»Die einzige Bewegung war das Flirren einer Fata Morgana. Kahle, weite Flächen schichteten sich bis an den Rand des Himmels und zitterten in der Luftspiegelung, während das glühende Licht der Nachmittagssonne die Silhouette sandiger blassgelber Hügel fast verwischte.« So beginnt der vor kurzem auf Deutsch erschienene Roman Eine Nebensache der 1974 in Palästina geborenen Schriftstellerin Adania Shibli. Die Originalausgabe des Buches erschien 2017 in Beirut. Ort der Handlung ist der Negev, die Wüstenlandschaft im Süden Israels. Wir schreiben den 9. August 1949.
Ein Jahr zuvor, am 14. Mai 1948, hatte David Ben Gurion, der Vorsitzende der Jewish Agency und spätere Ministerpräsident, den Staat Israel proklamiert. Bis zum Angriff einer Allianz arabischer Nachbarstaaten auf den neuen Staat vergingen nur wenige Stunden. Nach acht Monaten, im Januar 1949, wurde unter den Augen der Vereinten Nationen ein Waffenstillstandsabkommen abgeschlossen. Israel hatte nicht nur das Staatsgebiet verteidigt, sondern noch Land hinzugewonnen.
Im Negev liegt die Waffenstillstandslinie zu Ägypten. Hierhin wurde ein Stoßtrupp beordert, »die erste und einzige Einheit, die seit dem Waffenstillstand so weit südlich stationiert worden« ist. Das Lager wird aufgebaut, Pflöcke werden eingeschlagen, Zeltstangen rasseln. Diese Geräusche sind das einzige Zeichen von Leben, die Umgebung erscheint wüst und leer. Von dem Ort, der hier einmal stand, sind lediglich zwei Hütten und einige Mauerreste übriggeblieben. So intensiv war der Beschuss durch die israelische Armee zu Beginn des ersten arabisch-israelischen Krieges.
Am Abend nach der Ankunft erklärt der Kommandierende den Soldaten ihre Aufgabe: Sie sollen die Südgrenze zu Ägypten abstecken und »gegen Eindringlinge« sichern sowie »den Südwesten des Negev systematisch durchkämmen und von etwaig verbliebenen Arabern säubern«. Es gebe Hinweise der Luftaufklärung, »dass noch immer solche herumliefen und es zu Infiltrationen komme«.
Die ersten beiden Tage sind erfüllt mit dem Ausheben von Schützengräben, mit Patrouillenfahrten sowie militärischen Übungen und Manövern, die dem Erlernen von Kampftechniken in der Wüste und der Anpassung an die klimatischen Verhältnisse dienen. Am dritten Tag nach ihrer Ankunft, am 12. August, stößt eine sechsköpfige Patrouille unter Führung des Offiziers mitten in der Wüste auf eine Baumgruppe, hinter der das Gebell eines Hundes und das Röhren von Kamelen zu hören ist.
»Am Fuß des Hanges angekommen, ging er weiter auf die Vegetation zu und durchdrang das Geäst, hinter dem eine Gruppe von Arabern zum Vorschein kam, die wie angewurzelt um die Quelle herumstanden. Sein Blick traf auf ihre Blicke, und ihre Augen waren so weit aufgerissen wie die ihrer aufgeschreckten Kamele, die aufsprangen und einige Schritte davontrabten, während der Hund aufheulte. Es folgte das Geräusch von heftigem Gewehrfeuer.«
Nur der Hund und ein Beduinenmädchen überleben, das, »eingerollt in seine schwarzen Kleider, wie ein Käfer am Boden kauerte«. Waffen werden keine gefunden. Hund und Mädchen werden mit ins Lager genommen. Einen Tag später ist die Beduinin tot. Vergewaltigt. Erschossen. Verscharrt.
Mit dieser Tat endet nach knapp 50 Seiten der erste Teil des schmalen Büchleins. Adania Shibli hat die Geschehnisse in fast lakonischer, schnörkelloser Sprache beschrieben. Parabelhaft steht ihr die Natur zur Seite: Schon in der ersten Nacht wird der Offizier von »einem Wesen«, vermutlich einem Skorpion, gestochen, zweimal in den linken Oberschenkel: die Bewohner der Wüste wissen sich zu wehren. Die Wunde eitert, Krämpfe stellen sich ein. Delirium. Die Sonne brennt heiß auf die Ödnis. Die Soldaten kriechen im Lager dem Schatten hinterher: »Monotone, still daliegende Sanddünen kreisen sie von allen Richtungen ein.«
Im Mittelpunkt des zweiten, ebenfalls 50 Seiten umfassenden Teils steht eine junge Palästinenserin, die auf den Tag genau 25 Jahre nach dem Mord an dem Beduinenmädchen geboren wurde und die im Oktober 2003 in der israelischen Tageszeitung Haaretz darüber liest. Gefesselt von der Koinzidenz der beiden Daten, beginnt sie zu recherchieren. Allerdings kann sie sich nicht frei bewegen. Es gibt Grenzen, Checkpoints, Kontrollen. »Schüsse, Sirenen von Militärfahrzeugen, manchmal der Lärm von Helikoptern, Jagdflugzeugen und Bomben, anschließend der Heulton von Krankenwagen – all das bildet bei uns nicht nur den Hintergrund zu Eilmeldungen in den Nachrichten, sondern ist auch in der Wirklichkeit als Geräuschkulisse mindestens so allgegenwärtig wie das Bellen des Hundes gegenüber meiner Wohnung.« Sie muss tricksen, besorgt sich einen fremden Pass – mit dem eigenen käme sie nicht weit –, leiht sich ein Auto und beginnt ihre Suche, die sie immer näher an den Ort des damaligen Ereignisses führt. Am Ende trifft sie im Negev auf eine von Bäumen umstandene Wasserquelle, an der sechs Kamele trinken, und als sie aufblickt, sieht sie »eine Gruppe von Soldaten mitten in der weiten Landschaft stehen, die mich schweigend anblicken«. Damals ist heute und heute damals. Der Kreis schließt sich. Als habe sich in 50 Jahren nichts verändert. Verblendet im Negev.
Adania Shibli verwebt die Geschichten beider Frauen. Sie hat ihrem Volk eine Stimme gegeben, lädt ein zu einer »eindringlichen Meditation« über Krieg, Gewalt und Gerechtigkeit. Der Berenberg Verlag hat sie jetzt dem deutschen Lesepublikum zugänglich gemacht, so wie er 2019 von Lina Meruane die Heimkehr ins Unbekannte – Unterwegs nach Palästina veröffentlicht hat (siehe Ossietzky 10/2019, »Und plötzlich waren alle Deutsche«). Dafür ist ihm zu danken. Mich hat Eine Nebensache an Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues erinnert, ein Buch, das, wie es im Vorspruch heißt, »weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein sollte«. Auch Shibli vermeidet jegliche politische Wertung, obwohl es die Tat und den Zeitungsartikel gegeben hat. Doch kommt der Tod hier ebenfalls so als »Nebensache« daher, wie er bei Remarque schließlich den Frontsoldaten ereilte: »Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.«
Adania Shibli: Eine Nebensache, aus dem Arabischen von Günther Orth, Berenberg, Berlin 2022, 120 S., 22 €.