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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Unklare Lage

 

Am Abend vor dem 75. Jah­res­tag der Befrei­ung des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Ausch­witz erreich­te der »Tat­ort« des Baye­ri­schen Rund­funks mit dem Titel »Unkla­re Lage« eine »Super-Quo­te« (Ham­bur­ger Abend­blatt am 28. Janu­ar, zwei Tage danach). 9,41 Mil­lio­nen Men­schen, das ist ein Markt­an­teil von 26,4 Pro­zent, »sahen zu, wie die TV-Kom­mis­sa­re Franz Leit­mayr und Ivo Batic mit einem Aus­bruch all­ge­mei­ner Hyste­rie in Mün­chen zu kämp­fen hatten«.

Ich erin­ne­re mich genau an den Tag, als die Hyste­rie in Mün­chen aus­brach, die die­sem Poli­zei­film als Vor­la­ge dien­te. Ich war damals in Würz­burg, und es war Frei­tag, der 22. Juli 2016. Vier Tage zuvor waren nahe Würz­burg in einer Regio­nal­bahn fünf Men­schen mit Beil und Mes­ser ange­grif­fen und ver­letzt wor­den, von einem als min­der­jäh­rig und unbe­glei­tet regi­strier­ten Flücht­ling. Die Tat hat­te die Men­schen aufgewühlt.

Jetzt also erneut Bay­ern, dies­mal Mün­chen. Wie sich nach und nach aus den Nach­rich­ten her­aus­klar­te, hat­te ein 18-Jäh­ri­ger in und vor einer McDonald’s-Filiale in der Nähe des Olym­pia-Ein­kaufs-Zen­trums (OEZ) neun Men­schen erschos­sen, wei­te­re ver­letzt und sich anschlie­ßend selbst getö­tet. Vie­le Opfer waren jun­ge Leu­te mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Kurz nach den Schüs­sen gab es laut Poli­zei »eine aku­te Ter­ror­la­ge«: Sind es meh­re­re Täter? Han­del­te der jetzt tote Jugend­li­che allein? Hat­te viel­leicht eine Zivil­strei­fe ihn erschos­sen? War­um hat sich ein Auto mit zwei Insas­sen in hohem Tem­po vom Tat­ort entfernt?

Fahn­dung auf Hoch­tou­ren. Mün­chen hält den Atem an. Nach­rich­ten und Spe­ku­la­tio­nen über­schla­gen sich. Dann die Ent­war­nung: Der jun­ge Mann sei ein Ein­zel­tä­ter. Als Haupt­mo­tiv ver­kün­den die Ermitt­ler Rache wegen Mobbing.

Unab­hän­gi­ge Exper­ten wider­spre­chen. Der Zwei­fel bleibt, mit ihm die Anti-The­se, birgt doch schon das Datum mög­li­cher­wei­se einen Fin­ger­zeig: Auf den Tag genau fünf Jah­re zuvor hat­te der Rechts­ter­ro­rist Anders Brei­vik in Utoya und Oslo 77 Men­schen erschossen.

Es ver­gin­gen aller­dings noch mehr als drei Jah­re, bis Mit­te Okto­ber 2019 das Atten­tat vom Lan­des­kri­mi­nal­amt in Mün­chen öffent­lich neu bewer­tet wur­de: als »poli­tisch moti­vier­te Gewalt­kri­mi­na­li­tät von rechts« aus »rechts­ra­di­ka­ler und ras­si­sti­scher Gesinnung«.

Zurück zum Fern­seh­film: Schüs­se fal­len in einem Münch­ner Bus, tref­fen den Fahr­kar­ten­kon­trol­leur. Der Täter, ein jun­ger Mann, flüch­tet, wird vom SEK gestellt und erschos­sen. Er war mit Ruck­sack und Waf­fen anschei­nend unter­wegs zu sei­ner frü­he­ren Schu­le. Was woll­te er dort? Gibt es einen Mit­tä­ter, noch einen Amok­läu­fer? Eine Augen­zeu­gin ist sich sicher. Gibt es einen ter­ro­ri­sti­schen Hin­ter­grund? Aus­nah­me­zu­stand. Stra­ßen wer­den abge­sperrt. Der Haupt­bahn­hof ist leer­ge­fegt. Fahn­dung auf Hoch­tou­ren. Beför­dert durch die soge­nann­ten sozia­len Medi­en steigt die Hyste­rie in der Bevölkerung.

Da der Film nach 90 Minu­ten enden muss, anders als die Rea­li­tät, kommt es schließ­lich zum Show­down. Es gab einen zwei­ten Betei­lig­ten: die Freun­din, die ihrem von Mit­schü­le­rin­nen und Mit­schü­lern gemobb­ten Freund zur Sei­te stand. In einer U-Bahn-Sta­ti­on ereilt sie ihr Schick­sal. Um ihren prall gefüll­ten Ruck­sack küm­mern sich die Spe­zia­li­sten, was auch immer er ent­hielt. Rat­los wen­det sich in der Schluss­sze­ne die lei­ten­de Haupt­kom­mis­sa­rin an einen Mit­strei­ter aus dem Füh­rungs­stab: »Wir müs­sen her­aus­fin­den, war­um sie es gemacht hat.«

In einer baye­ri­schen Zei­tung lese ich, der Dreh­buch­au­tor sei nicht »dem Kli­schee [erle­gen], bei den Täter­fa­mi­li­en nach dem Motiv für einen mög­li­chen Schul­a­mok­lauf zu suchen«. Die­se Fra­ge sei nicht das The­ma gewe­sen. Für den Jour­na­li­sten wie für die Fil­me­ma­cher war es anschei­nend glei­cher­ma­ßen undenk­bar, die­sen »Tat­ort«, der so nah an der rea­len Poli­zei­ar­beit und der pani­schen Situa­ti­on einer Stadt in Angst agier­te, zu einem ernüch­tern­den, zuge­ge­be­ner­ma­ßen viel­leicht die Sonn­tags­abend­ru­he stö­ren­den Ende zu brin­gen, das sich an der Wirk­lich­keit in die­sem Land ori­en­tiert, mit all den vie­len Gewalt­ta­ten aus »rechts­ra­di­ka­ler und ras­si­sti­scher Gesin­nung«. Und das damit noch näher an der rea­len »Vor­la­ge« gewe­sen wäre. Viel­leicht braucht der Baye­ri­sche Rund­funk für solch einen Film­schluss ja eben­falls drei Jah­re Zeit, wie jüngst das Baye­ri­sche LKA für sei­ne Bewer­tung des OEZ-Attentats?