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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Und nun die ganze Welt

Dem fol­gen­den Bei­trag liegt die Rede »Und nun die gan­ze Welt – freie Fahrt für die Bun­des­wehr« zugrun­de, die Otto Köh­ler auf der Ossietzky-Mati­nee am 3. Okto­ber in Ber­lin gehal­ten hat.

Han­ni­bal. Am ver­gan­ge­nen Mon­tag (30. Sep­tem­ber) hat, wie der Spie­gel mel­de­te, Han­ni­bal unse­re Bun­des­wehr ver­las­sen. Sein Zeit­ver­trag ist abge­lau­fen, und er wen­det sich neu­en Auf­ga­ben im Unter- oder im Ober­grund zu. Das ist ein schwe­rer Schlag für die Trup­pe, die unse­re Ver­ant­wor­tung in alle Welt zu tra­gen hat. Doch er wird ihr mit Sicher­heit ver­bun­den bleiben.

Han­ni­bal, das war zunächst ein­mal einer der mäch­tig­sten Heer­füh­rer der Anti­ke, er woll­te Rom erobern, und das war damals die gan­ze Welt. Han­ni­bal, das war der gro­ße Feld­herr Kar­tha­gos, über das Bert Brecht sechs Jah­re nach Deutsch­lands – bis­her zwei­tem – Welt­krieg an die deut­schen Künst­ler und Schrift­stel­ler die Merk­sät­ze schrieb: »Das gro­ße Kar­tha­go führ­te drei Krie­ge. Nach dem ersten war es noch mäch­tig. Nach dem zwei­ten war es noch bewohn­bar. Nach dem drit­ten war es nicht mehr aufzufinden.«

Das bleibt abzu­war­ten. Zumin­dest das Schloss von Wil­helm II., das mit so viel Lie­be und Eifer wie­der­auf­ge­baut ist, fast schon gänz­lich, wird als Zeug­nis preu­ßi­scher Kul­tur und unse­res – limi­tier­ten – Ver­stan­des nicht mehr untergehen.

Han­ni­bal aber, der erwähn­te gro­ße Held der Kar­tha­ger, das ist heu­te der Deck­na­me einer Schlüs­sel­fi­gur unse­res sich immer mehr nach oben rob­ben­den mili­tä­ri­schen Untergrunds.

Im Novem­ber letz­ten Jah­res erschien in der taz ein Arti­kel: »Han­ni­bals Schat­ten­ar­mee«. Es geht um André S., Geheim­na­me Han­ni­bal, der inner­halb der gehei­men Tötungs­trup­pe des KSK – Kom­man­do Spe­zi­al­kräf­te – auch über die Bun­des­re­pu­blik hin­aus ein Netz­werk zu allem ent­schlos­se­ner Idea­li­sten auf­ge­baut hat, den Ver­ein »Uniter«. Mit­glie­der in des­sen Grup­pen sind Poli­zi­sten und Sol­da­ten, Reser­vi­sten, Beam­te und Mit­ar­bei­ter des Ver­fas­sungs­schut­zes, die unter kon­spi­ra­ti­ven Bedin­gun­gen einen Plan hegen: Wenn sie die Zei­chen sehen, wenn »Tag X« da ist, wol­len sie zu den Waf­fen grei­fen. Sie reden auch über Erschie­ßun­gen, ja auch das Wort »End­lö­sung« soll bei ihnen gefal­len sein. Eng ver­netzt ist Han­ni­bal auch mit dem Bun­des­wehr­of­fi­zier Fran­co A., dem Revol­ver­hel­den vom Wie­ner Flug­ha­fen und Anle­ger von Per­so­nen­li­sten zu wel­chem Zweck auch immer.

Das alles stieß in der Öffent­lich­keit auf wenig Inter­es­se, wie der Deutsch­land­funk Kul­tur fest­stell­te: »Wenn sich Bun­des­wehr­sol­da­ten dar­über unter­hal­ten, dass man für einen Tag X Lager­hal­len« – und Lei­chen­säcke – »bereit­stel­len will und dazu nut­zen will, poli­ti­sche Geg­ner und Fein­de zu inter­nie­ren und sogar zu liqui­die­ren, dann ist das eigent­lich ein Grund für einen Auf­schrei. Und dass die­ser Auf­schrei auch medi­al nicht erfolgt, das ist kein gutes Zeichen.«

Das alles ist nicht neu. Schon in der Wei­ma­rer Repu­blik gab es die Schwar­ze Reichs­wehr, die im Auf­trag der offi­zi­el­len Trup­pe arbei­te­te: Feme­mor­de, ille­ga­le Waf­fen­la­ger sogar in Zusam­men­ar­beit mit sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Land­rä­ten, Mord auch bür­ger­li­cher Politiker.

1933 konn­te Hit­ler drei Tage, nach­dem ihm die Macht über­ge­ben wor­den war, bei einem Geheim­tref­fen mit den Reichs­wehr­ge­ne­ra­len wenig Ein­druck schin­den mit sei­nem Plan eines Ver­nich­tungs­kriegs im Osten. Den hat­ten sie längst in pet­to. Sie selbst woll­ten bis 1939 aus­rei­chend gerü­stet sein. Sie hat­ten einen Hit­ler eigent­lich nicht nötig.

Und nach 1945? Hit­lers Abwehr­chef Ost, Rein­hard Geh­len, lief noch im Mai 1945 samt Stab und Spio­na­ge­ma­te­ri­al zur US Army über und rede­te ihr ein, 175 fri­sche Pan­zer­di­vi­sio­nen der Sowjets stün­den zum als­bal­di­gen Vor­stoß bis zum Atlan­tik bereit – der Kal­te Krieg wur­de so gebo­ren. Gene­ral Adolf Heu­sin­ger, Chef der »Ban­den­be­kämp­fung« und am 20. Juli ver­letzt, weil er unmit­tel­bar neben Hit­ler stand, fand sich schon 1948 bei der Orga­ni­sa­ti­on Geh­len in Pul­lach als Beauf­trag­ter für die Remi­li­ta­ri­sie­rung wie­der. Und im gan­zen Land gab es gut ver­netz­te Zir­kel von Offi­zie­ren und Gene­ra­len, die alle schon auf ihre Wie­der­ver­wen­dung lauerten.

Mein ehe­ma­li­ger Chef Rudolf Aug­stein mach­te eine Rund­rei­se zu die­sen »Fach­leu­ten«. Am Ende, im Novem­ber 1948, tauch­te er im Dun­kel der Nacht bei Kon­rad Ade­nau­er auf, damals erst Prä­si­dent des Par­la­men­ta­ri­schen Rates: Die von ihm kon­sul­tier­ten Her­ren mein­ten, dass drei­ßig deut­sche Divi­sio­nen nötig sei­en. »Das ist auch mei­ne Schät­zung«, ent­geg­ne­te der kom­men­de Bundeskanzler.

All die­se Pla­nun­gen und Vor­be­rei­tun­gen waren von den Alli­ier­ten eigent­lich bei Todes­stra­fe verboten.

Den größ­ten Feh­ler mei­nes Lebens beging ich vor 61 Jah­ren als Vor­sit­zen­der des Sozia­li­sti­schen Deut­schen Stu­den­ten­bun­des in Würz­burg. Damals, 1958, waren alle deut­schen – nun ja, alle west­deut­schen – Stu­den­ten dazu auf­ge­ru­fen, an ihren Uni­ver­si­tä­ten anläss­lich irgend­ei­ner Außen­mi­ni­ster­kon­fe­renz für die »Wie­der­ver­ei­ni­gung« zu demon­strie­ren. Ich ging zum AStA, ließ mir den Text des SDS-Trans­par­ents geneh­mi­gen. Als wir zum Sam­mel­ort auf dem Resi­denz­platz kamen, waren schon Hun­der­te von bunt uni­for­mier­ten Kor­po­rier­ten mit Band und Müt­ze da. Und sie schrien auf: »Da lau­fen wir nicht mit.« Die Poli­zei wur­de geholt. Ver­ge­bens – der Text war ein­ge­reicht und geneh­migt. Der Platz leer­te sich. Die Demon­stra­ti­on war geplatzt. Was stand auf dem Trans­pa­rent? Dies: »Ein Deutsch­land ist wich­ti­ger als zwei deut­sche Armeen.«

Ich mein­te damals, die »Wie­der­ver­ei­ni­gung« – der Anschluss der DDR – sei wich­ti­ger als jede Remi­li­ta­ri­sie­rung. Und das ver­stan­den mei­ne uni­for­mier­ten Kom­mi­li­to­nen sehr genau, sie woll­ten auf ihre Bun­des­wehr nicht ver­zich­ten. Von der Uni­ver­si­tät wur­de ich mit einer Rüge gemaß­re­gelt und zog wei­ter an die Freie Uni­ver­si­tät in West­ber­lin, wo vie­le Flücht­lin­ge aus der DDR und vor der Wehr­pflicht in Ost und West studierten.

Das geein­te Deutsch­land mit der einen deut­schen Armee muss längst wie­der Krieg füh­ren in aller Welt. Die­ses Deutsch­land ist erwach­sen, und erwach­sen sein heißt töten kön­nen. Deutsch­land darf es – die Welt nimmt es hin. Bernd Ulrich, ein Acht­und­sech­zi­ger von der »Gras­wur­zel­re­vo­lu­ti­on« und nun­meh­ri­ger Poli­tik-Chef der Zeit, er hat dazu 2011 für sei­ne Redak­teu­re und sei­ne Leser eine Kampf­fi­bel geschrie­ben, Titel: »Wofür Deutsch­land Krieg füh­ren darf. Und muss.«

Ohne förm­li­che Zustim­mung des Bun­des­ka­bi­netts erließ Vol­ker Rühe, der Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster, Ende Novem­ber 1992 die »Ver­tei­di­gungs­po­li­ti­schen Richt­li­ni­en«, ein 34-sei­ti­ges Doku­ment, das voll auf einem Papier des Gene­ral­inspek­teurs der Bun­des­wehr Klaus Nau­mann beruh­te. Die Öffent­lich­keit nahm das kaum zur Kennt­nis. Ich schrieb dar­über vier Mona­te spä­ter in kon­kret (März 1993), in der Zeit sah Ende Juli der Frei­bur­ger Mili­tär­hi­sto­ri­ker Wolf­ram Wet­te in die­ser »Mili­ta­ri­sie­rung der Außen­po­li­tik« den »Wunsch nach Welt­macht«, und die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung für Deutsch­land erwähn­te die Richt­li­ni­en erst­mals sechs Mona­te spä­ter – aller­dings am rich­ti­gen Ort: im Wirt­schafts­teil unter der ver­hei­ßungs­vol­len Über­schrift »Was die Wehr­tech­nik an Auf­trä­gen erwar­ten kann«. Das war die kor­rek­te Anwen­dung des Nau­mann-Dik­tums, es gebe nur noch »zwei Wäh­run­gen in der Welt: wirt­schaft­li­che Macht und die mili­tä­ri­schen Mit­tel, sie durchzusetzen«.

In den »Ver­tei­di­gungs­po­li­ti­schen Richt­li­ni­en« tauch­te schon das neue Wort für Krieg auf, damals noch abge­mil­dert durch das Prä­fix »Mit-«. »Unse­re Sol­da­ten«, so heißt es da, »müs­sen künf­tig aber auch bereit sein, in einer eng ver­floch­te­nen Welt Mit­ver­ant­wor­tung für die bedroh­te Frei­heit und das Wohl­erge­hen ande­rer Völ­ker und Staa­ten zu übernehmen.«

Damals, 1993, ver­such­ten Unse­re Sol­da­ten die­sen impe­ria­len Auf­trag noch unter huma­ni­tä­rer Tar­nung (Brun­nen­boh­ren und so) zu absol­vie­ren. Doch Vol­ker Rühe stol­per­te bei einem Trup­pen­be­such im Wüsten­sand von Soma­lia. Seit­her betrach­te­te der ent­schlos­se­ne Gene­ral­inspek­teur sei­nen toll­pat­schi­gen Mini­ster nur noch mit der Ver­ach­tung, mit der er schon bald nach Amts­an­tritt bei einer Kom­man­deurs­ta­gung im Mai 1992 von »Wei­ner­lich­keit und Ver­zagt­heit« in Trup­pe und Füh­rung sprach.

Acht­zehn Jah­re spä­ter, im Mai 2010, trat Horst Köh­ler ver­är­gert von sei­nem Amt als Bun­des­prä­si­dent zurück. Ein Shits­torm von Kri­tik hat­te sich über den Ärm­sten ergos­sen, weil er in einem Inter­view mit dem Deutsch­land­ra­dio aus­sprach, dass »im Zwei­fel, im Not­fall auch mili­tä­ri­scher Ein­satz not­wen­dig ist, um unse­re Inter­es­sen zu wah­ren, zum Bei­spiel freie Han­dels­we­ge«. Tat­säch­lich hat­te Horst Köh­ler nichts ande­res gesagt als das, was Klaus Nau­mann schon acht­zehn Jah­re zuvor in den Ver­tei­di­gungs­po­li­ti­schen Richt­li­ni­en als Punkt 8 (von 53) über den neu­en Auf­trag für die Bun­des­wehr for­mu­lier­te: »Auf­recht­erhal­tung des frei­en Welt­han­dels und des unge­hin­der­ten Zugangs zu Märk­ten und Roh­stof­fen in aller Welt im Rah­men einer gerech­ten Welt­wirt­schafts­ord­nung.« Das war – und ist – natür­lich ein Kriegs­pro­gramm des Nor­dens gegen den Süden, die deut­sche Wirt­schaft braucht wie­der das Mili­tär, um ihren Absatz und ihre Roh­stoff­quel­len zu sichern – Horst Köh­ler, die­ser unschul­di­ge Par­zi­val, hat­te das rich­tig verstanden.

Sein Nach­fol­ger Joa­chim Gauck war da ein ande­res Kali­ber, aller­dings hat­te er das bes­se­re, erfreu­lich klin­gen­de Wort gefun­den, das seit­her als Pseud­onym für Krieg oder krie­ge­ri­sche Ein­sät­ze dient: Das »gute Deutsch­land, das beste, das wir jemals hat­ten,« muss »Ver­ant­wor­tung« in aller Welt über­neh­men, und da kann »manch­mal […] auch der Ein­satz von Sol­da­ten erfor­der­lich sein«.

Im Jahr 2021 wird hier­zu­lan­de ein, ja, grau­si­ges Jubi­lä­um gefei­ert wer­den: 150 Jah­re Deutsch­land in staat­li­cher Form. Ent­stan­den aus drei – nicht erst heu­te offi­zi­ell so benann­ten – »deut­schen Eini­gungs­krie­gen«: Preu­ßen gegen Dänen, Sach­sen, Öster­rei­cher und Fran­zo­sen. Zur exqui­si­ten Demü­ti­gung Frank­reichs wur­de das »Deut­sche Reich« im Schloss von Ver­sailles, dem Sitz der fran­zö­si­schen Herr­scher, aus­ge­ru­fen. Und als Schlag gegen alle 1848er pro­kla­mier­te man 1871 dort als »Kai­ser Wil­helm I.« den ehe­ma­li­gen preu­ßi­schen Kar­tätschen­prin­zen, der zusam­men­schie­ßen ließ, was sich irgend­wo im Land gegen die Mon­ar­chie erhob. Die­ses Deutsch­land, in dem wir heu­te noch oder wie­der leben, sol­len wir 2021 fei­ern. Wo?

Natür­lich in der unver­fälsch­ten Kopie des Schlos­ses von Wil­helm I. und Wil­helm II. Es kann kein Zufall sein, dass die­ses für den Geist und die Gesit­tung unse­res Staa­tes so reprä­sen­ta­ti­ve Gebäu­de – Schieß­schar­ten nach Osten und nach West­ber­lin die gan­ze erbärm­lich­wil­hel­mi­ni­sche Pracht – anders als der Flug­ha­fen nahe­zu plan­mä­ßig errich­tet wer­den konnte.

Doch jetzt – da es im Novem­ber eröff­net wer­den soll­te – fin­det sich plötz­lich ein Hin­der­nis, um die Eröff­nung um ein Jahr und, na, sagen wir zwei Mona­te hinauszuschieben.

Dann kann näm­lich die­ses Monu­ment des deut­schen Impe­ria­lis­mus über­pünkt­lich genau an dem Tag ein­ge­weiht wer­den, an dem vor 150 Jah­ren Deutsch­land, das blu­ti­ge Deut­sche Reich, gegrün­det wur­de. Ent­stan­den aus Krieg und Kor­rup­ti­on. Bis­marck muss­te mit hohen Sum­men den baye­ri­schen König Lud­wig II. schmie­ren. Den hat­te sein Schlös­ser­bau, sein fried­li­cher Schloss­bau – Neu­schwan­stein, der baye­ri­sche Staat zehrt heu­te noch von den Tou­ri­sten­gel­dern – so klamm gemacht, dass er sich nach Annah­me einer beacht­li­chen Sum­me dazu bewe­gen ließ, zugleich mit der Grün­dung eines deut­schen Staa­tes den preu­ßi­schen König zu des­sen Kai­ser aus­ru­fen zu lassen.

Seit die­ses Deutsch­land besteht, seit nun­mehr ein­ein­halb Jahr­hun­der­ten, hat noch kein ande­rer Staat der Erde Deutsch­land über­fal­len. Stets war Deutsch­land der Aggres­sor. Der Enkel des Kar­tätschen­prin­zen, Wil­helm II., eröff­ne­te das 20. Jahr­hun­dert mit dem Ruf: »Kommt ihr vor den Feind, so wird der­sel­be geschla­gen! Par­don wird nicht gege­ben! Gefan­ge­ne wer­den nicht gemacht! Wer euch in die Hän­de fällt, sei euch ver­fal­len!« So ver­ab­schie­de­te er die deut­schen Trup­pen des dama­li­gen, ja doch, NATO-Expe­di­ti­ons­corps aus sechs euro­päi­schen Staa­ten und den USA zum Kampf gegen das damals schon unge­bär­di­ge Chi­na. Und Wil­helm rede­te sei­nen getreu­en Sol­da­ten gut zu: »Wie vor tau­send Jah­ren die Hun­nen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht […], so möge der Name Deut­scher in Chi­na auf 1000 Jah­re durch euch in einer Wei­se bestä­tigt wer­den, dass es nie­mals wie­der ein Chi­ne­se wagt, einen Deut­schen scheel anzusehen!«

Schon vier Jah­re spä­ter gab es als Test­lauf für den Holo­caust den deut­schen Ver­nich­tungs­krieg gegen die Nama und Here­ro, der erste Geno­zid des zwan­zig­sten Jahr­hun­derts. Wir Deut­schen haben ihn als Kul­tur­volk bestan­den: Die weni­gen über­le­ben­den Frau­en muss­ten mit Glas­scher­ben das Fleisch von den abge­schnit­te­nen Köp­fen ihrer eige­nen Män­ner scha­ben, damit die Schä­del sau­ber zur wis­sen­schaft­li­chen Ras­sen­for­schung nach Ber­lin ver­bracht wer­den konnten.

Über hun­dert Jah­re spä­ter fand die Zeit gan­ze Con­tai­ner vol­ler Schä­del in einem Gebäu­de der »Stif­tung Preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz«, ja rich­tig: preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz. Die Eigen­tü­mer kön­nen sich heu­te mel­den, sie bekom­men ihre Schä­del sicher­lich eini­ger­ma­ßen umstands­los zurück; wenn‘s fei­er­lich sein soll, ein­schließ­lich einer besinn­li­chen Rede unse­rer Kul­tur­staats­mi­ni­ste­rin. Selbst­ver­ständ­lich ohne jeg­li­chen Ver­such einer »Wie­der-Gut-Machung«.

Die­se Schä­del von »Hot­ten­tot­ten«, wie es auf gut Deutsch heißt, wer­den im Janu­ar 2021, wenn das als Hum­boldt-Forum getarn­te Schloss von Wil­helm II. pünkt­lich und pas­send eröff­net wird, mit Sicher­heit nicht als Zeug­nis­se deut­schen Gei­stes gezeigt wer­den. Wohl aber wert­vol­le Skulp­tu­ren, die im Ben­in geraubt wur­den – ein­ma­li­ge Kunst­schät­ze Afrikas.

Ich habe vor zwei Jah­ren beim deut­schen PEN den Antrag gestellt, Kunst aus Afri­ka nur dann im wie­der­errich­te­ten Schloss aus­zu­stel­len, wenn ein­deu­tig geklärt ist, dass sie nicht geraubt oder gestoh­len ist. Da hät­ten Sie mal sehen sol­len, wie schnell die­ses Ansin­nen von einer über­wäl­ti­gen­den Mehr­heit abge­lehnt war. Zu vie­le deut­sche Schrift­stel­ler und Künst­ler ver­die­nen an den lukra­ti­ven Auf­trä­gen, die die Stif­tung Preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz und erst recht das soge­nann­te Hum­boldt-Forum an zuver­läs­si­ge Intel­lek­tu­el­le zu ver­ge­ben haben.

Eck­art Spoo, der Grün­der von Ossietzky – er fehlt uns – hat­te lan­ge zuvor zusam­men mit eini­gen Mit­ar­bei­tern den Vor­schlag gemacht, aus dem Schloss eine Infor­ma­ti­ons­stät­te für die Ver­bre­chen des deut­schen Faschis­mus zu machen – das wur­de von den Ver­ant­wort­li­chen nicht mal ignoriert.

Wir wer­den im Janu­ar 2021 das 150-jäh­ri­ge Deutsch­land nicht fei­ern. Wir fei­ern heu­te den 130. Geburts­tag von Carl von Ossietzky. Er hat am 8. Dezem­ber 1931 in der Weltbühne dem Reichs­wehr­mi­ni­ster Wil­helm Groe­ner geant­wor­tet, der ihn öffent­lich bezich­tigt hat­te, zu jenen Deut­schen zu gehö­ren, »deren Trieb­fe­der ent­we­der fana­ti­scher Haß gegen alles Mili­tä­ri­sche oder Gewinn­sucht« sei.

Ossietzky, gera­de erst vom Reichs­ge­richt in Leip­zig zu ein­ein­halb Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt wegen eines »Ver­rats« mili­tä­ri­scher Geheim­nis­se, die ein Anschlag auf den Frie­den waren, er schrieb dem Kriegs­mi­ni­ster über die­se »Gewinn­sucht«: »Der Krieg ist ein bes­se­res Geschäft als der Frie­de. Ich habe noch nie­man­den gekannt, der sich zur Stil­lung sei­ner Geld­gier auf Erhal­tung und För­de­rung des Frie­dens gewor­fen hät­te. Die beu­te­gie­ri­ge Canail­le hat von eh und je auf Krieg spekuliert.«

Wir, die Her­aus­ge­ber samt Redak­ti­on der Zeit­schrift Ossietzky, die seit 22 Jah­ren die Tra­di­ti­on der Weltbühne fort­zu­füh­ren ent­schlos­sen sind, haben Ossietz­kys Ant­wort an den Kriegs­mi­ni­ster zum Mot­to unse­rer Zeit­schrift gemacht. Die Canail­le heißt heu­te bei­spiels­wei­se Rhein­me­tall und Heck­ler & Koch. Und all die Lob­by­isten und Par­la­men­ta­ri­er und Par­tei­en, die sich gegen Spen­den für Rüstungs­expor­te kau­fen lassen.

Für weni­ger begü­ter­te Men­schen hat unse­re neue Kriegs­mi­ni­ste­rin Anne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er – die Frei­fahrt für uni­for­mier­te Bun­des­wehr­sol­da­ten und -Innen erfun­den. Unbe­hin­dert rei­sen in alle Welt – das war der damals fried­li­che Traum aller DDR-Bür­ger. Jetzt haben sie es, sogar über alle Mau­ern der Festung Euro­pa hin­weg. Noch aber müs­sen Unse­re Sol­da­ten an den Gren­zen Deutsch­lands aus­stei­gen und für die Wei­ter­fahrt zah­len. Dabei kann und wird es nicht blei­ben. Die Ver­ant­wor­tung ruft.

Als dum­mer Jun­ge von zehn Jah­ren sang ich noch 1945 das alte HJ-Lied von den zit­tern­den mor­schen Kno­chen: »Wir wer­den wei­ter­mar­schie­ren, bis alles in Scher­ben fällt.« Und dazu der ewi­ge Refrain: »Und heu­te gehört uns Deutsch­land und mor­gen die gan­ze Welt.«

Bit­te nicht. Nimmermehr.