»Die Toten bleiben jung«, so der Titel eines antifaschistischen Romans von Anna Seghers. Helmuth Hübener war mit 17 Jahren jüngster vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer. Jetzt wurde am 8. Januar sein 100. Geburtstag gewürdigt. Und zwar in der nach ihm benannten Schule in Hamburg-Barmbek. Das jüngste weibliche Opfer aus den Reihen des Widerstandes war Marianne Neubeck; ihr 100. Geburtstag war am 15. Juni 2024. Ermordet wurde sie 18-jährig im November 1942 in Auschwitz. Das allerjüngste Gestapo-Opfer war Marianne aus Moers, drei Jahre.
Ganz ohne Gerichtsverfahren wurden am 10. November 1944 dreizehn Deutsche, unter ihnen jugendliche Edelweißpiraten aus Köln-Ehrenfeld, durch Gestapo und SS öffentlich gehenkt. Sie waren mit 16 bis 18 Jahren die jüngsten ermordeten Widerstandskämpfer. Die Edelweißpiraten wurden lange Zeit als Kleinkriminelle dargestellt, und erst sehr spät begann man, sie wegen ihres Kampfes gegen die Nazis anzuerkennen. Sie hatten sich dem Arbeitsdienst bei der Wehrmacht entzogen, lebten im Verborgenen. Die Jugendlichen waren: Gustav Bermel, 17; Johann Müller, 16; Franz Rheinberger, 17; Bartholomäus »Barthel« Schink, 16; Adolf Schütz, 18 und Günther Schwarz, 16 Jahre (Informationen dazu in: »Er war 16 als man ihn hängte« von Alexander Goeb, Rowohlt 2001).
Edelweißpiraten und ausländische junge Zwangsarbeiter handelten im Rheinland oft gemeinsam. Und sie wurden gemeinsam Opfer. Aus Krefeld wurde berichtet, dass folgende Sowjetbürger zu Tode kamen: der 17-jährige Georg Jerjamin, am 9. Juni 1942 »auf der Flucht« erschossen, ebenso der 17-jährige Wasilj Porchomanko am 22. August 1942; infolge von Misshandlungen starb Fedor Doty 18-jährig am 15. Mai 1943; erschossen wurden Alexander Dojajew 18-jährig am 3. Februar 1945 und Maria Michaloyk, 19-jährig am 6. Dezember 1944.
Einer »Bekanntmachung« im Hamburger Anzeiger konnte die Leserschaft am 27. Oktober 1942 entnehmen: »Der am 11. August 1942 vom Volksgerichtshof wegen Vorbereitung zum Hochverrat und landesverräterischer Feindbegünstigung zum Tod und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilte 17 Jahre alte Helmuth Hübener aus Hamburg ist heute hingerichtet worden. Berlin, den 27. Oktober 1942. Der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof«.
Das »Verbrechen« von Helmuth Hübener, Verwaltungslehrling, aktives Mitglied der Mormonen-Gemeinde, bestand darin, gemeinsam mit seinen 18 Jahre alten Freunden, dem Schlosserlehrling Rudolf Gustav Wobbe, dem Malergesellen Karl-Heinz Schnibbe und dem Verwaltungslehrling Gerhard Düwer »antideutsche Streuzettel« verfasst und bei Nacht und Nebel verteilt zu haben. Hübener hatte im April 1941 angefangen, am Radio die deutschsprachigen Nachrichten des britischen Rundfunks (BBC) abzuhören.
Fortan notierte er sich Meldungen der BBC, um sie später auf der Schreibmaschine seiner Kirchengemeinde mit Durchschlägen abzuschreiben und zu kommentieren. »Nieder mit Hitler – Volksverführer – Volksverderber – Volksverräter« hieß es in seinen Aufrufen. Und: »Durch den uneingeschränkten Luftkrieg wurden bisher mehrere Hunderttausende wehrloser Zivilpersonen getötet. Die R.A.F. (Royal Air Force) ist nicht schuld an diesem Morden: denn ihre Flüge sind nur die Vergeltung für den mit Warschau und Rotterdam durch die deutsche Luftwaffe eingeleiteten Mord wehrloser Frauen und Kinder, Krüppel und Greise.« Solche und ähnliche, teilweise sehr ausführlich informierende Handzettel brachten der Verwaltungslehrling und »meine Jungs« zwischen April 1941 und Januar 1942 unter die Deutschen. Das hat er mit dem Leben bezahlt. Seine Freunde kamen mit langjährigen Haftstrafen davon.
Bei der Stolpersteinlegung in Düsseldorf für sie und ihre Familien wurde bekannt, dass Marianne Neubeck am 24. Oktober 1942 in Brüssel verhaftet worden war, wo sie die Zentrale der Widerstandsgruppe ihrer Familie gebildet hatte. Es wurde ausgeführt: »Wir weihen heute die Setzung von Stolpersteinen für Opfer des Faschismus aus Eller ein. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes hat die Patenschaft für die Familie Anna, Hans, Herbert und Marianne Neubeck, Reisholzer Straße 26, übernommen. Die Mutter Anna, Jüdin und Kommunistin, ermordet 1943 in Auschwitz. Der Vater Hans, Kommunist, starb 1940 als Kämpfer der Internationalen Brigaden gegen den spanischen Faschismus nach den Kämpfen an seinen Verletzungen. Die Kinder: Herbert wurde 1943 in Berlin-Plötzensee mit 20 Jahren hingerichtet und Marianne mit 18 Jahren in Auschwitz ermordet. Eine ganze jüdisch-kommunistische Familie ließ ihr Leben im antifaschistischen Widerstandskampf.« Die Verfolgung der Familie begann im März 1941 mit der Verurteilung der »Jüdin Anna Sarah Neubeck« zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus. Der Spiegel vom 23. Januar 1972 berichtet darüber unter der Überschrift »Der Wille muss gebrochen werden«; der Staatsanwalt in dem Verfahren war ein Hubert Schrübbers (1907-1979), vor 1945 NSDAP-Mitglied und von 1955 bis 1972 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz
In der Zeitschrift Moerser Monat, März 1998, wurde ebenfalls berichtet, wie eine ganze Familie auf Anweisung von SS-Reichsführer Heinrich Himmler von der Gestapo vernichtet wurde, und zwar auf Grund einer Denunziation oder Radio-Moskau-Meldung. Neben dem Foto der dreijährigen Marianne Leiss steht der Bericht: »Im Zweiten Weltkrieg waren die schwangere Theodora Wenzel, ihre knapp dreijährige Tochter Marianne, ihre Schwiegermutter, ihre Schwager Felix und Josef, ihre ebenfalls schwangere Schwester Hanna und deren Mann Wilhelm Christen von den Nationalsozialisten ermordet worden, weil Wenzel Leiss, der Ehemann von Theodora und Vater der kleinen Marianne, angeblich in Osteuropa zum Feind übergelaufen war.« Die Gestapo hatte die Familie ins KZ Sachsenhausen deportiert, wo sie ermordet wurde, auch die dreijährige Marianne Leiss. Ihr Vater kam 1949 aus sowjetischer Gefangenschaft. (Die örtliche Zeitung Der Grafschafter berichtete am 15. Februar 1943 über den Fall der zur polnischen Minderheit gehörenden Bergarbeiterfamilie: »Polnische Verräterfamilie unschädlich gemacht«.)
Unüberschaubar ist die Zahl namenlos gebliebener Widerstandskämpferinnen und -kämpfer. Unter den Tausenden Wehrmachtangehörigen, die zwischen 1940 und 1945 wegen »Fahnenflucht«, »Wehrkraftzersetzung« und »Selbstverstümmelung« hingerichtet wurden, waren hunderte junger Menschen. Exemplarischen Charakter haben Untersuchungen über die Hinrichtungsstätte im Zuchthaus Brandenburg. »Hier sind zwischen dem 1. August 1940 und dem 28.August 1944 170 junge Männer zwischen 17 und 25 Jahren wegen diverser ›Vergehen‹ hingerichtet worden«, heißt es im Vorwort einer im Jahre 2003 erschienenen Dokumentation von Karl-Heinz Jahnke (»Jugend unter der NS-Diktatur 1933-1945«, Rostock 2003).
Der Jugendwiderstand war vielfältig. Der DDR-Historiker Prof. Jahnke (1934-2009) legte Kurzbiografien von insgesamt 268 Jugendlichen vor – 26 von ihnen waren junge Frauen –, die von 1933 bis 1945 von den Nazis als Widerstandskämpferinnen und -kämpfer getötet wurden. In den dreißiger Jahren war die Mehrheit dieser Widerständler sozialdemokratisch, kommunistisch und gewerkschaftlich geprägt. Ab Kriegsbeginn kamen jene hinzu, die 1933 noch Kinder waren und die ohne politische Vorprägung aktiv wurden.
Jahnke führte aus, dass in der Zeit von der ersten Flugblattverteilung der Weißen Rose im Juni 1942 bis zur letzten Gerichtsverhandlung gegen Weißen-Rose-Mitglieder im Oktober 1943 49 ebenfalls sehr junge Widerstandskämpfer verurteilt und hingerichtet wurden. Sie seien weithin unbekannt geblieben.
Insgesamt erging es dem Jugendwiderstand wie dem Widerstand der Arbeiterbewegung: Er kommt kaum vor. Es könnten ja »die Falschen« geehrt werden –Kommunisten zum Beispiel. Sie leisteten 70 Prozent des Widerstandes, so stellte es das Institut für Zeitgeschichte in München fest. Konnte die Nachkriegsgesellschaft an Anne Frank und Weißer Rose nicht vorbeikommen, deren sich »das Ausland« schon lange angenommen hatte, so wurden die Jugendgruppen der »Rundfunkverbrecher« um Helmuth Hübener (Hamburg), Walter Klingenbeck (München), Josef Landgraf (Wien) und Jochen Bock (Erfurt) nicht den nachwachsenden Generationen zum Vorbild gegeben. Zu leicht hätte die Frage aufkommen können: Wenn diese jungen Leute wussten und handelten, warum dann nicht die Menschen gleichen und höheren Alters, die nach 1945 die Nachkriegsgesellschaften politisch und kulturell anführten? Grund genug, endlich die jungen Widerstandsgruppen den jungen Menschen von heute bekannt zu machen.
In welchen heutigen Protesten können Ansätze aus dem Jugendwiderstand wirken? Die von den Nazis so genannten Rundfunkverbrecher surften in den ausländischen Sendebereichen herum, brachen Tabus. Heute haben wir ganz andere und bessere Informationsmöglichkeiten und können warnend informieren, auf die Straße gehen, die Wahrheit sagen. Heute nutzen junge Leute Instagram und TikTok, manche auch noch Facebook, um damit demokratische Öffentlichkeit herzustellen. Aber manchmal gewinnt man den Eindruck, dass der Medienmacht von Musks X (früher Twitter) oder dem Auftreten der extremen Rechten und Verschwörungsideologien auf diesem Feld nur schwer zu begegnen ist. Auch bei den Printmedien und den öffentlich rechtlichen Sendern müssen wir ständig dicke Bretter bohren.
Wir gehen in die Redaktionen, Schulen und Vereine. Und wir analysieren möglichst haarscharf die Aussagen z. B. der AfD. Im NSDAP-Programm stand zehn Jahre vor 1933 der Satz: »Deutscher kann nur sein, wer deutschen Blutes ist.« Dann wurde millionenfach nichtdeutsches Blut beseitigt.
Wenn heute die AfD von »Remigration« spricht, um ein Viertel unserer »nichtdeutschen« Bevölkerung zu vertreiben, dann muss uns das alarmieren. Erich Kästner mahnte: Man muss den Schneeball zertreten, bevor er zur Lawine wird. Nicht nur wachsende Anteile an Stimmen für Nazis kündeten das Unheil an, auch die Zustimmung des Groß- und Finanzkapitals für die Faschisten und die Zahl der von der Polizei Erschossenen. Die Zustimmung für die AfD, auch durch einen Großkapitalisten wie Elon Musk, sowie erneut die Zahl der von der Polizei Erschossenen sind alarmierend. In den letzten beiden Jahren wurde eine Höchstzahl an Opfern der Polizei erreicht. Einer von ihnen war der 16-jährige Senegalese Mouhamed Dramé, der in Dortmund starb.
Die Toten bleiben jung. Mouhamed bleibt nun für immer 16 Jahre jung, wie die kleine Marianne aus Moers drei Jahre bleibt.