Zum Jahresende 2019 ereignete sich in Italien Überraschendes: Mit Pappfischen bestückt überschwemmten ganz plötzlich junge und ältere Bürger die großen Plätze Italiens, ausschwärmend von Bologna, wo sich am 14. November gut 15.000 Menschen versammelten, bis hin zur Großkundgebung in Rom einen Monat später auf der randvollen Piazza San Giovanni. Gleichzeitig fanden Demos in 113 weiteren Städten im Lande und 20 in anderen Ländern Europas statt. Mitinspiriert von Fridays for Future war zuerst eine kleine Gruppe angetreten, die via Facebook ihre Mitbürger aufforderte, selbst aktiv zu werden, endlich etwas zu tun und die Lähmung zu überwinden, die das Fehlen einer linken Opposition gegenüber dem Rechtsruck im Lande spätestens seit dem Regierungsantritt der lautstarken Lega im Sommer 2018 verursacht hatte.
Die neue Bewegung der »Sardinen« stellt einen lauten Weckruf an die außerparlamentarische Linke und alle Antifaschisten dar. Aber wofür steht sie? Sie zeigt keine Parteiembleme, erhebt auch keine praktischen Forderungen, sondern versteht sich als Sauerstoff, als Stimulans für mehr Mitsprache der Staatsbürger. Die Sardinen erinnern an die notwendige Einhaltung der Grundprinzipien der Verfassung: für praktizierten Antifaschismus, gegen Rassismus und Volksverhetzung, gegen Angst- und Hasserzeugung. Sie pflegen eine zivile Sprache und ihre unmissverständliche Hymne ist »Bella ciao«.
Das zunächst erstaunliche Phänomen ist auch eine Reaktion auf die seit fast 30 Jahren herrschende Mediendemokratie. Seit der Ära Berlusconi/Prodi lösen Technokraten und populistische Leader, die weniger in der Bevölkerung als in ihren polit-ökonomischen Cliquen verankert sind, einander ab. Das hat zur politischen Resignation weiter Kreise geführt hat, vor allem in Süditalien, aber auch in den kleineren Städten und ländlichen Regionen des Nordens. Deren Bewohner fühlen ihre Belange vernachlässigt und wählen entweder gar nicht mehr oder rechts. Aber auslösend für den neuen Protest war zuletzt die aggressive, volksverhetzende Dauerpropaganda vor allem von Lega-Chef Matteo Salvini, sowohl als Innenminister als auch als Anführer der Rechtsparteien nach seinem Ausscheiden aus der Regierung mit der Movimento 5 Stelle (M5S, 5-Sterne-Bewegung) im August 2019 (siehe Ossietzky 18/19).
Nach diesem Eigentor war Salvini angetreten, die seither amtierende konfliktreiche Regierung (Conte II) aus M5S und sozialdemokratischer Partito Democrático (PD) mit allen Mitteln zu Fall zu bringen und Neuwahlen zu provozieren, um sich dem Volke dann als plenipotenter Führer der Regierung anzupreisen. Das beunruhigte nicht wenige Menschen!
Salvini sah die wichtige Regionalwahl in der Emilia-Romagna (26.1.2020) als Sprungbrett zurück nach Rom an, wollte damit auch seinen selbstverschuldeten Rückschlag vom letzten Sommer wettmachen. Und zwar um jeden Preis, wie sein unermüdlicher, affektbeladener Wahlkampf von Tür zu Tür zeigte, bei dem er die Wahl zum Referendum für oder gegen sich selbst stilisierte, während seine Kandidatin für das Amt im Hintergrund blieb. In seiner Hybris ähnelt er Matteo Renzi von 2016, damals noch PD-Chef, der ein ähnliches Ego zur Schau stellte und dann kläglich am Volkswillen scheiterte. Die Wähler sprachen sich nämlich in einem Referendum gegen Renzis Versuch aus, die republikanische Verfassung den neoliberalen Erfordernissen anzupassen.
Nun geschah Salvini Ähnliches. Eine überraschend hohe Wahlbeteiligung (knapp 68 Prozent, 30 Punkte mehr als bei der letzten Regionalwahl), die man wohl auch der Sensibilisierung durch die »Sardinen« sowie der Sorge der Mitte vor Salvinis Übermacht zuschreiben darf, bestätigte per Direktwahl den bisher fähigen Landeschef Stefano Bonaccini (PD) für eine weitere Amtszeit.
Landesweit atmeten viele auf, als sich nachts das Wahlergebnis abzeichnete, denn 2019 hatte die Lega das einst linke Umbrien erobert, und das rechte Bündnis siegte jetzt auch in Kalabrien haushoch mit einer Kandidatin von Berlusconis Forza Italia. Damit werden 8 von 14 Regionen inzwischen von den Rechten regiert. Aber die »rote« Emilia-Romagna, einst Hochburg der PCI, immer noch eine der wohlhabendsten und bestverwalteten Regionen Italiens mit langer demokratischer Tradition, konnte sich, wenn auch knapp, behaupten. Die PD legte wieder zu auf 35 Prozent, allerdings dicht gefolgt von der Lega mit 32 Prozent, die inzwischen den ganzen Norden Italiens regiert. Deren Autonomiebestrebungen, die die extrem angestiegene Ungleichheit in Italien zementieren würden, haben auch die Emilia-Romagna erfasst, dort fordert auch die PD eine abgeschwächte Autonomie, im Widerspruch zum Verfassungsauftrag.
Im Mai stehen in sechs weiteren Regionen Wahlen an. Matteo Salvini, von keinem Selbstzweifel gestreift, rüstet sich dafür, doch sein Führungsanspruch bleibt auch innerhalb der Rechten umstritten.
Die Regierung Conte II fühlt sich zwar durch den Erfolg der PD gestärkt, aber die 339 Abgeordneten der M5S (= 32 Prozent im Parlament von 2018) spiegeln heute nicht mehr die Stimmung im Lande wider, denn die 5-Sterne-Bewegung fiel bei den genannten Regionalwahlen im Januar auf sieben beziehungsweise vier Prozent zurück. Somit steht die praktische Politik in Italien weiterhin vor schwer umschiffbaren Klippen – umstrittene Justiz- und Steuerreformen, eine radikale Verschlankung des Parlaments, eine Volksabstimmung über eine erneute Wahlrechtsreform stehen an.
Die ungleichen Regierungsparteien PD und M5S stehen damit vor politischen Neuorientierungen, und es bleibt abzuwarten, ob sich weitere Polarisierungen ergeben oder nicht. Die Demokraten unter Parteichef Nicola Zingaretti erklären, sich auf einem baldigen Kongress für weitere Kräfte aus der Gesellschaft öffnen zu wollen.
Ob M5S den Herausforderungen standhalten wird, ist offen. Die seit 2009 angewachsene 5-Sterne-Bewegung hatte jahrelang den Volkszorn gegen die neoliberale Verarmungspolitik, der sich anderswo, zum Beispiel in Frankreich, in anhaltend harten Streikprotesten entlädt, im Zaum gehalten und via Internet kanalisiert, stieß dann aber in der Regierungspraxis an ihre absehbaren Grenzen. Nicht nur fehlen ihr Fachkompetenzen, die vorgeblich ideologiefreie Digital-Demokratie (ihrer Plattform Rousseau) erwies sich in der Praxis zunehmend als illusionär. Relevante polit-ökonomische Entscheidungen erfordern nämlich noch immer rechte oder linke Positionierungen. Und solche stehen hier aus.
Auch die jüngste Bewegung der Sardinen, die sich keineswegs antipolitisch gibt, möchte sich für alternative Politik mit neuer Zielrichtung einsetzen, bleibt aber bisher erklärtermaßen allen Parteien fern. Ob und in welcher Form sich ihr Engagement entwickeln wird, soll im März auf einer großen Versammlung in Scampia beraten werden, dem inzwischen international bekannten Stadtviertel von Neapel, in dem die Arbeitslosigkeit bei weit über 50 Prozent liegt.