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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Verarmung des Planeten

Die indu­stri­el­le Zivi­li­sa­ti­on hat das Ant­litz der Erde inner­halb der letz­ten zwei Jahr­hun­der­te radi­kal ver­än­dert: An die Stel­le von bei­na­he end­lo­sen Wäl­dern und viel­fäl­ti­gen Kul­tur­land­schaf­ten sind Mega­städ­te und Indu­strie­ge­bie­te, Stra­ßen­ge­flech­te und Con­tai­ner­hä­fen, land­wirt­schaft­li­che Mono­kul­tu­ren und Abraum­hal­den getre­ten. Gewal­ti­ge Fluss­läu­fe wur­den begra­digt, umge­lei­tet und auf­ge­staut, Ber­ge unter­tun­nelt und gesprengt. Was auf der einen Sei­te als Tri­umph der Zivi­li­sa­ti­on über die Natur erscheint, als Beweis der Macht und Intel­li­genz des Men­schen, erweist sich auf der ande­ren Sei­te als Ver­häng­nis: Der ver­meint­li­che Sieg über die Natur­ge­wal­ten hat den Pla­ne­ten in eine der tief­sten Kri­sen sei­ner Geschich­te gesteu­ert. Nie zuvor seit 66 Mil­lio­nen Jah­ren, als die Dino­sau­ri­er von der Erde weit­ge­hend ver­schwan­den, star­ben so schnell so vie­le Tier- und Pflan­zen­ar­ten aus. Das Kli­ma­sy­stem nähert sich gefähr­li­chen Kipp­punk­ten; wer­den sie über­schrit­ten, dro­hen gan­ze Erd­re­gio­nen unbe­wohn­bar zu wer­den. Ob die Gat­tung Homo die­sen Pro­zess letzt­lich über­le­ben wird, ist alles ande­re als gewiss.

Obwohl all dies im Prin­zip seit Jahr­zehn­ten bekannt ist, ist unse­re Zivi­li­sa­ti­on offen­sicht­lich unfä­hig, ihren Kurs zu kor­ri­gie­ren. Wie ich in mei­nem Buch »Das Ende der Megama­schi­ne. Geschich­te einer schei­tern­den Zivi­li­sa­ti­on« gezeigt habe, rei­chen die Grün­de dafür tief in die öko­no­mi­schen, poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Fun­da­men­te unse­rer Gesell­schaft hin­ein. Zu die­sen Tie­fen­struk­tu­ren gehört auch ein beson­de­res Ver­hält­nis zu dem, was wir »Natur« nen­nen. Für die Pio­nie­re der mecha­ni­sti­schen Wis­sen­schaft, die in der Frü­hen Neu­zeit ent­stand und prä­gend für unse­re Zivi­li­sa­ti­on wer­den soll­te, bestand die Natur aus vom Men­schen getrenn­ten Objek­ten, die sich belie­big zer­le­gen, ana­ly­sie­ren, neu zusam­men­set­zen und kon­trol­lie­ren lie­ßen. Alles, so schien es, kön­ne der Mensch ergrün­den und schließ­lich beherr­schen. Doch tat­säch­lich haben sich genau die­se Annah­men mitt­ler­wei­le auf allen Ebe­nen als falsch erwie­sen: Erstens zeigt sich der Stoff, aus dem wir sind, als immer rät­sel­haf­ter, je tie­fer die Wis­sen­schaft in ihn ein­dringt; zwei­tens lässt er sich nicht in iso­lier­te Objek­te auf­tren­nen; und drit­tens führt der Ver­such einer tota­len Kon­trol­le über die Natur gera­de­wegs in den öko­lo­gi­schen Kol­laps – und damit in einen zuneh­men­den Kontrollverlust.

Doch die­se Erkennt­nis­se haben sich bis­her in unse­rem all­täg­li­chen Bewusst­sein und Han­deln nicht durch­set­zen kön­nen. Wir spre­chen noch immer selbst­ver­ständ­lich so, als sei die Natur etwas, das unab­hän­gig von uns »da drau­ßen« exi­stiert, eine »Umwelt«, die uns umgibt, wäh­rend wir selbst einer ande­ren Sphä­re ange­hör­ten: der »Zivi­li­sa­ti­on«. Wir tun so, als wür­den uns die Ver­wer­fun­gen in der Bio­sphä­re kaum mehr ange­hen als ein Film auf einer Lein­wand, den wir bei Bedarf ein­fach abschal­ten kön­nen. Inzwi­schen bewe­gen wir uns die mei­ste Zeit in einer digi­ta­len Tech­no­sphä­re, in der die nicht men­schen­ge­mach­te Welt nur noch als Bild, als Daten­satz vor­kommt. Doch so hoch die Mau­ern auch sind, die wir durch Tech­nik zwi­schen uns und der »Umwelt« errich­ten, so sehr erwei­sen sie sich am Ende als Illu­si­on. Durch Atmung und Stoff­wech­sel wer­den alle zwei Mona­te sämt­li­che Ato­me mei­ner Leber aus­ge­tauscht, alle sechs Wochen die mei­ner Haut. Was eben noch »da drau­ßen« war, ist im näch­sten Moment ein Teil von mir. Und umge­kehrt. Der Stoff da drau­ßen ist unser Stoff. Was wir ihm antun, tun wir letzt­lich uns selbst an. Die Vor­stel­lung, es gebe eine von uns getrenn­te Natur, mit der wir belie­big ver­fah­ren kön­nen, die wir abbag­gern, auf­hei­zen, zer­le­gen, neu zusam­men­set­zen und kon­trol­lie­ren kön­nen wie ein Bau­in­ge­nieur sei­ne Mate­ria­li­en, ist eine töd­li­che Täuschung.

Die neu­zeit­li­chen Natur­wis­sen­schaf­ten sind vor 400 Jah­ren mit der Vor­stel­lung ent­stan­den, dass die Welt eine gro­ße Maschi­ne sei, die sich vom Men­schen beherr­schen lie­ße. Man glaub­te, dass alles in der Natur auf den Stö­ßen von sehr klei­nen bil­lard­ku­gel­ar­ti­gen Teil­chen beru­he und sich daher berech­nen lie­ße wie der Flug von Kano­nen­ku­geln. Die Quan­ten­phy­sik hat aber gezeigt, dass im Inner­sten des­sen, was wir Mate­rie nen­nen, gar nichts Festes exi­stiert, son­dern nur ein schwin­gen­des Gewe­be von Ener­gie­fel­dern, die das gan­ze Uni­ver­sum durch­zie­hen und sich merk­wür­di­ger ver­hal­ten als die Figu­ren in »Ali­ce im Wun­der­land«. Zugleich muss­te man in der Bio­lo­gie erken­nen, dass der mecha­ni­sti­sche Ansatz nicht dazu geeig­net ist, Leben wirk­lich zu ver­ste­hen. Leben ist, das lehrt uns der jun­ge For­schungs­be­reich der Bio­se­mio­tik, durch den Aus­tausch von Bot­schaf­ten orga­ni­siert, nicht durch mecha­ni­sche Stö­ße. Und Leben kann auch etwas her­vor­brin­gen, was heu­te noch genau­so rät­sel­haft ist wie zu Zei­ten der ersten Men­schen: Bewusst­sein. Damit ist nicht allein die mensch­li­che Refle­xi­ons­fä­hig­keit gemeint, son­dern der Umstand, dass Men­schen – und ver­mut­lich auch vie­le Tie­re – einen inne­ren Erleb­nis­raum haben, eine Welt von Far­ben, Gerü­chen, Gefüh­len und Bil­dern, der sich nicht auf äuße­re Beschrei­bun­gen unse­rer Gehirn­ge­we­bes redu­zie­ren lässt. Nimmt man das alles zusam­men, dann zeigt sich, dass die Natur­wis­sen­schaf­ten kei­nes­wegs eine trost­lo­se mecha­ni­sche Natur ent­deckt haben, son­dern ein Uni­ver­sum, das auf Ver­bun­den­heit, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und Krea­ti­vi­tät beruht. Wir sind kei­ne bio­lo­gi­schen Robo­ter in einer maschi­nen­ar­ti­gen Welt, wie uns die Tech­no­kra­ten des Sili­con Val­ley sug­ge­rie­ren, son­dern Teil eines alles­ver­bin­den­den kos­mi­schen Selbst­ent­fal­tungs­pro­zes­ses, der von der sub­ato­ma­ren Ebe­ne über die Sphä­re des Lebens bis in die Wei­ten des Uni­ver­sums reicht.

Die­se neue Sicht wird auch von gro­ßer Trag­wei­te dafür sein, wie wir mit der pla­ne­ta­ren Kri­se umge­hen, in die uns eine jahr­hun­der­te­lan­ge Aus­beu­tung der Natur ein­schließ­lich des Men­schen gesteu­ert hat. Um dem abseh­ba­ren Kol­laps lebens­er­hal­ten­der Syste­me zu ent­ge­hen, brau­chen wir eine Tief­en­trans­for­ma­ti­on unse­rer Gesell­schaf­ten auf allen Ebe­nen. Wir brau­chen eine Öko­no­mie der Ver­bun­den­heit, die nicht der Pro­fit­ma­xi­mie­rung für Weni­ge dient, son­dern dem lang­fri­sti­gen Gemein­wohl, ein­schließ­lich der nicht-mensch­li­chen Lebe­we­sen. Wir brau­chen eine Poli­tik der Ver­bun­den­heit, die alle Men­schen in Ent­schei­dungs­pro­zes­se ein­be­zieht. Und wir brau­chen eine Wis­sen­schaft, die sich weder dem Wahn einer tota­len Natur­be­herr­schung noch kurz­fri­sti­gen öko­no­mi­schen Inter­es­sen ver­schreibt, son­dern der Erfor­schung von Koope­ra­ti­ons­for­men kom­ple­xer leben­der Systeme.

Die­ser Text basiert auf dem Buch »Der Stoff, aus dem wir sind. War­um wir Natur und Gesell­schaft neu den­ken müs­sen« (Piper Ver­lag, Mün­chen 2021).