Angesichts der Zunahme schwerer und lang andauernder Notlagen und Bedrohungen in der Welt sprach UN-Generalsekretär António Guterres im Sommer 2021 von einem »Orkan humanitärer Krisen«. Die COVID-19-Pandemie und ihre Folgen setzten und setzen denjenigen Gesellschaften, die schon zuvor geschwächt waren, besonders heftig zu. Auch der Klimawandel verschärft Armut, Migration, Ernährungsunsicherheit, Hunger – und nicht zuletzt der Kampf um die Verteilung von knapper werdenden Ressourcen wie Wasser, Land und Holz. Doch über die meisten humanitären Krisen wird in unseren Medien, auch den »sozialen«, nur wenig berichtet. Denn die Medien veröffentlichen mit Vorliebe das, was Quote oder Klicks bringt. Menschliches Leid und andauernde Hoffnungslosigkeit bringen nur wenige Klicks. Und damit nur geringe oder keine Werbeeinahmen.
Im Online-Journalismus sind die Nutzungsdaten, die Klicks, sofort verfügbar. Das Redaktionsmanagement kann detailliert verfolgen, wie erfolgreich die Artikel geklickt werden, was eine unmittelbare Anpassung ihrer Inhalte und Präsentation erlaubt. Schlecht geklickte Berichte werden umgehend optimiert, also sensationeller verpackt, damit hoffentlich mehr Leser auf sie anspringen. Denn mehr Klicks bringen mehr Werbegeld. Themen werden deshalb immer seltener nach Wichtigkeit oder gesellschaftlicher Relevanz ausgewählt, sondern nach dem potenziellen Erfolg der Klickzahlen.
Wenn wir also nicht auf einen Bericht über den Hunger in Sambia oder über die zerstörten Ernten in Malawi klicken, sondern lieber auf eine Story über die Schlager hämmernde Gymnastikqueen Helene Fischer, auf einen reißerischen Report über kriminelle Asylbewerber oder die teuflische Seele des Russen an sich, bekommen wir in den digitalen Nachrichtenportalen eben noch mehr von Helene Fischers Liebesleben, von verbrecherischen Ausländern oder russischen Monstern. Und noch weniger sorgfältige, gründliche, nachdenkliche Texte zu jenen Themen und Fragen, die für unser Zusammenleben, für die Gegenwart und Zukunft unseres Planeten von Bedeutung sind. Wie der Blick auf die humanitären Krisen an vielen Orten der Welt.
Zwischen dem 1. Januar und dem 30. September 2021 zum Beispiel gab es nach Angaben des internationalen Medienbeobachtungsdienst Meltwater 512 Online-Artikel über Sambia und 832 über Malawi, aber 239.422 Online-Artikel zu den Weltall-Flügen von Jeff Bezos und Elon Musk und 362.522 Online-Artikel zum Interview von Harry & Meghan mit Oprah Winfrey. Ein Ergebnis unserer Klicks.
Die Krise des Qualitätsjournalismus ist auch die geistige Krise des oberflächlichen und desinteressierten Mediennutzers, der lieber auf Boulevard statt auf Hintergrund klickt und so über die Nachfrage das Angebot steuert.
Mit ihrem jährlichen und immer im Januar veröffentlichten Bericht »Suffering in Silence« will die internationale Hilfsorganisation CARE auf jene humanitären Krisen aufmerksam machen, die jeweils im Vorjahr die geringste mediale Aufmerksamkeit erhalten haben, die im »Orkan humanitärer Krisen« nicht wahrgenommen werden. In 2021 waren das zum Beispiel der Hunger in Sambia oder Malawi, die Vertreibungen in der Zentralafrikanischen Republik, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Burundi, die extreme Inflation in Simbabwe, fast zwei Millionen Flüchtlinge aus Venezuela im weiterhin von Gewalt terrorisierten Kolumbien.
Doch um Wirkung zu erzielen, muss der Care-Bericht gelesen werden (https://www.care.de/schwerpunkte/nothilfe/vergessene-krisen). Er braucht also unsere Klicks.
Übrigens: Ob vergessene oder öffentlich wahrgenommene Krisen – der gesamte humanitäre Bedarf liegt im Jahr 2022 erneut auf einem Rekordhoch: Weltweit benötigen 274 Millionen Menschen unmittelbare Überlebenshilfe – das ist eine von 29 Personen weltweit. So hoch wie nie ist auch die Zahl der Menschen auf der Flucht: 82,4 Millionen Binnenflüchtlinge und Asylsuchende.