Wer / Wird die Toten begraben / Auf dem Schlachtfeld Europa – So beginnt ein Gedicht von Dagmar Nick in dem von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper im Jahr 1964 herausgegebenen Band »Gegen den Tod«. Und am Ende des Gedichts hieß es: Unüberwindliche Stille wird sein / auf dem Schlachtfeld Europa.
Ein Jahr zuvor hatte Ensslin, viertes von sieben Kindern des protestantischen Pfarrers Helmut Ensslin und seiner Frau Ilse, mit Vesper den Verlag »studio neue literatur« gegründet, in dem der Band nun erscheinen konnte. Vesper, sechstes Kind des Nazidichters Will Vesper (1882-1962) und seiner zweiten Frau Rose Savrada, schrieb im Vorwort dieses Antikriegsbuches, das »Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe« versammelt: »Gegenüber der mörderischen Strategie mag die Klage der Dichterin ›O der weinenden Kinder Nacht‹ schwächlich erscheinen. Sie wird aber immer gesprochen werden.«
Der Großteil der in diesem knapp zweihundert Seiten umfassenden Buch versammelten Schriftstellerinnen und Schriftsteller passte nicht recht in das damalige Wiederaufbau-Westdeutschland oder war gar mit der Punze »DDR« versehen, wie Peter Huchel, Anna Seghers, Stephan Hermlin, Arnold Zweig oder Bertolt Brecht. Letztere bildeten allerdings eine kleine Minderheit, deren Texte im Übrigen vom pazifistischen Grundton des Buches nicht abwichen. Einige schrieben aus dem Ausland, vorübergehend wie Dagmar Nick (Israel) oder dauerhaft (wie Nelly Sachs, Erich Fried, Max Brod oder Oskar Maria Graf) und waren schon deshalb – der erste Frankfurter Auschwitzprozess war gerade im Gange – eher gelitten als anerkannt. »Umstritten« würde die heutige Sprachregelung lauten, wenn man die Verachtung oder Geringschätzung umschreiben wollte.
Aber man muss heute darauf insistieren, dass es sich weniger um ein »linkes« Werk handelte. Im Gegenteil, der Titel war kein Kuckucksei, sondern den jungen Herausgebern – Ensslin vierundzwanzig-, Vesper sechsundzwanzigjährig – ging es um die Verteidigung des Lebens gegen den durch Krieg drohenden Tod, »gegen die Atombombe«, wie es im Untertitel hieß; charakteristisch vielleicht sichtbar an drei unterschiedlichen Texten, die dasselbe Thema behandelten, die Verstrahlung japanischer Fischer im März 1954 auf freier See nach einem H-Bombentest. Sowohl bei Anna Seghers wie auch bei den christlich geprägten Wolfgang Weyrauch und Heinrich Böll ist es die Wirkung der Massenvernichtungswaffe, die thematisiert wird, nicht der sie testende oder verwendende Staat. Gibt es heute literarische Texte, die die Wirkung des Einsatzes von Uranmunition in Serbien, dem Irak oder der Ukraine beschreiben oder gar beklagen?
Auffällig darüber hinaus, wie sehr viele Autoren den christlichen Ursprung ihres Pazifismus entweder betonen oder nicht verleugnen. Für das Einverständnis der Herausgeber damit sprechen auch die dem gesamten Buch vorangestellten Zitate – von Albert Einstein, Albert Schweitzer, sowie den Päpsten Pius XII und Paul VI. Ist es abwegig zu fragen, weshalb es heutzutage scheint, als sei der politische Pazifismus christlicher Provenienz vergleichsweise marginalisiert? Wenn man vom argentinischen Papst und wenigen anderen absieht. Demgegenüber holen Ensslin/Vesper solche Stimmen ausdrücklich vor den Vorhang, wie außer den Genannten beispielsweise Gertrud von le Fort, Stefan Andres oder Leo Weismantel. Vielfach sieht man solchem christlichen Pazifismus noch seine Vergangenheit in der häufig inneren Opposition gegen den Nationalsozialismus an. Aber zugleich sind die Fäden der beiden Herausgeber in den gesellschaftlichen oder familiären Sumpf der nationalsozialistischen Vergangenheit noch nicht vollständig gekappt. Dies war nicht nur abseits dieses Werks sichtbar, wo Ensslin zur selben Zeit noch die Publikation einer Gesamtausgabe der Werke des Nazivaters ihres Mitherausgebers und Lebensgefährten plante, sondern auch in der Anthologie selbst. Offenbar hatten beide kein Problem, unmittelbar nach Anna Seghers‘ Text über die japanischen Fischer einen fünfzeiligen Vers von Hans Baumann unterzubringen. Dieser Dichter war zwar in der Nachkriegszeit ein beliebter und preiswürdiger Kinderbuchautor und wurde gar 1968 von der New York Herald Tribune für das beste Jugendbuch mit einem Preis geehrt, hatte sich aber, katholisch sozialisiert, seit 1933 als Hardcore-Nazi und Texter einen Namen gemacht, unter anderem von einer der beliebtesten und meistgesungenen Nazihymnen mit den berüchtigten Zeilen: »Und heute gehört uns Deutschland / Und morgen die ganze Welt« (»Es zittern die morschen Knochen«, mit der späteren Variante: »da hört uns Deutschland«). Auch im Autorenverzeichnis findet man nirgends Angaben zur NS-Vergangenheit, beispielsweise auch nicht jener Leo Weismantels.
Gerade auch solche Ungereimtheiten weisen dieses Werk als nicht uncharakteristisch für kritische Stimmen Westdeutschlands zu Beginn der Sechzigerjahre aus. Seine Punzierung als »links« rührt in erster Linie vom weiteren Lebensweg der beiden Herausgeber her, die hier zunächst einen empathischen Humanismus gegen die blinde Gewalttätigkeit der Gegenwart und des Kalten Krieges geltend machten. Wenige Jahre danach wurden beide in den Strudel des Aktivismus von »1968« gerissen: Bernward Vesper kam dabei mit seinen familiären Verstrickungen letztlich ebenso wenig zurande, wie mit der Trennung von Gudrun Ensslin – der gemeinsame Sohn war 1967 zur Welt gekommen – und beging 1971 Suizid. Ensslin wurde 1972 als Mitglied der RAF verhaftet und starb 1977 im Gefängnis, vermutlich durch eigene Hand. Es gäbe »Tonnen kluger Bücher, das ohnmächtigste aller Heere«, hatte Gudrun Ensslin ihrer Schwester Christiane kurz nach ihrer Verhaftung geschrieben.
Das Buch wird eröffnet mit einer Noah-Parabel von Günther Anders und beendet von einem den Pazifismus weniger philosophisch, sondern politisch begründenden Beitrag Robert Jungks. Zudem ist insbesondere aus heutiger Sicht noch auf zwei weitere Beiträge hinzuweisen: Gabriele Wohmann befasst sich unter dem Titel »Wörter mit Temperatur« mit der den Krieg fördernden und den Frieden verächtlich machenden Sprache: »Es ist seltsam, wie gefühlvoll die Wörter sind, die sich mit dem Soldaten beschäftigen – wie hart und geringschätzig aber die Bezeichnungen für den ausfallen, der es ablehnt, Soldat zu sein. (…) So lang das Misstrauen nicht bei der Sprache beginnt, ist nichts zu erwarten von Besserungsgelübden. (…) So lang man es vorzieht, Ideologien gegeneinander auszuspielen und mit missionarischem Blick, bewaffnet und unnachgiebig, gen Osten zu starren, kann von Bereitschaft zum Frieden nicht die Rede sein.«
Christian Geißler wiederum, damals Mitglied des Kuratoriums der Ostermarsch-Bewegung, ist mit seiner Rede zu Ostern 1962 in Frankfurt am Main vertreten. Sein bedeutsamer 1960 erschienener Roman »Anfrage« war respektvoll aufgenommen, aber bald für Jahrzehnte vergessen worden, bis er 2023 neu aufgelegt wurde. In seiner Rede ging Geißler über moralischen oder philosophischen Pazifismus hinaus: »An Ostern gegen die Bombe marschieren, das kann ein moralisches Zeichen sein. Eine politische Aktion ist es noch nicht. Freilich – damit wir uns nicht falsch verstehen: Gäbe es hier bei uns auch nur eine einzige gesellschaftliche Machtgruppe, sagen wir die SPD, sagen wir die Gewerkschaften, sagen wir die Kirche, die moralisch intakt genug wäre, mitzumarschieren, dann würde, allein von der Masse der Marschierenden her, der nur moralische Protest umschlagen in politische Aktion.« Und: »Die Rede von der Hoffnung auf den Menschen, die Rede von der Hoffnung auf eine bessere Welt, bleibt sentimentales Geschwätz, wird zum Betrug, solange wir uns weigern, von den machbaren materiellen Bedingungen zu reden, auf denen solcherlei Hoffnung verwirklicht oder nicht verwirklicht werden kann.« Nicht zufällig sprach Geißler wenige Jahre später vom Grundgesetz als einem »Grundgesetz des Eigentums«.
Solches Reden könnte mit Recht als »links« qualifiziert werden, als sozialistisch. Und die gesamte Rede bräuchte heutzutage keine Abstriche. Vielleicht auch deshalb fungieren Ensslin und Vesper in manchen Beschreibungen, z. B. bei Amazon, heute als »zu Ikonen erstarrte Figuren«. Weil Ikonen aus derselben Epoche wie Hans Globke, Kurt Georg Kiesinger oder der »furchtbare Jurist« Hans Filbinger nicht als erstarrt gelten sollen, sondern immer noch lebendig herumgeistern?