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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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… und raus bist Du!

Zum 1. Juli hat Ungarn die alle hal­ben Jah­re wech­seln­de EU-Rats­prä­si­dent­schaft über­nom­men. Seit­her sorgt Ungarns Mini­ster­prä­si­dent Vik­tor Orbán mit einer inten­si­ven Rei­se­tä­tig­keit für Empö­rung in der EU.

Schon am 2. Juli traf sich der unga­ri­sche Mini­ster­prä­si­dent mit dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Wolo­dym­yr Selen­skyj zu Frie­dens­ge­sprä­chen in Kiew. Orbán rief Selen­skyj zu einer raschen Waf­fen­ru­he mit Russ­land auf. Einem Bericht der unga­ri­schen Nach­rich­ten­agen­tur MTI in Kiew zufol­ge sag­te Orbán nach dem Tref­fen: »Inter­na­tio­na­le diplo­ma­ti­sche Regeln sind lang­sam und kom­pli­ziert. Ich habe den Herrn Prä­si­den­ten gebe­ten, zu erwä­gen, ob es nicht mög­lich wäre, die Rei­hen­fol­ge umzu­keh­ren und mit einer schnel­len Feu­er­pau­se die Frie­dens­ver­hand­lun­gen zu beschleunigen.«

Das erwog die US-Mario­net­te Selen­skyj lei­der nicht, der rus­si­sche Prä­si­dent Wla­di­mir Putin bei Orbáns Über­ra­schungs­be­such am 5. Juli aller­dings auch nicht. Putin habe die Kriegs­la­ge als »sehr schwie­ri­ge Situa­ti­on« bezeich­net, sei jedoch offen für eine Dis­kus­si­on mit Orbán über Details gewe­sen. Nach Anga­ben Orbáns hät­ten die bei­den Regie­rungs­chefs alle »Nuan­cen des Krie­ges« ana­ly­siert und über mög­li­che Aus­we­ge aus dem Ukrai­ne­kon­flikt gespro­chen. Doch die Posi­tio­nen sei­en »weit von­ein­an­der ent­fernt«. Orbán füg­te hin­zu: »Es sind vie­le Schrit­te nötig, um den Krieg zu been­den und Frie­den her­bei­zu­füh­ren.« Aber durch die »Wie­der­auf­nah­me des Dia­logs« sei mit sei­nem Besuch »der erste wich­ti­ge Schritt getan«. Und: »Ich wer­de die­se Arbeit fortführen.«

Putin wie­der­um wer­te­te die Gesprä­che mit Orbán als Ver­such der EU, den Dia­log mit Russ­land wie­der auf­le­ben zu las­sen, was – nicht über­ra­schend – von vie­len euro­päi­schen Main­stream­m­e­di­en hef­tig kri­ti­siert und als »diplo­ma­ti­sches Cha­os« und unga­ri­sche Par­tei­nah­me für Putin gedeu­tet wurde.

Der Bel­gi­er Charles Michel, Vor­sit­zen­der des Euro­päi­schen Rates, dem Gre­mi­um der 27 Staats- und Regie­rungs­chefs der EU, erklär­te: »Die rotie­ren­de EU-Prä­si­dent­schaft hat kein Man­dat, im Namen der EU mit Russ­land zu ver­han­deln.« Für den Euro­päi­schen Rat sei klar: »Russ­land ist der Aggres­sor, die Ukrai­ne ist das Opfer. Kei­ne Dis­kus­si­on über die Ukrai­ne kann ohne die Ukrai­ne geführt wer­den.« Aber wohl auch kaum ohne Russ­land. Doch zur inter­na­tio­na­len Frie­dens­kon­fe­renz am 15. und 16. Juni in der Schweiz war Russ­land nicht geladen.

Nach sei­nen Besu­chen bei Selen­skyj und Putin rei­ste Orbán nach Peking zu einem Tref­fen mit Staats­prä­si­dent Xi Jin­ping. Und schließ­lich ver­ließ Orbán den vom 9. bis 11. Juli in Washing­ton ver­an­stal­te­ten Jubi­lä­ums-Nato-Gip­fel frü­her, um sich mit Ex-US-Prä­si­dent Donald Trump zu tref­fen. Das The­ma auch bei die­sen Gesprä­chen: Mög­li­che Wege zu einem Frie­den in der Ukrai­ne. Ver­tre­ten durch ihren Außen­mi­ni­ster Peter Szi­j­jár­tó warf die unga­ri­sche Regie­rung den Nato-Part­nern zum Abschluss des Bünd­nis-Gip­fels Dop­pel­mo­ral und Ver­sa­gen im Umgang mit dem Ukrai­ne-Krieg vor: »Wir wer­den wei­ter­hin für Dia­log und diplo­ma­ti­sche Kanä­le ein­tre­ten, da die der­zei­ti­ge Stra­te­gie der letz­ten zwei­ein­halb Jah­re ein tota­ler Fehl­schlag war«, so der unga­ri­sche Außen­mi­ni­ster nach Anga­ben eines Spre­chers in einer Sit­zung mit dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Selenskyj.

Der Zorn auf Orbán inner­halb der angeb­lich so frie­dens­be­weg­ten EU wächst: Orbán, so der pol­ni­sche Pre­mier­mi­ni­ster Donald Tusk auf dem Kurz­nach­rich­ten­dienst X, mache sich zum »will­fäh­ri­gen Werk­zeug des Dik­ta­tors im Kreml«. Und der Euro­pa­par­la­men­ta­ri­er Dani­el Freund von den Grü­nen for­dert in fein­ster demo­kra­ti­scher Hal­tung: »Man soll­te Vik­tor Orbán die Rats­prä­si­dent­schaft ent­zie­hen. Eigent­lich hät­te er sie gar nicht erst antre­ten sol­len.« Mit die­ser For­de­rung steht der grü­ne Poli­ti­ker nicht allein. Auch aus dem Aus­wär­ti­gen Amt in Ber­lin wur­de schon auf die »theo­re­ti­sche Mög­lich­keit«, Ungarn die Rats­prä­si­dent­schaft weg­zu­neh­men, hingewiesen.

Zwar hat­te Orbán in einem Brief an die EU-Regie­rungs­chefin­nen und -chefs ver­si­chert, er sei in Mos­kau und Peking nicht im Auf­trag der EU unter­wegs gewe­sen. »Alles, was ich tue, ist, an Orte zu rei­sen, an denen Krieg herrscht oder die Gefahr eines Krie­ges besteht, der die Euro­päi­sche Uni­on und Ungarn bedroht oder nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf sie hat, und Fra­gen zu stel­len.« Aber, so Dani­el Hege­düs, soge­nann­ter Zen­tral- und Ost­eu­ro­pa-Exper­te bei der US-ame­ri­ka­ni­schen »Denk­fa­brik« »Ger­man Mar­shall Fund« in Ber­lin, Orbán sei stets als offi­zi­el­ler EU-Ver­tre­ter wahr­ge­nom­men wor­den und habe sich des­sen auch bewusst sein müs­sen: »Nicht nur ein Ent­zug der Rats­prä­si­dent­schaft, auch ein Ent­zug der Stimm­rech­te ist über­fäl­lig und auch möglich.«

Und in der Zeit erschien am 17. Juli fol­gen­der Kom­men­tar: »Orbán mag durch sei­ne Rei­se den Ein­druck erweckt haben, dass Euro­pa in Sachen Ukrai­ne nicht geschlos­sen ist. Das ist – was die euro­päi­sche Öffent­lich­keit betrifft – durch­aus rich­tig. Aber so ist das nun ein­mal in Demo­kra­tien: Die Öffent­lich­keit ringt immer wie­der (…) um Posi­tio­nen. Doch die Staats- und Regie­rungs­chefs der EU, die Kom­mis­si­on und das EU-Par­la­ment haben ihre kla­re Hal­tung zur Ukrai­ne in ein Sank­ti­ons­re­gime gegos­sen.« Eine ent­lar­ven­de Mei­nungs­äu­ße­rung auf Sei­ten der Kriegstreiber.

Ein­zel­ne EU-Staa­ten haben schon demon­stra­ti­ve Straf-Maß­nah­men gegen Orbán und Ungarn beschlos­sen. Als erstes Land kün­dig­te Litau­en an, »vor­über­ge­hend« kei­ne Mini­ste­rin­nen und Mini­ster zu den EU-Tref­fen zu schicken, die wäh­rend der unga­ri­schen Rats­prä­si­dent­schaft eben in Ungarn abge­hal­ten wer­den sol­len. Die Regie­rung behielt sich aber vor, weni­ger hoch ange­sie­del­te Ver­tre­ter zu schicken. Wei­te­re EU-Staa­ten sowie die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on haben sich mit der Ankün­di­gung ange­schlos­sen, dass sie die von der Buda­pe­ster EU-Rats­prä­si­dent­schaft aus­ge­rich­te­ten Tref­fen pro­to­kol­la­risch her­un­ter­stu­fen und auf Mini­ster­ebe­ne boy­kot­tie­ren wollen.

Bar­na Pál Zsig­mond, par­la­men­ta­ri­scher Staats­se­kre­tär im Euro­pa­mi­ni­ste­ri­um, sprach von einer lin­ken und libe­ra­len »Pro-Kriegs-Koali­ti­on«, die sich an der Frie­dens­po­li­tik von Vik­tor Orbán rächen wol­le. Die euro­päi­sche Bevöl­ke­rung wol­le aber Frie­den durch Ver­hand­lun­gen und die Wie­der­eröff­nung der diplo­ma­ti­schen Kanäle.

»Man kann Frie­den nicht von einem beque­men Ses­sel in Brüs­sel aus schaf­fen«, schrieb der unga­ri­sche Pre­mier­mi­ni­ster Vik­tor Orbán auf der Online­platt­form X und füg­te hin­zu: »Auch wenn die rotie­ren­de EU-Rats­prä­si­dent­schaft kein Man­dat hat, im Namen der EU zu ver­han­deln, kön­nen wir uns nicht zurück­leh­nen und dar­auf war­ten, dass der Krieg auf wun­der­sa­me Wei­se endet. Wir wer­den ein wich­ti­ges Instru­ment sein, um die ersten Schrit­te in Rich­tung Frie­den zu machen.»

Übri­gens: Die rechts­ge­rich­te­te Par­tei Ras­sem­blem­ent Natio­nal (RN) hat – wie Umfra­gen bele­gen – bei den vor­ge­zo­ge­nen Par­la­ments­wah­len in Frank­reich auch wegen ihrer Hal­tung im Ukrai­ne­kon­flikt zehn Mil­lio­nen Stim­men erhal­ten. Mari­ne Le Pen woll­te im Fall ihrer Wahl ver­hin­dern, dass die Ukrai­ne mit fran­zö­si­schen Lang­strecken­waf­fen Zie­le in Russ­land angrei­fen kann und dass fran­zö­si­sche Trup­pen in der Ukrai­ne sta­tio­niert wer­den, sag­te sie dem Fern­seh­sen­der CNN.

 

 

Ausgabe 15.16/2024