Inzwischen ist bekannt: In Australien gab es ungefähr seit Mitte des 19. Jahrhunderts staatliche Entführungen. Die Ureinwohner, die Aborigines, wurden – damals von der britischen Regierung – in staatliche Reservate gepresst, die Behörden entzogen Kinder ihren Eltern, um sie der eigenen Kultur zu entfremden und wie Weiße zu erziehen. Später, im 20. Jahrhundert, wurde dieses Vorgehen ideologisch unterfüttert von der sogenannten Rassenlehre und der Eugenik. Die Kinder kamen zu christlichen Missionaren, zu Pflege- und Adoptiveltern. Diese bizarre Politik wurde bis in die 1970er Jahre hinein verfolgt, aber erst im Februar 2008 sprang die australische Regierung über ihren dunklen Schatten und entschuldigte sich offiziell bei den Aborigines und den geraubten Kindern.
Wenig bis nichts ist dagegen hierzulande bekannt über den Kinderraub in »Gottes eigenem Land«, in den USA. Hierzulande berichten die Medien lieber mit großer Regelmäßigkeit über »politisch motivierte Adoption« in der DDR »im Kontext der Aufarbeitung von SED-Unrecht«, wie es in einer »Vorstudie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie« vom Februar 2018 heißt. Oder man blickt zurück nach Rumänien auf die Waisenhäuser der Ceauçescu-Zeit und das Schicksal der dort eingesperrten, oft behinderten Kinder.
»Das historische Trauma, mit dem die Natives bis heute leben, war kein selbstgewählter Pfad. Von 1819 bis 1934 wurden indianische Kinder systematisch aus ihren Familien herausgerissen und in Internatsschulen gesteckt. Dort wuchsen sie auf wie Kriegsgefangene, wurden bestraft, wenn sie ihre Muttersprache sprachen, wurden bestraft, wenn sie mit ihren Geschwistern redeten, sofern sich ihre Wege kreuzten. Einhundertfünfzehn Jahre lang erlebten Kinder nicht mit, wie Eltern Kinder großziehen. […] Dann wurden sie heimgeschickt in die neu geschaffenen Reservationssysteme, wo es bis in die späten 1960er Jahre gängige Praxis der für County oder Staat tätigen Sozialarbeiter war, Indianerkinder einfach zu verschleppen und in weißen Pflege- oder Adoptivfamilien auszusetzen.«
Landesweit sollen bis zu 35 Prozent »der Eingeborenenkinder verschleppt und in nicht-indianische Haushalte oder Einrichtungen verfrachtet« worden sein.
Die hier zitierten Zeilen stehen im Nachwort des in diesem Frühjahr im Argument Verlag in Hamburg erschienenen Kriminalromans »Am roten Fluss«. Die Autorin Marcie Rendon ist Angehörige der Anishinabe White Earth Nation, »mit über 125 Stämmen eins der größten Indianervölker Nordamerikas aus der Region rund um die Großen Seen mit Ausbreitung in die kanadischen Prärieprovinzen und Nördlichen Plains (= Ebenen; Anm. K. N.) der USA«. Erich Fromm, so steht zu lesen, hat die Fischer, Jäger und Bauern einst den »nichtdestruktiv-aggressiven Gesellschaften« zugeordnet (in »Anatomie der menschlichen Destruktivität«).
In Fargo am Red River, dem Roten Fluss, an der Grenze von Norddakota zu Minnesota, mitten im amerikanischen Weizengürtel, vollzieht sich die Handlung. Wir schreiben das Jahr 1970, Nixon sitzt noch fest im Sattel. In Vietnam sterben Tausende, wie die Nachrichten allabendlich melden. Es ist Erntezeit. Eine gute Zeit, um sich bei Farmern für die Arbeit auf den Feldern zu verdingen, so wie die 19-jährige Cash als Fahrerin riesiger Traktoren und Erntemaschinen.
Und dann geschieht ein Mord. Ein indianischer Wanderarbeiter liegt erstochen auf einem Feld. Der örtliche Sheriff, der seine Hand seit ihrer Kindheit schützend über Cash hält, bittet sie um Mithilfe. Er darf nicht in die Red-Lake-Reservation hinein, von wo der Tote kommt. Cash aus der benachbarten White-Earth-Reservation ist es erlaubt.
Der Sheriff kennt auch Cashs Geheimnisse. Sie neigt zu »außerkörperlichen Erfahrungen«, in der indianischen Religiosität und Kultur nicht unüblich. Dahinter steht die Vorstellung, dass Geist oder Seele den Körper verlassen können. Und: Cash ist ein geraubtes Kind, traumatisiert, aber taff; widerstandsfähig geworden auf dem Weg der Erniedrigungen und Beleidigungen und Repressalien.
Sie macht sich auf den Weg ins Reservat, trifft dort auf die Hinterbliebenen, auf die Ehefrau des Toten und ihre sieben Kinder. Cash weiß, welches Schicksal den Indianerkindern bevorsteht, wenn die Beauftragten der United States, der Union der harten Hand, zugreifen. Weiß, dass ihr Feind im eigenen Land steht, nicht in Vietnam, und dass es für Minderheiten keinen fürsorglichen Staat gibt. Sie tut ihr Mögliches, um zu verhindern, dass die Kinder dieselben Erfahrungen wie sie machen müssen.
Aber da ist ja noch der Mord. Und den Mördern passt ihre Einmischung gar nicht.
»Zwar ist dieses Buch Fiktion, doch die Geschichten von Inobhutnahmen, Herzeleid, posttraumatischen Belastungsstörungen und Generationentrauma, die Cash hier erlebt, sind alle nur zu wahr«, schreibt die Autorin in ihrem Nachwort.
Eine spannende Geschichtslektion, die ganz ohne Gräuel á la Fitzek auskommt.
Margie Rendon: »Am roten Fluss«, deutsch von Laudan und Szelinski, Ariadne im Argument Verlag, 220 Seiten, 13 €