Aus Linz, der Landeshauptstadt von Oberösterreich, stammen die Linzer Torte und der Opernsänger Richard Tauber. Der Komponist Anton Bruckner hat in der Donau-Stadt seine Spuren hinterlassen, Brucknerhaus und Brucknerfest zeugen davon. Und Marianne Jung wurde hier geboren. Marianne Who?
Eine Antwort gibt uns das Stadtarchiv, das auf ein Gebäude am Pfarrplatz 4 hinweist, heute Sitz der Stadtpfarre Linz. Auf der linken Seite des Tores zum Pfarrhof befindet sich eine Erinnerungstafel an ebendiese Marianne, mit ihrem Porträt im Profil. Die in antikisierten Versalien (V statt U) gravierte Inschrift lautet:
AN DIESER STELLE STAND DER VEBERLIEFERVNG NACH DAS HAVS, IN DEM MARIANNE JVNG VEREHELICHTE VON WILLEMER, GOETHES SVLEIKA AM XX NOV 1784 GEBOREN WVRDE. DER GEBVRTSSTADT MARIANNENS VON DER GEBVURTSSTADT GOETHES GEWIDMET.
Da Gründlichkeit zur Zunft der Archivare gehört, erfahren wir sogleich, dass an dieser Stelle nie ein Haus gestanden hat und Marianne bei ihrer Geburt auch nicht den Namen Jung trug, sondern Pirngruber hieß wie ihre Mutter. Diese heiratete erst vier Jahre später den Namensgeber Jung, Direktor einer Schauspielergruppe.
Tiefer wollen wir nicht in die Verästelungen vordringen. Für uns ist vor allem eines wichtig, was auch der Anlass für die Erinnerungstafel war: Aus Marianne, inzwischen in Frankfurt am Main lebend und verheiratete von Willemer, wurde, als sie 30 Jahre alt war, durch die Macht der Liebe und der Poesie die »Suleika« in Johann Wolfgang Goethes Spätwerk »West-östlicher Divan«. Der 65-jährige, ihr innig verbundene Dichter verwandelte sich seinerseits in »Hatem«.
Im Sommer 1814 hatte Goethe voller Begeisterung den einige Jahre zuvor erstmals aus dem Persischen ins Deutsche übersetzten »Diwan« gelesen, im arabischen Raum eine Gattungsbezeichnung für eine Sammlung von Liedern und Gedichten. Verfasser war der aus der heutigen Millionenstadt Schiras im Süden Irans stammende Lyriker Hafis (1320 – 1390), Lehrer einer Koran-Schule, Mitglied des Sufi-Ordens und Hofdichter verschiedener Fürsten, wie ich dem Goethe-Lexikon von Metzler entnehme. Ein marmornes Grabmal erinnert an den berühmten Dichter.
Von der Lektüre fasziniert und inspiriert, begann Goethe mit der Abfassung eigener Verse. So entstand in mehreren Phasen hauptsächlich zwischen 1814 und 1819 ein dichterischer Dialog zwischen Orient und Okzident, der »West-östliche Divan«.
Die lyrische Reise, »so innig orientalisch« (Goethe), umfasst in meiner 12-bändigen Goethe-Ausgabe 128 Seiten. Sie besteht aus zwölf Teilen, von Goethe »Nameh« genannt, dem persischen Wort für episches Gedicht: Moganni Nameh, Buch des Sängers; Hafis Nameh, Buch Hafis; Uschk Nameh, Buch der Liebe und so weiter. Als achtes Buch dann, mit 30 Seiten alle anderen Teile hinter sich lassend und überragend, Suleika Nameh, Buch Suleikas: das »kostbare Zeugnis« tiefer »Zuneigung des Dichters zu der schönen und kunstsinnigen Marianne von Willemer, die von der jungen Frau erwidert wurde« (aus »Anmerkungen« in der Goethe-Ausgabe).
In dem ausführlichen und umfangreichen Kommentar »Noten und Abhandlungen«, den er seinem Werk hinzufügte, erwartete Goethe einen zukünftigen »Divan«, den »spätere Gelehrte und Dichter erstellen werden«.
Zweihundert Jahre später schreiben Barbara Schwepcke und Bill Swainson als Herausgeber in der Einleitung ihrer Sammlung »Ein neuer ›Divan‹ – Ein lyrischer Dialog zwischen Ost und West«: »Dieser zukünftige ›Divan‹ liegt nun hier vor.« Der nachtblau gebundene Band ist 2019 aus Anlass des runden Jubiläums der Erstveröffentlichung des »West-östlichen Divan« im Jahre 1819 erschienen und zwar bei Gingko Library, London, und im Suhrkamp Verlag, Berlin.
Im Vorwort zur englischen Ausgabe schrieb der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim dazu (ich zitiere aus dem deutschen Vorwort): »Diese Neuinterpretation von Goethes bedeutendem Werk gibt uns die Möglichkeit, uns erneut mit seinen Gedanken zu beschäftigen – was heute, angesichts des Zustands der Welt, dringend nötig ist.« Barenboim hofft, dass das Werk »dabei helfen wird, Goethes Weisheit an Menschen überall zu vermitteln. Aus unserer eigenen Erfahrung wissen wir, wie mächtig diese Weisheit sein kann.«
Die Herausgeber erläutern ihre Vorgehensweise im Vorwort: »Um diesen lyrischen Dialog im Anschluss an Goethe zu ermöglichen, beauftragten wir 24 Dichter, Gedichte als Antworten auf die Themen der zwölf Bücher von Goethes ursprünglichem ›Divan‹ zu schreiben. Die zwölf Lyriker aus dem ›Osten‹ schreiben auf Arabisch, Persisch und Türkisch, diejenigen aus dem ›Westen‹ auf Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch, Slowenisch und Spanisch.« Die Dichter sollten sich angeregt fühlen, »sich mit einer anderen Poesie und Kultur als ihrer eigenen auseinanderzusetzen, sich neuen Einflüssen und Erfahrungen zu öffnen«.
Um nach dem Erscheinen der englischen Ausgabe eine deutsche Fassung zu erstellen, wurden nicht einfach die englischen Texte ins Deutsche übersetzt. In Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag beauftragten die Herausgeber 21 deutschsprachige Dichterinnen und Dichter – unter anderem Nora Bossong, Elke Erb, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Marion Poschmann, Monika Rinck, Raoul Schrott, Lutz Seiler, Jan Wagner –, eigene Übertragungen der Originalgedichte ins Deutsche zu erstellen. Ihnen standen vier erfahrene Übersetzerinnen und Übersetzer mit wörtlichen Interlinearübersetzungen zur Seite. Vier Essays über dichterische »Divan«-Echos seit der Erstveröffentlichung, über »Goethe und ›der Osten‹ von heute«, über die neuen Aufgaben des Übersetzers und »Wie Persien nach Deutschland kam« runden den wunderschönen Band ab.
Der neue »Divan« beginnt wie sein großes Vorbild mit dem »Buch des Sängers«. Der »Brief an Goethe« des 90-jährigen syrischen Lyrikers Adonis, von Lutz Seiler nachgedichtet nach einer Interlinearübersetzung aus dem Arabischen von Stefan Weidner, eröffnet den poetischen Reigen. Ehren wir diesen »großen alten Meister der Poesie, des Säkularismus und der freien Meinungsäußerung in der arabischen Welt«, stimmen wir uns ein auf lyrische Musik:
»Der Westen liegt hinter Dir, aber der Osten nicht vor mir. / Zwei Ufer eines einzigen Flusses, / der tiefer strömt als jeder Abgrund / und stärker trennt als jeder Fels. /…Die Mythen sind verwundet, im Osten wie im Westen / und ich bin nur das Blut, / das abtropft.«
Kein reales Liebespaar führt in dem »neuen Divan« die Feder, im Buch Suleika sind nur zwei Gedichte zu finden. »Der karmesinrote Schatten« der 1962 in Dubai geborenen Nujoom Alghanem, einer in der arabischen Welt bekannten Filmemacherin und Schriftstellerin, lässt immerhin Hatem und Suleika zu Wort kommen. Getrennt und fern voneinander ist ihre Liebesklage zum Steinerweichen. Die Nachdichtung kommt von Daniela Seel, Dichterin und Verlegerin, die Interlinearübersetzung aus dem Arabischen ebenfalls von Stefan Weidner. Raoul Schrott, 1964 in Österreich geborener Autor zahlreicher Gedichtbände, Romane und Essays, versetzt in »Suleika spricht« seine Protagonistin in die Gegenwart: Eine zusammen mit dem Vater als Kind aus der iranischen Großstadt Schiras nach Deutschland geflohene junge Frau reflektiert ihr Hiersein: » … ein leben ist nur zu führen wenn man sich nicht selbst vermisst/aber das ist leicht gesagt in diesem frankenhausen.«
Und was hätte Goethe zu diesem neuen »Divan« angemerkt? Vielleicht hätte er folgenden Vers zitiert, mit dem der Nachlass zu seinem »Divan« beginnt: »Wer das Dichten will verstehen / Muss ins Land der Dichtung gehen; / Wer den Dichter will verstehen, / Muss in Dichters Lande gehen.«
Wohlan, liebe Leserin, lieber Leser, folgen Sie der Aufforderung.
Nachtrag: Es gibt ein Bonmot unbekannter Herkunft, das da lautet: Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau. Hinter jeder erfolgreichen Frau steht ein Mann, der sie zurückhält. Ein Paradebeispiel dafür ist der Liebesdialog zwischen Suleika und Hatem, denn: Marianne »ist nicht nur die geliebte und in der Dichtung besungene Frau, sie ist auch die Autorin einiger Gedichte, die zu den besten des ›Divan‹ zählen« (Claudio Magris, Essay zur Etappe Linz in seinem fulminanten Reisebericht »Donau«). Die Gedichte mit den Anfängen »Hochbeglückt in deiner Liebe…«, »Was bedeutet die Bewegung?«, »Ach, um deine feuchten Schwingen…« stammen von Marianne und wurden von dem Patriarchen Goethe vereinnahmt, einfach so. Noch einmal Magris: »Ihre wenigen Verse gehören zu den größten, die je geschrieben wurden, und doch genügt dies nicht, Marianne Willemer Einlass in die Literaturgeschichte zu verschaffen, trotz der Beachtung, die ihr scharfsinnige Gelehrte zuteilwerden ließen.«
Immerhin: Ossietzky ließ ihr Gerechtigkeit widerfahren.
Barbara Schwepcke, Bill Swainson: »Ein neuer Divan«, Suhrkamp Verlag, 225 Seiten, 30 €