»Unterdeutschland« lautet der Titel eines Romans mit unverkennbarem Bezug zur Gegenwart. Weite Passagen des Buch-manuskripts – aufgefunden und herausgegeben anno 2024 – spielen zwar im Jahre 2022. Aber die Story handelt von einer Gefährdung, wie sie uns seit 2020 als tödliche Bedrohung politisch und medial vermittelt wird.
In Berlin schwebt über dem ehemaligen Flugfeld Tempelhof eine giftige Wolke. Sie ist die Folge eines Anschlags im Luftraum über der Hauptstadt. Die Medien taufen die schwebende Bestie »Azova«. Azova bedroht die Sicherheit der Stadt und ihrer Bewohner. Verschiedene staatsnahe Institute unterstreichen die beunruhigende Gefahr. Aus Expertensicht handelt es sich um gefährliche Viren, angeblich aus einem russischen Labor. Wer denkt da nicht an Corona, das Robert-Koch-Institut und an Wuhan?
Der Finanzminister der autoritären Demokratie »Unterdeutschland« schaltet großzügig Mittel frei, um allen Anforderungen zumindest budgetär gerecht zu werden. Als in kurzer Folge drei Tote und ein herrenloser Hund auftauchen, wird Kommissar Hans Falck von der privaten Nachfolge-Organisation der Berliner Polizei auf den Fall angesetzt.
Auf seiner Tour durch den »tiefen Staat« kommt Falck in ein Aktenvernichtungs-Zentrum. Er trifft auf die Hacker einer ominösen Organisation. Zusammen mit anderen Protagonisten gerät er ins Getriebe mächtiger wirtschaftlicher und politischer Interessen und stellt endlich fest, vom Geheimdienst VS (sic!) auf eine falsche Fährte gesetzt worden zu sein.
Bei ihrer Odyssee durch »Unterdeutschland« begegnen Falck & Co. denkenden Autos und autonomen Drohnen. Sie lernen Entwickler von High-Tech-Waffen kennen und lassen sich erklären, wie und warum die Leichen hochrangiger Häftlinge als Energieträger verwertet werden. Sie treffen auf sensibel geschützte V-Leute, die nach alphabetischen Prinzipien anonymisiert und aus der Rechtsordnung ausgegliedert sind.
Wenn Falck nach Feierabend in seiner Kreuzberger Kneipe zu erklären versucht, was ihm widerfährt und wie dieses Land sich rasant verändert, stößt er auf Unverständnis. Zu stark haben sich – ohne dass es jemandem aufgefallen wäre – die Lebenswelten der Bürger unter den Herrschaftsbedingungen der autoritären Demokratie entkoppelt. Auf der dunklen Seite der Macht regiert eine über jedes Maß angewachsene Kontrollagentur durch den auf Dauer gestellten Ausnahmezustand.
Das Gerüst der Romanerzählung wird auf vielfältige und teils groteske Weise zeitbezüglich, historisch, wissenschaftlich und literaturgeschichtlich angereichert – mit Kreuzberger Kiezdialekt und Berliner Originalen, Schweinepest und Aerosolen, Hakenkreuz und Frontex, Faschisten und Verschwörungstheorien, den Schriftstellern Johannes Mario Simmel und Oskar Panizza, dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz und Fridays for Future, dem Gesundheitsministerium und Abu Ghraib.
Die Fülle von Bezügen bereichert die Lektüre, macht sie zu einem intellektuellen Vergnügen, unterhält auf heiterste Art. Wortspiele, Gedankensprünge und Abkürzungskapriolen geben der Lektüre Witz und Eleganz. In feiner Dosierung enthält der Roman surrealistische Elemente, die den Rahmen der alltäglichen Realität ins Unsägliche sprengen. Wie Kippfiguren begegnen sich Schrecken und Realität.
»Unterdeutschland« thematisiert auf beängstigende Weise den paranoiden Irrsinn der Wirklichkeit, die inhuman-verbrecherischen Aspekte der ordnungs-, polizei- und militärpolitischen Realität unserer aktuellen Gegenwart. Den bedrohlichen Hintergrund bilden keine erzählerischen Fiktionen. Vielmehr werden reale Projekte angesprochen: Werkzeuge, mit denen Staaten und Konzerne auf unseren Alltag in beängstigender Weise Einfluss nehmen.
Dem Autor des Romans, Olaf Arndt, kommt dabei zustatten, dass er seit mehr als zwei Jahrzehnten die Entwicklung sämtlicher Technologien politischer Kontrolle kritisch begleitet. Den teuflischen Prozess der »schock-strategischen« Entstehung (Naomi Klein) des »Überwachungskapitalismus« (Shoshana Zuboff) hat Arndt eingehend untersucht und über dessen unterdrückerische Kontrolldimensionen aufklärt.
Mit »Unterdeutschland« liegt ein literarisches Werk vor, das die Schrecken der Gegenwart wuchtiger schildert, als ein Sachbuch es vermocht hätte. Erlebbar ist schon jetzt die Entkoppelung von Lebenswelten: Freunde werden zu Gegnern, kritische Linke zu affirmativen Corona-Gläubigen, Gewerkschafter zu Agenten des pharmazeutisch-industriellen Komplexes, Kirchen enthalten sich der Seelsorge, Lehrer fühlen sich von Schülern bedroht. Wir werden uns fremd.
»Unterdeutschland« ist ein gesellschaftlicher Entwicklungsroman, ein aufrüttelndes Non-Fiction-Werk in literarischer Gestalt, ein Jahrhundert-Buch, eine schriftstellerische und politische Herausforderung – sowie ein verlegerisches Juwel (fadengeheftetes Hardcover, zwei farbige Lesebändchen, gesetzt aus EB Garamond und Poplar), obendrein ergänzt um ein üppiges, frei zugängliches Glossar im Internet.
Olaf Arndt: Unterdeutschland. Roman. [Innentitel: Aufzeichnungen des AutorInnenkollektivs BBM/VD, gefunden nach deren Auslöschung im Jahr 2024. Herausgegeben von Olaf Arndt.], Bremen: Mox & Maritz 2020, 520 Seiten, 19,80 €. Anmerkungen unter: https://unterdeutschland.bbm.de/