Zum 1. Juli hat Ungarn die alle halben Jahre wechselnde EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Seither sorgt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán mit einer intensiven Reisetätigkeit für Empörung in der EU.
Schon am 2. Juli traf sich der ungarische Ministerpräsident mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu Friedensgesprächen in Kiew. Orbán rief Selenskyj zu einer raschen Waffenruhe mit Russland auf. Einem Bericht der ungarischen Nachrichtenagentur MTI in Kiew zufolge sagte Orbán nach dem Treffen: »Internationale diplomatische Regeln sind langsam und kompliziert. Ich habe den Herrn Präsidenten gebeten, zu erwägen, ob es nicht möglich wäre, die Reihenfolge umzukehren und mit einer schnellen Feuerpause die Friedensverhandlungen zu beschleunigen.«
Das erwog die US-Marionette Selenskyj leider nicht, der russische Präsident Wladimir Putin bei Orbáns Überraschungsbesuch am 5. Juli allerdings auch nicht. Putin habe die Kriegslage als »sehr schwierige Situation« bezeichnet, sei jedoch offen für eine Diskussion mit Orbán über Details gewesen. Nach Angaben Orbáns hätten die beiden Regierungschefs alle »Nuancen des Krieges« analysiert und über mögliche Auswege aus dem Ukrainekonflikt gesprochen. Doch die Positionen seien »weit voneinander entfernt«. Orbán fügte hinzu: »Es sind viele Schritte nötig, um den Krieg zu beenden und Frieden herbeizuführen.« Aber durch die »Wiederaufnahme des Dialogs« sei mit seinem Besuch »der erste wichtige Schritt getan«. Und: »Ich werde diese Arbeit fortführen.«
Putin wiederum wertete die Gespräche mit Orbán als Versuch der EU, den Dialog mit Russland wieder aufleben zu lassen, was – nicht überraschend – von vielen europäischen Mainstreammedien heftig kritisiert und als »diplomatisches Chaos« und ungarische Parteinahme für Putin gedeutet wurde.
Der Belgier Charles Michel, Vorsitzender des Europäischen Rates, dem Gremium der 27 Staats- und Regierungschefs der EU, erklärte: »Die rotierende EU-Präsidentschaft hat kein Mandat, im Namen der EU mit Russland zu verhandeln.« Für den Europäischen Rat sei klar: »Russland ist der Aggressor, die Ukraine ist das Opfer. Keine Diskussion über die Ukraine kann ohne die Ukraine geführt werden.« Aber wohl auch kaum ohne Russland. Doch zur internationalen Friedenskonferenz am 15. und 16. Juni in der Schweiz war Russland nicht geladen.
Nach seinen Besuchen bei Selenskyj und Putin reiste Orbán nach Peking zu einem Treffen mit Staatspräsident Xi Jinping. Und schließlich verließ Orbán den vom 9. bis 11. Juli in Washington veranstalteten Jubiläums-Nato-Gipfel früher, um sich mit Ex-US-Präsident Donald Trump zu treffen. Das Thema auch bei diesen Gesprächen: Mögliche Wege zu einem Frieden in der Ukraine. Vertreten durch ihren Außenminister Peter Szijjártó warf die ungarische Regierung den Nato-Partnern zum Abschluss des Bündnis-Gipfels Doppelmoral und Versagen im Umgang mit dem Ukraine-Krieg vor: »Wir werden weiterhin für Dialog und diplomatische Kanäle eintreten, da die derzeitige Strategie der letzten zweieinhalb Jahre ein totaler Fehlschlag war«, so der ungarische Außenminister nach Angaben eines Sprechers in einer Sitzung mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj.
Der Zorn auf Orbán innerhalb der angeblich so friedensbewegten EU wächst: Orbán, so der polnische Premierminister Donald Tusk auf dem Kurznachrichtendienst X, mache sich zum »willfährigen Werkzeug des Diktators im Kreml«. Und der Europaparlamentarier Daniel Freund von den Grünen fordert in feinster demokratischer Haltung: »Man sollte Viktor Orbán die Ratspräsidentschaft entziehen. Eigentlich hätte er sie gar nicht erst antreten sollen.« Mit dieser Forderung steht der grüne Politiker nicht allein. Auch aus dem Auswärtigen Amt in Berlin wurde schon auf die »theoretische Möglichkeit«, Ungarn die Ratspräsidentschaft wegzunehmen, hingewiesen.
Zwar hatte Orbán in einem Brief an die EU-Regierungschefinnen und -chefs versichert, er sei in Moskau und Peking nicht im Auftrag der EU unterwegs gewesen. »Alles, was ich tue, ist, an Orte zu reisen, an denen Krieg herrscht oder die Gefahr eines Krieges besteht, der die Europäische Union und Ungarn bedroht oder negative Auswirkungen auf sie hat, und Fragen zu stellen.« Aber, so Daniel Hegedüs, sogenannter Zentral- und Osteuropa-Experte bei der US-amerikanischen »Denkfabrik« »German Marshall Fund« in Berlin, Orbán sei stets als offizieller EU-Vertreter wahrgenommen worden und habe sich dessen auch bewusst sein müssen: »Nicht nur ein Entzug der Ratspräsidentschaft, auch ein Entzug der Stimmrechte ist überfällig und auch möglich.«
Und in der Zeit erschien am 17. Juli folgender Kommentar: »Orbán mag durch seine Reise den Eindruck erweckt haben, dass Europa in Sachen Ukraine nicht geschlossen ist. Das ist – was die europäische Öffentlichkeit betrifft – durchaus richtig. Aber so ist das nun einmal in Demokratien: Die Öffentlichkeit ringt immer wieder (…) um Positionen. Doch die Staats- und Regierungschefs der EU, die Kommission und das EU-Parlament haben ihre klare Haltung zur Ukraine in ein Sanktionsregime gegossen.« Eine entlarvende Meinungsäußerung auf Seiten der Kriegstreiber.
Einzelne EU-Staaten haben schon demonstrative Straf-Maßnahmen gegen Orbán und Ungarn beschlossen. Als erstes Land kündigte Litauen an, »vorübergehend« keine Ministerinnen und Minister zu den EU-Treffen zu schicken, die während der ungarischen Ratspräsidentschaft eben in Ungarn abgehalten werden sollen. Die Regierung behielt sich aber vor, weniger hoch angesiedelte Vertreter zu schicken. Weitere EU-Staaten sowie die Europäische Kommission haben sich mit der Ankündigung angeschlossen, dass sie die von der Budapester EU-Ratspräsidentschaft ausgerichteten Treffen protokollarisch herunterstufen und auf Ministerebene boykottieren wollen.
Barna Pál Zsigmond, parlamentarischer Staatssekretär im Europaministerium, sprach von einer linken und liberalen »Pro-Kriegs-Koalition«, die sich an der Friedenspolitik von Viktor Orbán rächen wolle. Die europäische Bevölkerung wolle aber Frieden durch Verhandlungen und die Wiedereröffnung der diplomatischen Kanäle.
»Man kann Frieden nicht von einem bequemen Sessel in Brüssel aus schaffen«, schrieb der ungarische Premierminister Viktor Orbán auf der Onlineplattform X und fügte hinzu: »Auch wenn die rotierende EU-Ratspräsidentschaft kein Mandat hat, im Namen der EU zu verhandeln, können wir uns nicht zurücklehnen und darauf warten, dass der Krieg auf wundersame Weise endet. Wir werden ein wichtiges Instrument sein, um die ersten Schritte in Richtung Frieden zu machen.»
Übrigens: Die rechtsgerichtete Partei Rassemblement National (RN) hat – wie Umfragen belegen – bei den vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich auch wegen ihrer Haltung im Ukrainekonflikt zehn Millionen Stimmen erhalten. Marine Le Pen wollte im Fall ihrer Wahl verhindern, dass die Ukraine mit französischen Langstreckenwaffen Ziele in Russland angreifen kann und dass französische Truppen in der Ukraine stationiert werden, sagte sie dem Fernsehsender CNN.