen­tral­afri­ka­ni­schen Repu­blik, die Gewalt gegen Frau­en und Mäd­chen in Burun­di, die extre­me Infla­ti­on in Sim­bab­we, fast zwei Mil­lio­nen Flücht­lin­ge aus Vene­zue­la im wei­ter­hin von Gewalt ter­ro­ri­sier­ten Kolumbien.

Doch um Wir­kung zu erzie­len, muss der Care-Bericht gele­sen wer­den (https://www.care.de/schwerpunkte/nothilfe/vergessene-krisen). Er braucht also unse­re Klicks.

Übri­gens: Ob ver­ges­se­ne oder öffent­lich wahr­ge­nom­me­ne Kri­sen – der gesam­te huma­ni­tä­re Bedarf liegt im Jahr 2022 erneut auf einem Rekord­hoch: Welt­weit benö­ti­gen 274 Mil­lio­nen Men­schen unmit­tel­ba­re Über­le­bens­hil­fe – das ist eine von 29 Per­so­nen welt­weit. So hoch wie nie ist auch die Zahl der Men­schen auf der Flucht: 82,4 Mil­lio­nen Bin­nen­flücht­lin­ge und Asylsuchende.