Wir erinnern uns: Monatelang sollten uns die Corona-Maßnahmen mit der Behauptung versüßt werden, dass wir vor dem Virus »alle gleich« seien. Keine Beschreibung der Realität, sondern eine Durchhalteparole, damit wir die Kriegskabinett-Einigkeit unserer Regierungen und Parlamente ebenso einig ertragen würden. Doch wir waren nicht gleich und wir sind nicht gleich. Durch die Folgen der Pandemie-Politik sind die Ungleichheiten nur noch deutlicher geworden. Die alleinerziehende Verkäuferin wird durch Corona härter getroffen als der Marketing-Manager mit Frau und Kind. Sie lebt in einer kleinen Mietwohnung, er in einem Haus mit Garten. Sie muss jeden Morgen zur Arbeit, er bleibt im Home-Office. Sie weiß nicht, wie sie ihrem Kind beim digitalen Unterricht helfen soll, schon weil ihr die Zeit und der Laptop fehlen. Er hat Zeit, gemeinsam mit seiner Frau, und natürlich die nötigen Computer.
Diverse Untersuchungen haben in der Zwischenzeit bestätigt, was wir sowieso schon wussten. So wie der im Frühjahr vom Wissenschaftszentrum Berlin veröffentlichte Datenreport zur sozialen Ungleichheit: Die ökonomisch Starken kommen mit den Folgen der Pandemie besser klar als die Schwachen. Und Corona hat die schon vorher skandalös ungleichen Verhältnisse verschärft. Menschen in schlechter bezahlten Jobs sind stärker von Kurzarbeit bedroht. Minijobber haben häufig ihre Arbeit verloren. Kleine Geschäftstreibende oder Kinos können die monatelangen Verluste nicht durch die staatlichen Hilfen ausgleichen – und haben inzwischen zahllose Kunden dauerhaft an Amazon oder Netflix verloren. Wer schon vorher (gemessen am Einkommen) zu den unteren 20 Prozent der Gesellschaft gehörte, gerät überdurchschnittlich oft in finanzielle Notlagen.
Das Problem heißt soziale Ungerechtigkeit, und die war schon vorher da und wird auch nach Corona noch da sein. Sie wird nicht kleiner, sondern größer. Jede und jeder Sechste lebt mittlerweile unter der Schwelle zur Armut. Das ist mehr als in den Neunzigerjahren. Wer einmal arm ist, bleibt es länger als noch vor einigen Jahren.
Ein zentrales Thema des Wahlkampfs? Nein, kein Thema des Wahlkampfs. Dabei könnte man mit den notwendigen Fragen und Forderungen die Wahlplakate aller Parteien mit Inhalt füllen:
Was ist gerecht?
Wie kann diese Gerechtigkeit erreicht werden?
Wie beseitigen wir hier in Deutschland den größten Niedriglohnsektor Europas?
Wer braucht die schwarze Null, und wird sie – gerade mit den hohen Corona-Schulden im Nacken – nicht sowieso nur von den Armen finanziert?
Welche finanziellen und inhaltlichen Investitionen in die Bildung wollen wir auf den Weg bringen? Wann wollen wir die Umwandlung der Universitäten in geistige McDonald’s Buden rückabwickeln? Und diese höheren Lehranstalten wieder zu Orten gesellschaftlicher Diskussionen über Gerechtigkeit und Demokratie machen? Und wie können wir Hartz IV möglichst schnell durch eine menschenwürdige Grundsicherung mit höheren Regelsätzen oder eine Arbeitslosenversicherung mit einem Mindestarbeitslosengeld und der Ausweitung der Bezugsdauer ersetzen?
Auch eine an den Alltagsbedürfnissen von alten Menschen orientierte Mindestrente wäre ein tolles Wahlkampfthema. Und natürlich eine Kindergrundsicherung und ein gesetzlicher Anspruch auf Kinder- und Jugendarbeit, denn »Kinder verdienen mehr« (Paritätischer Gesamtverband). Aber auch Flüchtlinge verdienen mehr Menschenrechte und deshalb ein individuelles Recht auf Asyl und Arbeitsmöglichkeiten.
Zum Wahlkampf für die soziale Gerechtigkeit gehört natürlich ebenfalls die Verbesserung und Vermenschlichung der Pflege für Kranke und Alte: Die sofortige Deckelung des Eigenanteils für die Heimkosten, perspektivisch aber eine Vollkasko-Pflegeversicherung, eine Kranken-Bürgerversicherung, die Reprivatisierung von Krankenhäusern und Altenheimen, das Verbot von Börsengängen mit Gesundheitseinrichtungen, viele kleine Polikliniken mit Krankenbetten in der Fläche.
Großartig für den Wahlkampf eignen würde sich auch die Idee, eine Sozialerbschaft einzuführen, wie sie etwa der Ökonom Thomas Piketty vorschlägt. Jeder Bürger bekäme aus einem aus Steuern gespeisten Fonds ein Startkapital ausbezahlt. Auch Menschen ohne Erbe könnten so in eine Ausbildung oder eine Immobilie investieren.
Es ist belegt: Wer arm ist, geht seltener wählen. In Hamburg etwa lag die Wahlbeteiligung im Stadtteil Billbrook, einem der ärmsten der Hansestadt, bei der Bundestagswahl 2017 bei 50,5 Prozent – es wählte also nur jeder zweite. Im reichen Vorort Wohldorf-Ohlstedt dagegen lag die Wahlbeteiligung bei satten 89,5 Prozent. Grund für den Verzicht der Armen auf ihr Wahlrecht dürften vor allem die nicht unberechtigten Zweifel sein, dass die Politik etwas an der Misere der Abgehängten ändern kann oder will. So sind – umgekehrt – die Armen auch keine wirklich interessante Zielgruppe für schwarze, grüne und gelbe Parteien.
Noch drei Sätze für ein Wahlplakat: Es ist kein Naturgesetz, dass die untere Hälfte der Deutschen fast nichts besitzt, während die oberen zehn Prozent über gut zwei Drittel des Nettovermögens verfügen. Ebenso wenig ist es Zufall, dass jedes fünfte Kind von Armut bedroht ist. Es handelt sich um politisch gewollte oder in Kauf genommene Zustände.