Ein Festival in Corona-Zeiten? In Hamburg wird der Versuch unternommen. Das diesjährige Sommerfestival auf Kampnagel findet statt: vom 12. bis zum 30. August in den Hallen und außerhalb im »Avant-Garten«. Die Zuschauermengen sind reduziert, so finden nun in der großen Halle 6 nicht 840, sondern nur 250 Personen Platz. Selbst im Festivalgarten heißt es: einchecken, entweder über die QR-Codes an den Sitzplätzen oder über Kontaktformulare. Das von mir ausgewählte Stück der nordirischen Choreografin Oona Doherty »Hope Hunt – and the Ascension into Lazarus« fand draußen statt und begann schon um 19 Uhr. Vorher im Außenbereich: eine Band mit schöner arabischer Musik auf der Waldbühne. Die anderen Bühnen hatten noch kein Programm. Ich stieß auf das »Peng! Collective«, klein und unscheinbar. Es bestand aus einer »Interaktiven Installation«, ein Videogerät mit zwei Stühlen davor – besetzt. Ein erklärender Zettel an der Wand: »Klingelstreich beim Kapitalismus«. Die Klimakatastrophe ist in vollem Gange und »die Wirtschaft rast meteoritengleich auf eine globale Rezession zu«. Die Pandemie schaffe erstmals den Raum für ein »globales Innehalten«, sagt die Gruppe. Sie ergreift die Chance, »um grundlegende Systemfragen zu stellen«. Als fingiertes Bundesamt hat Peng! »Gespräche mit den oberen Etagen von zehn deutschen Unternehmen geführt und nachgefragt: Wie bereit sind die Unternehmen, sich staatlich regulieren zu lassen?« Um welche Firmen es sich handelte und ihre Antworten erfuhr ich nicht, leider ließ es die Zeit nicht zu, dem Video zu folgen. Die Überrumpelungstaktik erinnerte mich an den unsterblichen Horst Tomayer, der als »Luis Trenker« bei Ernst Jünger anrief und so auch noch Aufnahme in dessen Gesamtausgabe fand.
Abgelenkt durch Peng!, kam ich fast zu spät zu Oona Doherty. Angekündigt war ihr Stück als eine »energetische Choreografie über die unteren sozialen Schichten Europas und die ambivalenten Konzepte von Geschlecht und Klasse«. Ihre Performance: in der Nähe des Osterbek-Kanals im Freien auf einer Wiese, rundherum Häuser – das Publikum, mit Sicherheitsabstand, war hier geschützter als in den Hallen. Die »Männlichkeit in der europäischen Arbeiterklasse« (Info-Text) – hier ein schwarzer Golf mit lauter Rock-Musik und ein Mann mit einer Flasche in der Hand. Der Mann, der »viele Männer ist«, taucht auf, steigt ein, rast davon. Ein knabenhaftes Wesen mit streichholzkurzem Haar versucht, ihn aufzuhalten, rennt hinterher, eine »Jagd nach Hoffnung«. Sie wendet sich um, läuft durch die Zuschauer zur Bühne, die sich nur zentimeterhoch über den Boden erhebt. Ist sie, Oona Doherty, dieser Mann, der »in unterschiedliche Figuren« mutiert?
Der Tanz, manchmal aufbegehrend, dann erschöpft am Boden. Die Arme hochreißend schreit sie: »Death« und »Scheiße«, dreimal hintereinander. Zeigt auch mal Hip-Hop-Elemente im Tanz. Dann immer wieder »Home«- und »Hope«-Ausrufe mit viel Gestik. Sie zieht den dunklen Pulli, die Hose und Socken aus. Alles fein zusammengelegt vor die Bühne platziert. Nun steht ein weißes Wesen vor uns. Musikwechsel. Chorgesang, Mönche, himmlische Musik, die fließt so dahin. Eine Anleihe beim estnischen Mode-Komponisten Arvo Pärt, von Choreografen heute geschätzt. Kein Rhythmus. Sie verlässt die Bühne, läuft über die Brücke, die den Kanal überspannt. Klatschen. Krach vom Wasser her – Fußballfans? Nein, vom Lautsprecher. Sie kommt zurück, verbeugt sich. Schluss? Anscheinend. Der Text von Doherty hilft nicht weiter, hinterlässt Ratlosigkeit. »Verblassen zum weißen Lazarus, der sich als Phönix erhebt. Ein Versuch«, so ihre Interpretation, »das Stereotyp des abgehängten Mannes zu dekonstruieren«. Nein, es geht weiter, »und es im strahlenden Weiß einer Caravaggio-Vorhölle erstrahlen zu lassen«. Ach, ich habe davon gar nichts mitbekommen.
Diese Hölle scheint eher das Eröffnungsstück in Halle 6 von Florentina Holzinger bereitet zu haben mit den »Martial-Arts-Kampfszenen« ihrer Tänzerinnen und viel fließendem Blut und einigem Urin. Welch ein Glück, in der freien Natur mit der eher sanften Oona die Zeit verbracht zu haben.