Die industrielle Zivilisation hat das Antlitz der Erde innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte radikal verändert: An die Stelle von beinahe endlosen Wäldern und vielfältigen Kulturlandschaften sind Megastädte und Industriegebiete, Straßengeflechte und Containerhäfen, landwirtschaftliche Monokulturen und Abraumhalden getreten. Gewaltige Flussläufe wurden begradigt, umgeleitet und aufgestaut, Berge untertunnelt und gesprengt. Was auf der einen Seite als Triumph der Zivilisation über die Natur erscheint, als Beweis der Macht und Intelligenz des Menschen, erweist sich auf der anderen Seite als Verhängnis: Der vermeintliche Sieg über die Naturgewalten hat den Planeten in eine der tiefsten Krisen seiner Geschichte gesteuert. Nie zuvor seit 66 Millionen Jahren, als die Dinosaurier von der Erde weitgehend verschwanden, starben so schnell so viele Tier- und Pflanzenarten aus. Das Klimasystem nähert sich gefährlichen Kipppunkten; werden sie überschritten, drohen ganze Erdregionen unbewohnbar zu werden. Ob die Gattung Homo diesen Prozess letztlich überleben wird, ist alles andere als gewiss.
Obwohl all dies im Prinzip seit Jahrzehnten bekannt ist, ist unsere Zivilisation offensichtlich unfähig, ihren Kurs zu korrigieren. Wie ich in meinem Buch »Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation« gezeigt habe, reichen die Gründe dafür tief in die ökonomischen, politischen und ideologischen Fundamente unserer Gesellschaft hinein. Zu diesen Tiefenstrukturen gehört auch ein besonderes Verhältnis zu dem, was wir »Natur« nennen. Für die Pioniere der mechanistischen Wissenschaft, die in der Frühen Neuzeit entstand und prägend für unsere Zivilisation werden sollte, bestand die Natur aus vom Menschen getrennten Objekten, die sich beliebig zerlegen, analysieren, neu zusammensetzen und kontrollieren ließen. Alles, so schien es, könne der Mensch ergründen und schließlich beherrschen. Doch tatsächlich haben sich genau diese Annahmen mittlerweile auf allen Ebenen als falsch erwiesen: Erstens zeigt sich der Stoff, aus dem wir sind, als immer rätselhafter, je tiefer die Wissenschaft in ihn eindringt; zweitens lässt er sich nicht in isolierte Objekte auftrennen; und drittens führt der Versuch einer totalen Kontrolle über die Natur geradewegs in den ökologischen Kollaps – und damit in einen zunehmenden Kontrollverlust.
Doch diese Erkenntnisse haben sich bisher in unserem alltäglichen Bewusstsein und Handeln nicht durchsetzen können. Wir sprechen noch immer selbstverständlich so, als sei die Natur etwas, das unabhängig von uns »da draußen« existiert, eine »Umwelt«, die uns umgibt, während wir selbst einer anderen Sphäre angehörten: der »Zivilisation«. Wir tun so, als würden uns die Verwerfungen in der Biosphäre kaum mehr angehen als ein Film auf einer Leinwand, den wir bei Bedarf einfach abschalten können. Inzwischen bewegen wir uns die meiste Zeit in einer digitalen Technosphäre, in der die nicht menschengemachte Welt nur noch als Bild, als Datensatz vorkommt. Doch so hoch die Mauern auch sind, die wir durch Technik zwischen uns und der »Umwelt« errichten, so sehr erweisen sie sich am Ende als Illusion. Durch Atmung und Stoffwechsel werden alle zwei Monate sämtliche Atome meiner Leber ausgetauscht, alle sechs Wochen die meiner Haut. Was eben noch »da draußen« war, ist im nächsten Moment ein Teil von mir. Und umgekehrt. Der Stoff da draußen ist unser Stoff. Was wir ihm antun, tun wir letztlich uns selbst an. Die Vorstellung, es gebe eine von uns getrennte Natur, mit der wir beliebig verfahren können, die wir abbaggern, aufheizen, zerlegen, neu zusammensetzen und kontrollieren können wie ein Bauingenieur seine Materialien, ist eine tödliche Täuschung.
Die neuzeitlichen Naturwissenschaften sind vor 400 Jahren mit der Vorstellung entstanden, dass die Welt eine große Maschine sei, die sich vom Menschen beherrschen ließe. Man glaubte, dass alles in der Natur auf den Stößen von sehr kleinen billardkugelartigen Teilchen beruhe und sich daher berechnen ließe wie der Flug von Kanonenkugeln. Die Quantenphysik hat aber gezeigt, dass im Innersten dessen, was wir Materie nennen, gar nichts Festes existiert, sondern nur ein schwingendes Gewebe von Energiefeldern, die das ganze Universum durchziehen und sich merkwürdiger verhalten als die Figuren in »Alice im Wunderland«. Zugleich musste man in der Biologie erkennen, dass der mechanistische Ansatz nicht dazu geeignet ist, Leben wirklich zu verstehen. Leben ist, das lehrt uns der junge Forschungsbereich der Biosemiotik, durch den Austausch von Botschaften organisiert, nicht durch mechanische Stöße. Und Leben kann auch etwas hervorbringen, was heute noch genauso rätselhaft ist wie zu Zeiten der ersten Menschen: Bewusstsein. Damit ist nicht allein die menschliche Reflexionsfähigkeit gemeint, sondern der Umstand, dass Menschen – und vermutlich auch viele Tiere – einen inneren Erlebnisraum haben, eine Welt von Farben, Gerüchen, Gefühlen und Bildern, der sich nicht auf äußere Beschreibungen unserer Gehirngewebes reduzieren lässt. Nimmt man das alles zusammen, dann zeigt sich, dass die Naturwissenschaften keineswegs eine trostlose mechanische Natur entdeckt haben, sondern ein Universum, das auf Verbundenheit, Selbstorganisation und Kreativität beruht. Wir sind keine biologischen Roboter in einer maschinenartigen Welt, wie uns die Technokraten des Silicon Valley suggerieren, sondern Teil eines allesverbindenden kosmischen Selbstentfaltungsprozesses, der von der subatomaren Ebene über die Sphäre des Lebens bis in die Weiten des Universums reicht.
Diese neue Sicht wird auch von großer Tragweite dafür sein, wie wir mit der planetaren Krise umgehen, in die uns eine jahrhundertelange Ausbeutung der Natur einschließlich des Menschen gesteuert hat. Um dem absehbaren Kollaps lebenserhaltender Systeme zu entgehen, brauchen wir eine Tiefentransformation unserer Gesellschaften auf allen Ebenen. Wir brauchen eine Ökonomie der Verbundenheit, die nicht der Profitmaximierung für Wenige dient, sondern dem langfristigen Gemeinwohl, einschließlich der nicht-menschlichen Lebewesen. Wir brauchen eine Politik der Verbundenheit, die alle Menschen in Entscheidungsprozesse einbezieht. Und wir brauchen eine Wissenschaft, die sich weder dem Wahn einer totalen Naturbeherrschung noch kurzfristigen ökonomischen Interessen verschreibt, sondern der Erforschung von Kooperationsformen komplexer lebender Systeme.
Dieser Text basiert auf dem Buch »Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen« (Piper Verlag, München 2021).