Dass Brigitte Reimann (1933-1973) eine großartige Schriftstellerin war und wichtige Aspekte der DDR-Literatur repräsentiert, steht außer Zweifel. Dass sie widersprüchlich war, leidenschaftlich, impulsiv, begehrt und begehrlich, ein Leben führte, das auch Literatur hätte sein können und wurde, ebenfalls. Die daraus Jahre nach ihrem Tod gefilterte Ikonisierung hätte sie wahrscheinlich erschreckt. Die Ausgaben der Werke und Tagebücher, Briefe, auch die ihrer Männer, die Biografien, Beiträge, Analysen und ein etwas melodramatischer Spielfilm – all das zeigt einen wachsenden Nachruhm und natürlich die Gefahr der Vermarktung.
Darum ist der Ansatz des jüngst erschienenen Reimann-Buches von Ingeborg Gleichauf »Als habe ich zwei Leben« lobenswert. Die Autorin betont, dass Reimann eine »Prosaarchitektin« genannt werden kann, »ihr Schreiben entzieht sich jedem einfachen biografischen Schreiben«. Es gälte, »die Unentwirrbarkeit der Beziehung von Leben und Schreiben, die Erzählebenen und Bewusstseinsschichten innerhalb ihres Werkes zu beleuchten«.
Dies geschieht in zehn kapitelartigen Essays, etwa überschrieben: »Lektüren«, »Körperwelten«, »Die Männersammlerin«. Der vorangestellte Text »Brigitte Reimann lesen« mag eine wichtige Erklärung und nötige Selbstverständigung sein, der Buchkonsument käme ohne aus. Immerhin fallen hier wichtige Wörter: »Erkundungsversuche«, »rätselhafte Sprachwelt« – und die Einsicht, dass »Die Biografie« nicht zu schreiben ist.
Dem kann man folgen, es erklärt immerhin den Schreibansatz. Für unnötig halte ich jedoch die jedem Kapitel vorangestellten Auszüge aus Werken Stendhals, C. Meyers, Inge Müllers, Katherine Mansfields, Adelheid Duvanels, Simone de Beauvoirs, Christa Wolfs, Gustave Flauberts. Man muss so nicht beweisen, dass Brigitte Reimann intensiv las, Gelesenes auf hohem Niveau sich anverwandelte, sich an Werken höchsten Niveaus maß. Die Zitate zerklüften den Text, ja, sie stören mitunter den Lesefluss, zumal jedes der Kapitel auch noch mit Worten Reimanns überschrieben ist.
Die Lektüre des Buches lohnt dennoch und bringt Gewinn. Und zwar, weil hier eine Schriftstellerin und ihr Werk aus dem Leben und Schreiben heraus analysiert und erklärt werden, ohne dass je eine literaturwissenschaftliche Abhandlung daraus wird. Man wird unterhalten und belehrt im besten Sinne. Die Betrachtungen der »Menschensammlerin und Figurenzeichnerin« und zur frühen Prosa Reimanns sind besonders ergiebig. Überaus geschickt wird aus Briefen, Tagebucheinträgen, Zitaten aus Werken, wechselnden Perspektiven und Beschreibungen ein Bild der Reimann kreiert, das überzeugt und die vielbesprochene Autorin auch einmal in neuem Lichte zeigt und nicht nur als Tagebuchschreiberin, leidenschaftliche Frau, Briefeschreiberin, sterbenskranke Frau. Die Kunst dieses Buches besteht darin, auf relativ wenigen Seiten die Totale eines Lebens und beinahe besessenen Schaffens zu präsentieren und dabei den Leser mit hineinzunehmen. Und zwar den Reimann-Fan und den Reimann-Neuling – und gerade Frauen dürften die Sicht Ingeborg Gleichaufs als anziehend und tiefgründig empfinden, etwa die Betrachtungen zu »Franziska Linkerhand«. Dies erscheint mir wichtig, da die Autorin einen Brief Brigitte Reimanns zitiert, in dem sie sich darüber mokiert, dass man ihr in der DDR-Wochenzeitung SONNTAG einen Kapitelvorabdruck aus dem Buch kürzte, weil es ein paar Stellen gab, »die sie ›erotisch‹ nannte«. Sie, das ist Frau Auer, Annemarie Auer, Schriftstellerin, Redakteurin, Kritikerin (1913-2022). Ich habe sie einst voller Kälte sagen hören, dass Brigitte Reimann erst ehrlich geworden sei, als sie wusste, dass sie sterben müsse.
In dem Kapitel »Schreiben in der DDR« erklärt die Autorin, keines der Bücher Reimanns entspreche den Vorstellungen der Zensur. Das greift leider zu kurz. Denn die Zensur mit immer gleichen Ansprüchen und Herangehensweisen, die gab es eben nicht. Man wusste nie, womit man etwa Anstoß erregte, denn meistens war das vom politischen Tageswind abhängig. Und Reimann wusste dies gewiss, und sie wusste auch, wie man mit den Mächtigen und den Einflussreichen umzugehen hatte. Die Schliche, Winkelzüge, Rituale im Umgang mit der »Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel« muss man wohl selbst erlebt haben. Aber das ist nicht als Beckmesserei gemeint, allenfalls als Ergänzung. Denn Brigitte Reimann hat, ganz im Sinne des Buchtitels, zwei Leben. Eines als Schriftstellerin in den Konflikten ihrer Zeit, eines als Autorin mit Ruhm post mortem. In beide bringen Ingeborg Gleichaufs Analysen Klarheit.
Ingeborg Gleichauf: Als habe ich zwei Leben – Brigitte Reimann, Mitteldeutscher Verlag, 168 S., 18 €.