Im Jahr 1948 warb der Hersteller des Waschmittels Persil mit einer Zeichentrick-Reklame, in der ein Marine-Matrose verdreckten Pinguinen die Bäuche wieder strahlend reinwäscht. Immer mehr Pinguine springen daraufhin an Bord und rufen im Chor »PERSIL – PERSIL – PERSIL!« Dabei recken sie die Flügel wie weit ausgestreckte Arme. Mit stolzgeschwellter Brust defilieren sie schließlich in Reih und Glied an Land, zu Marschmusik singend: »Ja, unsere weiße Weste verdanken wir PERSIL!« Die Deutschen hatten ihren Humor also noch nicht verloren, oder schon wiedergefunden. In Fridolin Schleys Roman Die Verteidigung, in dem er die Ereignisse um den Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess in ein fesselndes Drama über Moral und Verantwortung verwandelt, taucht die Reklame-Versprechung für blütenweiße Wäsche kurz auf – als filmische Metapher, die veranschaulicht, wie die »Entnazifizierung« schon frühzeitig funktionierte.
Deutschland in den Nachkriegsjahren. Ein Volk mühte sich, das zu vergessen, was es verschwieg: seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Geschichts-Verleugnung und Geschichts-Umdeutung hatten Hochkonjunktur. So verloren sich der Schrecken und die Einzigartigkeit, den der Zivilisationsbruch des Holocaust und die Vernichtungskriege bedeuteten, im kollektiven Verdrängen und Vergessen. Der nationalsozialistische Wahn wurde zur austauschbaren Metapher des Bösen, persönliche Schuld relativiert. Hitler allein sollte es gewesen sein, verantwortlich für das Verderben der Deutschen und ihre millionenfachen Verbrechen. Wenn nicht allein, dann allenfalls eine kleine verbrecherische Nazi-Elite und ihre fanatischen Getreuen. Im Nachkriegs-Deutschland wollten die einstigen Volksgenossen die »dunklen Jahre« von ihrem eigenen Erleben und Mit-Tun abspalten. So ließ sich persönliche Schuld gut entsorgen. Die Deutschen exkulpierten sich selbst.
Der Berliner Zeithistoriker Götz Aly, geboren 1947, hat in der Vergangenheit zahlreiche wichtige, wegweisende Publikationen zur Sozialpolitik und zur Geschichte des Nationalsozialismus vorgelegt, darunter 2015 »Volk ohne Mitte« sowie zwei Jahre zuvor »Die Belasteten – ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte«. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880-1945«. Die Erforschung des Nationalsozialismus, des Holocaust und des Antisemitismus ist Alys Lebensthema. Es geht ihm in seinen Arbeiten darum, die NS-Vergangenheit nicht zu »bewältigen«, sondern zu vergegenwärtigen. Das zeigt sich auch in seinem gerade erschienenen Buch »Unser Nationalsozialismus«, das seine wichtigsten Reden und Vorträge versammelt (und in einem Anhang das umfangreiche Schaffen des Autors in einem Schriftenverzeichnis dokumentiert). Götz Aly fragt, wie sich das einmal herbeigewählte und konstituierte Hitler-Deutschland mit atemberaubendem Tempo zu einer menschlichen Maschinerie des Zerstörens, Eroberns und Mordens entwickeln konnte, und warum so häufig die Rede von »den Tätern« ist, wenn es um die NS-Verbrechen geht, von »der SS« oder »den Nationalsozialisten«, wenn es um Hitlers Volks-Staat, also die große Volksgemein- und -genossenschaft geht. Waren es nicht Hunderttausende Deutsche, die aktiv Menschheitsverbrechen ungeheuren Ausmaßes begingen, und viele Millionen, die diese billigten, zumindest aber geschehen ließen? Wer begreifen möchte, warum so viele durchaus normale, moralisch gefestigt erscheinende Deutsche 1932 bis 1945 dem Programm der Nationalsozialisten folgten, der findet in diesen Zeit- und Lebensgeschichten erhellende Analysen, Beschreibungen und Anmerkungen.
Nein, Hitler war nicht über die Deutschen gekommen, die Deutschen waren zu Hitler gekommen. Sie hatten ihn gewählt, verehrt und bejubelt. Die Verbrechen und Mordtaten haben keine Außerirdischen verbrochen, die Mörder und Schergen waren ganz normale Menschen und kamen aus allen Schichten der Bevölkerung. Aly benennt die vielfältigen Praktiken, die Schuld auf möglichst kleine Gruppen und Unpersonen abzuschieben – bis heute. Aly hält fest, dass die Täter von damals mit uns verwandt sind. Er weitet unseren Blick auf das Ganze, auf das gesamte Panorama nationalen Größenwahns und Barbarei. Auch wenn sich Ewig-Gestrige und AFD-Heutige dagegen sperren: Es ist »Unser Nationalsozialismus«.
Alys Reden und Aufsätze erinnern uns daran: die Täter sterben aus – die Opfer und Zeitzeugen ebenfalls. Mit Blick auf die Gegenwart, in der persönliches Erinnern immer seltener wird, braucht es deshalb Wissen, wie »es geschehen konnte«, nicht nur die Bereitschaft zur Erinnerung, sondern die Pflicht des Erinnerns. Götz Alys gesammelte Reden können dabei nützlich sein.
Götz Aly: Unser Nationalsozialismus. Reden in der deutschen Gegenwart, Frankfurt a.M. 2023, 304 S., 25 €.