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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vergessen und aktuell

Wer /​ Wird die Toten begra­ben /​ Auf dem Schlacht­feld Euro­pa – So beginnt ein Gedicht von Dag­mar Nick in dem von Gud­run Ens­slin und Bern­ward Ves­per im Jahr 1964 her­aus­ge­ge­be­nen Band »Gegen den Tod«. Und am Ende des Gedichts hieß es: Unüber­wind­li­che Stil­le wird sein /​ auf dem Schlacht­feld Europa. 

Ein Jahr zuvor hat­te Ens­slin, vier­tes von sie­ben Kin­dern des pro­te­stan­ti­schen Pfar­rers Hel­mut Ens­slin und sei­ner Frau Ilse, mit Ves­per den Ver­lag »stu­dio neue lite­ra­tur« gegrün­det, in dem der Band nun erschei­nen konn­te. Ves­per, sech­stes Kind des Nazi­dich­ters Will Ves­per (1882-1962) und sei­ner zwei­ten Frau Rose Sav­ra­da, schrieb im Vor­wort die­ses Anti­kriegs­bu­ches, das »Stim­men deut­scher Schrift­stel­ler gegen die Atom­bom­be« ver­sam­melt: »Gegen­über der mör­de­ri­schen Stra­te­gie mag die Kla­ge der Dich­te­rin ›O der wei­nen­den Kin­der Nacht‹ schwäch­lich erschei­nen. Sie wird aber immer gespro­chen werden.«

Der Groß­teil der in die­sem knapp zwei­hun­dert Sei­ten umfas­sen­den Buch ver­sam­mel­ten Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­ler pass­te nicht recht in das dama­li­ge Wie­der­auf­bau-West­deutsch­land oder war gar mit der Pun­ze »DDR« ver­se­hen, wie Peter Huchel, Anna Seg­hers, Ste­phan Herm­lin, Arnold Zweig oder Ber­tolt Brecht. Letz­te­re bil­de­ten aller­dings eine klei­ne Min­der­heit, deren Tex­te im Übri­gen vom pazi­fi­sti­schen Grund­ton des Buches nicht abwi­chen. Eini­ge schrie­ben aus dem Aus­land, vor­über­ge­hend wie Dag­mar Nick (Isra­el) oder dau­er­haft (wie Nel­ly Sachs, Erich Fried, Max Brod oder Oskar Maria Graf) und waren schon des­halb – der erste Frank­fur­ter Ausch­witz­pro­zess war gera­de im Gan­ge – eher gelit­ten als aner­kannt. »Umstrit­ten« wür­de die heu­ti­ge Sprach­re­ge­lung lau­ten, wenn man die Ver­ach­tung oder Gering­schät­zung umschrei­ben wollte.

Aber man muss heu­te dar­auf insi­stie­ren, dass es sich weni­ger um ein »lin­kes« Werk han­del­te. Im Gegen­teil, der Titel war kein Kuckucks­ei, son­dern den jun­gen Her­aus­ge­bern – Ens­slin vier­und­zwan­zig-, Ves­per sechs­und­zwan­zig­jäh­rig – ging es um die Ver­tei­di­gung des Lebens gegen den durch Krieg dro­hen­den Tod, »gegen die Atom­bom­be«, wie es im Unter­ti­tel hieß; cha­rak­te­ri­stisch viel­leicht sicht­bar an drei unter­schied­li­chen Tex­ten, die das­sel­be The­ma behan­del­ten, die Ver­strah­lung japa­ni­scher Fischer im März 1954 auf frei­er See nach einem H-Bom­ben­test. Sowohl bei Anna Seg­hers wie auch bei den christ­lich gepräg­ten Wolf­gang Wey­rauch und Hein­rich Böll ist es die Wir­kung der Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fe, die the­ma­ti­siert wird, nicht der sie testen­de oder ver­wen­den­de Staat. Gibt es heu­te lite­ra­ri­sche Tex­te, die die Wir­kung des Ein­sat­zes von Uran­mu­ni­ti­on in Ser­bi­en, dem Irak oder der Ukrai­ne beschrei­ben oder gar beklagen?

Auf­fäl­lig dar­über hin­aus, wie sehr vie­le Autoren den christ­li­chen Ursprung ihres Pazi­fis­mus ent­we­der beto­nen oder nicht ver­leug­nen. Für das Ein­ver­ständ­nis der Her­aus­ge­ber damit spre­chen auch die dem gesam­ten Buch vor­an­ge­stell­ten Zita­te – von Albert Ein­stein, Albert Schweit­zer, sowie den Päp­sten Pius XII und Paul VI. Ist es abwe­gig zu fra­gen, wes­halb es heut­zu­ta­ge scheint, als sei der poli­ti­sche Pazi­fis­mus christ­li­cher Pro­ve­ni­enz ver­gleichs­wei­se mar­gi­na­li­siert? Wenn man vom argen­ti­ni­schen Papst und weni­gen ande­ren absieht. Dem­ge­gen­über holen Ensslin/​Vesper sol­che Stim­men aus­drück­lich vor den Vor­hang, wie außer den Genann­ten bei­spiels­wei­se Ger­trud von le Fort, Ste­fan And­res oder Leo Weis­man­tel. Viel­fach sieht man sol­chem christ­li­chen Pazi­fis­mus noch sei­ne Ver­gan­gen­heit in der häu­fig inne­ren Oppo­si­ti­on gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus an. Aber zugleich sind die Fäden der bei­den Her­aus­ge­ber in den gesell­schaft­li­chen oder fami­liä­ren Sumpf der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Ver­gan­gen­heit noch nicht voll­stän­dig gekappt. Dies war nicht nur abseits die­ses Werks sicht­bar, wo Ens­slin zur sel­ben Zeit noch die Publi­ka­ti­on einer Gesamt­aus­ga­be der Wer­ke des Nazi­va­ters ihres Mit­her­aus­ge­bers und Lebens­ge­fähr­ten plan­te, son­dern auch in der Antho­lo­gie selbst. Offen­bar hat­ten bei­de kein Pro­blem, unmit­tel­bar nach Anna Seg­hers‘ Text über die japa­ni­schen Fischer einen fünf­zei­li­gen Vers von Hans Bau­mann unter­zu­brin­gen. Die­ser Dich­ter war zwar in der Nach­kriegs­zeit ein belieb­ter und preis­wür­di­ger Kin­der­buch­au­tor und wur­de gar 1968 von der New York Herald Tri­bu­ne für das beste Jugend­buch mit einem Preis geehrt, hat­te sich aber, katho­lisch sozia­li­siert, seit 1933 als Hard­core-Nazi und Tex­ter einen Namen gemacht, unter ande­rem von einer der belieb­te­sten und meist­ge­sun­ge­nen Nazi­hym­nen mit den berüch­tig­ten Zei­len: »Und heu­te gehört uns Deutsch­land /​ Und mor­gen die gan­ze Welt« (»Es zit­tern die mor­schen Kno­chen«, mit der spä­te­ren Vari­an­te: »da hört uns Deutsch­land«). Auch im Autoren­ver­zeich­nis fin­det man nir­gends Anga­ben zur NS-Ver­gan­gen­heit, bei­spiels­wei­se auch nicht jener Leo Weismantels.

Gera­de auch sol­che Unge­reimt­hei­ten wei­sen die­ses Werk als nicht uncha­rak­te­ri­stisch für kri­ti­sche Stim­men West­deutsch­lands zu Beginn der Sech­zi­ger­jah­re aus. Sei­ne Pun­zie­rung als »links« rührt in erster Linie vom wei­te­ren Lebens­weg der bei­den Her­aus­ge­ber her, die hier zunächst einen empa­thi­schen Huma­nis­mus gegen die blin­de Gewalt­tä­tig­keit der Gegen­wart und des Kal­ten Krie­ges gel­tend mach­ten. Weni­ge Jah­re danach wur­den bei­de in den Stru­del des Akti­vis­mus von »1968« geris­sen: Bern­ward Ves­per kam dabei mit sei­nen fami­liä­ren Ver­strickun­gen letzt­lich eben­so wenig zuran­de, wie mit der Tren­nung von Gud­run Ens­slin – der gemein­sa­me Sohn war 1967 zur Welt gekom­men – und beging 1971 Sui­zid. Ens­slin wur­de 1972 als Mit­glied der RAF ver­haf­tet und starb 1977 im Gefäng­nis, ver­mut­lich durch eige­ne Hand. Es gäbe »Ton­nen klu­ger Bücher, das ohn­mäch­tig­ste aller Hee­re«, hat­te Gud­run Ens­slin ihrer Schwe­ster Chri­stia­ne kurz nach ihrer Ver­haf­tung geschrieben.

Das Buch wird eröff­net mit einer Noah-Para­bel von Gün­ther Anders und been­det von einem den Pazi­fis­mus weni­ger phi­lo­so­phisch, son­dern poli­tisch begrün­den­den Bei­trag Robert Jungks. Zudem ist ins­be­son­de­re aus heu­ti­ger Sicht noch auf zwei wei­te­re Bei­trä­ge hin­zu­wei­sen: Gabrie­le Woh­mann befasst sich unter dem Titel »Wör­ter mit Tem­pe­ra­tur« mit der den Krieg för­dern­den und den Frie­den ver­ächt­lich machen­den Spra­che: »Es ist selt­sam, wie gefühl­voll die Wör­ter sind, die sich mit dem Sol­da­ten beschäf­ti­gen – wie hart und gering­schät­zig aber die Bezeich­nun­gen für den aus­fal­len, der es ablehnt, Sol­dat zu sein. (…) So lang das Miss­trau­en nicht bei der Spra­che beginnt, ist nichts zu erwar­ten von Bes­se­rungs­ge­lüb­den. (…) So lang man es vor­zieht, Ideo­lo­gien gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len und mit mis­sio­na­ri­schem Blick, bewaff­net und unnach­gie­big, gen Osten zu star­ren, kann von Bereit­schaft zum Frie­den nicht die Rede sein.«

Chri­sti­an Geiß­ler wie­der­um, damals Mit­glied des Kura­to­ri­ums der Oster­marsch-Bewe­gung, ist mit sei­ner Rede zu Ostern 1962 in Frank­furt am Main ver­tre­ten. Sein bedeut­sa­mer 1960 erschie­ne­ner Roman »Anfra­ge« war respekt­voll auf­ge­nom­men, aber bald für Jahr­zehn­te ver­ges­sen wor­den, bis er 2023 neu auf­ge­legt wur­de. In sei­ner Rede ging Geiß­ler über mora­li­schen oder phi­lo­so­phi­schen Pazi­fis­mus hin­aus: »An Ostern gegen die Bom­be mar­schie­ren, das kann ein mora­li­sches Zei­chen sein. Eine poli­ti­sche Akti­on ist es noch nicht. Frei­lich – damit wir uns nicht falsch ver­ste­hen: Gäbe es hier bei uns auch nur eine ein­zi­ge gesell­schaft­li­che Macht­grup­pe, sagen wir die SPD, sagen wir die Gewerk­schaf­ten, sagen wir die Kir­che, die mora­lisch intakt genug wäre, mit­zu­mar­schie­ren, dann wür­de, allein von der Mas­se der Mar­schie­ren­den her, der nur mora­li­sche Pro­test umschla­gen in poli­ti­sche Akti­on.« Und: »Die Rede von der Hoff­nung auf den Men­schen, die Rede von der Hoff­nung auf eine bes­se­re Welt, bleibt sen­ti­men­ta­les Geschwätz, wird zum Betrug, solan­ge wir uns wei­gern, von den mach­ba­ren mate­ri­el­len Bedin­gun­gen zu reden, auf denen sol­cher­lei Hoff­nung ver­wirk­licht oder nicht ver­wirk­licht wer­den kann.« Nicht zufäl­lig sprach Geiß­ler weni­ge Jah­re spä­ter vom Grund­ge­setz als einem »Grund­ge­setz des Eigentums«.

Sol­ches Reden könn­te mit Recht als »links« qua­li­fi­ziert wer­den, als sozia­li­stisch. Und die gesam­te Rede bräuch­te heut­zu­ta­ge kei­ne Abstri­che. Viel­leicht auch des­halb fun­gie­ren Ens­slin und Ves­per in man­chen Beschrei­bun­gen, z. B. bei Ama­zon, heu­te als »zu Iko­nen erstarr­te Figu­ren«. Weil Iko­nen aus der­sel­ben Epo­che wie Hans Glob­ke, Kurt Georg Kie­sin­ger oder der »furcht­ba­re Jurist« Hans Fil­bin­ger nicht als erstarrt gel­ten sol­len, son­dern immer noch leben­dig herumgeistern?