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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Unvergessen: Widerstand und Opfer der Jugend

»Die Toten blei­ben jung«, so der Titel eines anti­fa­schi­sti­schen Romans von Anna Seg­hers. Hel­muth Hübe­ner war mit 17 Jah­ren jüng­ster vom Volks­ge­richts­hof zum Tode ver­ur­teil­ter Wider­stands­kämp­fer. Jetzt wur­de am 8. Janu­ar sein 100. Geburts­tag gewür­digt. Und zwar in der nach ihm benann­ten Schu­le in Ham­burg-Barm­bek. Das jüng­ste weib­li­che Opfer aus den Rei­hen des Wider­stan­des war Mari­an­ne Neu­beck; ihr 100. Geburts­tag war am 15. Juni 2024. Ermor­det wur­de sie 18-jäh­rig im Novem­ber 1942 in Ausch­witz. Das aller­jüng­ste Gesta­po-Opfer war Mari­an­ne aus Moers, drei Jahre.

Ganz ohne Gerichts­ver­fah­ren wur­den am 10. Novem­ber 1944 drei­zehn Deut­sche, unter ihnen jugend­li­che Edel­weiß­pi­ra­ten aus Köln-Ehren­feld, durch Gesta­po und SS öffent­lich gehenkt. Sie waren mit 16 bis 18 Jah­ren die jüng­sten ermor­de­ten Wider­stands­kämp­fer. Die Edel­weiß­pi­ra­ten wur­den lan­ge Zeit als Klein­kri­mi­nel­le dar­ge­stellt, und erst sehr spät begann man, sie wegen ihres Kamp­fes gegen die Nazis anzu­er­ken­nen. Sie hat­ten sich dem Arbeits­dienst bei der Wehr­macht ent­zo­gen, leb­ten im Ver­bor­ge­nen. Die Jugend­li­chen waren: Gustav Ber­mel, 17; Johann Mül­ler, 16; Franz Rhein­ber­ger, 17; Bar­tho­lo­mä­us »Bart­hel« Schink, 16; Adolf Schütz, 18 und Gün­ther Schwarz, 16 Jah­re (Infor­ma­tio­nen dazu in: »Er war 16 als man ihn häng­te« von Alex­an­der Goeb, Rowohlt 2001).

Edel­weiß­pi­ra­ten und aus­län­di­sche jun­ge Zwangs­ar­bei­ter han­del­ten im Rhein­land oft gemein­sam. Und sie wur­den gemein­sam Opfer. Aus Kre­feld wur­de berich­tet, dass fol­gen­de Sowjet­bür­ger zu Tode kamen: der 17-jäh­ri­ge Georg Jer­ja­min, am 9. Juni 1942 »auf der Flucht« erschos­sen, eben­so der 17-jäh­ri­ge Wasilj Por­cho­man­ko am 22. August 1942; infol­ge von Miss­hand­lun­gen starb Fedor Doty 18-jäh­rig am 15. Mai 1943; erschos­sen wur­den Alex­an­der Doja­jew 18-jäh­rig am 3. Febru­ar 1945 und Maria Mich­aloyk, 19-jäh­rig am 6. Dezem­ber 1944.

Einer »Bekannt­ma­chung« im Ham­bur­ger Anzei­ger konn­te die Leser­schaft am 27. Okto­ber 1942 ent­neh­men: »Der am 11. August 1942 vom Volks­ge­richts­hof wegen Vor­be­rei­tung zum Hoch­ver­rat und lan­des­ver­rä­te­ri­scher Feind­be­gün­sti­gung zum Tod und zum dau­ern­den Ver­lust der bür­ger­li­chen Ehren­rech­te ver­ur­teil­te 17 Jah­re alte Hel­muth Hübe­ner aus Ham­burg ist heu­te hin­ge­rich­tet wor­den. Ber­lin, den 27. Okto­ber 1942. Der Ober­reichs­an­walt beim Volksgerichtshof«.

Das »Ver­bre­chen« von Hel­muth Hübe­ner, Ver­wal­tungs­lehr­ling, akti­ves Mit­glied der Mor­mo­nen-Gemein­de, bestand dar­in, gemein­sam mit sei­nen 18 Jah­re alten Freun­den, dem Schlos­ser­lehr­ling Rudolf Gustav Wob­be, dem Maler­ge­sel­len Karl-Heinz Schnib­be und dem Ver­wal­tungs­lehr­ling Ger­hard Düwer »anti­deut­sche Streu­zet­tel« ver­fasst und bei Nacht und Nebel ver­teilt zu haben. Hübe­ner hat­te im April 1941 ange­fan­gen, am Radio die deutsch­spra­chi­gen Nach­rich­ten des bri­ti­schen Rund­funks (BBC) abzu­hö­ren.

Fort­an notier­te er sich Mel­dun­gen der BBC, um sie spä­ter auf der Schreib­ma­schi­ne sei­ner Kir­chen­ge­mein­de mit Durch­schlä­gen abzu­schrei­ben und zu kom­men­tie­ren. »Nie­der mit Hit­ler – Volks­ver­füh­rer – Volks­ver­der­ber – Volks­ver­rä­ter« hieß es in sei­nen Auf­ru­fen. Und: »Durch den unein­ge­schränk­ten Luft­krieg wur­den bis­her meh­re­re Hun­dert­tau­sen­de wehr­lo­ser Zivil­per­so­nen getö­tet. Die R.A.F. (Roy­al Air Force) ist nicht schuld an die­sem Mor­den: denn ihre Flü­ge sind nur die Ver­gel­tung für den mit War­schau und Rot­ter­dam durch die deut­sche Luft­waf­fe ein­ge­lei­te­ten Mord wehr­lo­ser Frau­en und Kin­der, Krüp­pel und Grei­se.« Sol­che und ähn­li­che, teil­wei­se sehr aus­führ­lich infor­mie­ren­de Hand­zet­tel brach­ten der Ver­wal­tungs­lehr­ling und »mei­ne Jungs« zwi­schen April 1941 und Janu­ar 1942 unter die Deut­schen. Das hat er mit dem Leben bezahlt. Sei­ne Freun­de kamen mit lang­jäh­ri­gen Haft­stra­fen davon.

Bei der Stol­per­stein­le­gung in Düs­sel­dorf für sie und ihre Fami­li­en wur­de bekannt, dass Mari­an­ne Neu­beck am 24. Okto­ber 1942 in Brüs­sel ver­haf­tet wor­den war, wo sie die Zen­tra­le der Wider­stands­grup­pe ihrer Fami­lie gebil­det hat­te. Es wur­de aus­ge­führt: »Wir wei­hen heu­te die Set­zung von Stol­per­stei­nen für Opfer des Faschis­mus aus Eller ein. Die Ver­ei­ni­gung der Ver­folg­ten des Nazi­re­gimes hat die Paten­schaft für die Fami­lie Anna, Hans, Her­bert und Mari­an­ne Neu­beck, Reis­hol­zer Stra­ße 26, über­nom­men. Die Mut­ter Anna, Jüdin und Kom­mu­ni­stin, ermor­det 1943 in Ausch­witz. Der Vater Hans, Kom­mu­nist, starb 1940 als Kämp­fer der Inter­na­tio­na­len Bri­ga­den gegen den spa­ni­schen Faschis­mus nach den Kämp­fen an sei­nen Ver­let­zun­gen. Die Kin­der: Her­bert wur­de 1943 in Ber­lin-Plöt­zen­see mit 20 Jah­ren hin­ge­rich­tet und Mari­an­ne mit 18 Jah­ren in Ausch­witz ermor­det. Eine gan­ze jüdisch-kom­mu­ni­sti­sche Fami­lie ließ ihr Leben im anti­fa­schi­sti­schen Wider­stands­kampf.« Die Ver­fol­gung der Fami­lie begann im März 1941 mit der Ver­ur­tei­lung der »Jüdin Anna Sarah Neu­beck« zu zwei­ein­halb Jah­ren Zucht­haus. Der Spie­gel vom 23. Janu­ar 1972 berich­tet dar­über unter der Über­schrift »Der Wil­le muss gebro­chen wer­den«; der Staats­an­walt in dem Ver­fah­ren war ein Hubert Schrüb­bers (1907-1979), vor 1945 NSDAP-Mit­glied und von 1955 bis 1972 Prä­si­dent des Bun­des­am­tes für Verfassungsschutz

In der Zeit­schrift Moer­ser Monat, März 1998, wur­de eben­falls berich­tet, wie eine gan­ze Fami­lie auf Anwei­sung von SS-Reichs­füh­rer Hein­rich Himm­ler von der Gesta­po ver­nich­tet wur­de, und zwar auf Grund einer Denun­zia­ti­on oder Radio-Mos­kau-Mel­dung. Neben dem Foto der drei­jäh­ri­gen Mari­an­ne Leiss steht der Bericht: »Im Zwei­ten Welt­krieg waren die schwan­ge­re Theodo­ra Wen­zel, ihre knapp drei­jäh­ri­ge Toch­ter Mari­an­ne, ihre Schwie­ger­mut­ter, ihre Schwa­ger Felix und Josef, ihre eben­falls schwan­ge­re Schwe­ster Han­na und deren Mann Wil­helm Chri­sten von den Natio­nal­so­zia­li­sten ermor­det wor­den, weil Wen­zel Leiss, der Ehe­mann von Theodo­ra und Vater der klei­nen Mari­an­ne, angeb­lich in Ost­eu­ro­pa zum Feind über­ge­lau­fen war.« Die Gesta­po hat­te die Fami­lie ins KZ Sach­sen­hau­sen depor­tiert, wo sie ermor­det wur­de, auch die drei­jäh­ri­ge Mari­an­ne Leiss. Ihr Vater kam 1949 aus sowje­ti­scher Gefan­gen­schaft. (Die ört­li­che Zei­tung Der Graf­schaf­ter berich­te­te am 15. Febru­ar 1943 über den Fall der zur pol­ni­schen Min­der­heit gehö­ren­den Berg­ar­bei­ter­fa­mi­lie: »Pol­ni­sche Ver­rä­ter­fa­mi­lie unschäd­lich gemacht«.)

Unüber­schau­bar ist die Zahl namen­los geblie­be­ner Wider­stands­kämp­fe­rin­nen und -kämp­fer. Unter den Tau­sen­den Wehr­macht­an­ge­hö­ri­gen, die zwi­schen 1940 und 1945 wegen »Fah­nen­flucht«, »Wehr­kraft­zer­set­zung« und »Selbst­ver­stüm­me­lung« hin­ge­rich­tet wur­den, waren hun­der­te jun­ger Men­schen. Exem­pla­ri­schen Cha­rak­ter haben Unter­su­chun­gen über die Hin­rich­tungs­stät­te im Zucht­haus Bran­den­burg. »Hier sind zwi­schen dem 1. August 1940 und dem 28.August 1944 170 jun­ge Män­ner zwi­schen 17 und 25 Jah­ren wegen diver­ser ›Ver­ge­hen‹ hin­ge­rich­tet wor­den«, heißt es im Vor­wort einer im Jah­re 2003 erschie­ne­nen Doku­men­ta­ti­on von Karl-Heinz Jahn­ke (»Jugend unter der NS-Dik­ta­tur 1933-1945«, Rostock 2003).

Der Jugend­wi­der­stand war viel­fäl­tig. Der DDR-Histo­ri­ker Prof. Jahn­ke (1934-2009) leg­te Kurz­bio­gra­fien von ins­ge­samt 268 Jugend­li­chen vor – 26 von ihnen waren jun­ge Frau­en –, die von 1933 bis 1945 von den Nazis als Wider­stands­kämp­fe­rin­nen und -kämp­fer getö­tet wur­den. In den drei­ßi­ger Jah­ren war die Mehr­heit die­ser Wider­ständ­ler sozi­al­de­mo­kra­tisch, kom­mu­ni­stisch und gewerk­schaft­lich geprägt. Ab Kriegs­be­ginn kamen jene hin­zu, die 1933 noch Kin­der waren und die ohne poli­ti­sche Vor­prä­gung aktiv wurden.

Jahn­ke führ­te aus, dass in der Zeit von der ersten Flug­blatt­ver­tei­lung der Wei­ßen Rose im Juni 1942 bis zur letz­ten Gerichts­ver­hand­lung gegen Wei­ßen-Rose-Mit­glie­der im Okto­ber 1943 49 eben­falls sehr jun­ge Wider­stands­kämp­fer ver­ur­teilt und hin­ge­rich­tet wur­den. Sie sei­en weit­hin unbe­kannt geblieben.

Ins­ge­samt erging es dem Jugend­wi­der­stand wie dem Wider­stand der Arbei­ter­be­we­gung: Er kommt kaum vor. Es könn­ten ja »die Fal­schen« geehrt wer­den –Kom­mu­ni­sten zum Bei­spiel. Sie lei­ste­ten 70 Pro­zent des Wider­stan­des, so stell­te es das Insti­tut für Zeit­ge­schich­te in Mün­chen fest. Konn­te die Nach­kriegs­ge­sell­schaft an Anne Frank und Wei­ßer Rose nicht vor­bei­kom­men, deren sich »das Aus­land« schon lan­ge ange­nom­men hat­te, so wur­den die Jugend­grup­pen der »Rund­funk­ver­bre­cher« um Hel­muth Hübe­ner (Ham­burg), Wal­ter Klin­gen­beck (Mün­chen), Josef Land­graf (Wien) und Jochen Bock (Erfurt) nicht den nach­wach­sen­den Gene­ra­tio­nen zum Vor­bild gege­ben. Zu leicht hät­te die Fra­ge auf­kom­men kön­nen: Wenn die­se jun­gen Leu­te wuss­ten und han­del­ten, war­um dann nicht die Men­schen glei­chen und höhe­ren Alters, die nach 1945 die Nach­kriegs­ge­sell­schaf­ten poli­tisch und kul­tu­rell anführ­ten? Grund genug, end­lich die jun­gen Wider­stands­grup­pen den jun­gen Men­schen von heu­te bekannt zu machen.

In wel­chen heu­ti­gen Pro­te­sten kön­nen Ansät­ze aus dem Jugend­wi­der­stand wir­ken? Die von den Nazis so genann­ten Rund­funk­ver­bre­cher surf­ten in den aus­län­di­schen Sen­de­be­rei­chen her­um, bra­chen Tabus. Heu­te haben wir ganz ande­re und bes­se­re Infor­ma­ti­ons­mög­lich­kei­ten und kön­nen war­nend infor­mie­ren, auf die Stra­ße gehen, die Wahr­heit sagen. Heu­te nut­zen jun­ge Leu­te Insta­gram und Tik­Tok, man­che auch noch Face­book, um damit demo­kra­ti­sche Öffent­lich­keit her­zu­stel­len. Aber manch­mal gewinnt man den Ein­druck, dass der Medi­en­macht von Musks X (frü­her Twit­ter) oder dem Auf­tre­ten der extre­men Rech­ten und Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gien auf die­sem Feld nur schwer zu begeg­nen ist. Auch bei den Print­me­di­en und den öffent­lich recht­li­chen Sen­dern müs­sen wir stän­dig dicke Bret­ter bohren.

Wir gehen in die Redak­tio­nen, Schu­len und Ver­ei­ne. Und wir ana­ly­sie­ren mög­lichst haar­scharf die Aus­sa­gen z. B. der AfD. Im NSDAP-Pro­gramm stand zehn Jah­re vor 1933 der Satz: »Deut­scher kann nur sein, wer deut­schen Blu­tes ist.« Dann wur­de mil­lio­nen­fach nicht­deut­sches Blut beseitigt.

Wenn heu­te die AfD von »Remi­gra­ti­on« spricht, um ein Vier­tel unse­rer »nicht­deut­schen« Bevöl­ke­rung zu ver­trei­ben, dann muss uns das alar­mie­ren. Erich Käst­ner mahn­te: Man muss den Schnee­ball zer­tre­ten, bevor er zur Lawi­ne wird. Nicht nur wach­sen­de Antei­le an Stim­men für Nazis kün­de­ten das Unheil an, auch die Zustim­mung des Groß- und Finanz­ka­pi­tals für die Faschi­sten und die Zahl der von der Poli­zei Erschos­se­nen. Die Zustim­mung für die AfD, auch durch einen Groß­ka­pi­ta­li­sten wie Elon Musk, sowie erneut die Zahl der von der Poli­zei Erschos­se­nen sind alar­mie­rend. In den letz­ten bei­den Jah­ren wur­de eine Höchst­zahl an Opfern der Poli­zei erreicht. Einer von ihnen war der 16-jäh­ri­ge Sene­ga­le­se Mou­ha­med Dra­mé, der in Dort­mund starb.

Die Toten blei­ben jung. Mou­ha­med bleibt nun für immer 16 Jah­re jung, wie die klei­ne Mari­an­ne aus Moers drei Jah­re bleibt.