In meiner 30-bändigen Brockhaus-Enzyklopädie war kein Platz für Siegfried Lichtenstaedter, bei Wikipedia werde ich fündig: geboren im Januar 1865 im mittelfränkischen Baiersdorf, ermordet im Dezember 1942 im Ghetto Theresienstadt im besetzten Teil der Tschechoslowakei, dem damaligen Protektorat Böhmen und Mähren. Lichtenstaedter, Verwaltungsjurist und Publizist zu Fragen des Judentums, hat natürlich nicht sein persönliches Schicksal voraussehen können. Aber schon frühzeitig, im Jahr 1923, hielt er für möglich, was dann 1933 eintraf: dass die Juden in Deutschland »totgeschlagen und ihre Güter den ›Ariern‹ gegeben würden«.
Der Historiker Götz Aly hat den, bei S. Fischer unter dem Titel »Prophet der Vernichtung – Über Volksgeist und Judenhass« erschienenen, hellsichtigen Texten des bayerischen Beamten ergänzende und erläuternde Essays beigefügt. Für ein anderes Buch Lichtenstaedters, als Taschenbuch bei Comino, Berlin, erhältlich, schrieb Aly das Vorwort: für die erstmals 1897 in Würzburg erschienene Streitschrift »Nilpferdpeitsche und Kultur«. Thema: die »große Lüge« von der »zivilisatorischen Mission« des christlichen Europas in den Kolonien.
In der über 120 Jahre alten Publikation fand Aly das Motto, das er seinem im Mai dieses Jahres erschienenen Buch »Das Prachtboot – Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten« vorausstellte: »Im Allgemeinen wird man ohne Übertreibung von sehr vielen Kolonien Folgendes behaupten können: Prügeln, Rauben, Schänden, Brennen, Morden nehmen einen großen Anteil der Arbeitskraft europäischer Beamter, Offiziere, Kaufleute und Forschungsreisender in Anspruch.« Aly widmete Lichtenstaedter sein Buch.
Das titelgebende Prachtboot stammt von der nur sechs Quadratkilometer großen Insel Luf. Ich blättere im Weltatlas hin zur Südsee. Im Norden des 1975 gegründeten Staates Papua-Neuguinea finde ich die Inselwelt von Melanesien und entdecke, staunend, einen Archipel, der den Namen Bismarck trägt. An dessen nördlichem Rand liegt, winzig klein und im Druck nicht als Landmasse erkennbar, das Atoll der Hermit-Inseln. Zu ihnen gehört als größte Insel Luf, auch nach 140 Jahren noch umspült – wie könnte es anders sein? – von der Bismarck-Sea.
Von 1884 bis 1914 hieß dieses sich über 3000 km erstreckende Mikroinselgebiet Deutsch-Neuguinea und war eine Kolonie des deutschen Kaiserreichs. Der mit 4500 m höchste Berg der Inselwelt heißt noch heute nach einem Sohn Bismarcks »Mount Wilhelm«. Auf Neuguinea hissten Ende November 1884 die Mannschaften der Kaiserlichen Korvette »Elisabeth« und des Kanonenbootes »Hyäne« die Reichsflagge in einer Bucht, die sie Friedrich-Wilhelmshafen tauften. An Bord der S.M.S Elisabeth war der Militärgeistliche Gottlob Johannes Aly, der Urgroßonkel von Götz Aly, einer der 380 Mann Besatzung.
Das Interesse des Historikers Aly war 2019 geweckt worden, als er im Familienarchiv auf die Aufzeichnungen des Urgroßonkels über seine »längste und schönste« Fahrt mit der S.M.S. Elisabeth stieß, die ihn auch in die Südsee geführt hatte. Die Unterlagen enthielten »eher beiläufig« den Bericht von der Vernichtungsaktion gegen einen Volksstamm auf der Insel New Ireland (die noch heute so heißt). Flankiert von der »Elisabeth« leitete das Kanonenboot »Hyäne« die »Strafaktion«, wie die offizielle Beschönigung der Mordbrennerei lautete.
Stattgefunden hatte die von dem Marinepfarrer beschriebene Aktion, um den Einwohnerinnen und Einwohnern »das Bewusstsein beizubringen, dass sie für begangene Ausschreitungen stets eine strenge Strafe zu gewärtigen haben«. Ihr Eigentum, ihre Hütten, Boote und Pflanzungen wurden zerstört. Die Inselbevölkerung war in den Urwald geflüchtet. Heute ist bekannt, dass die Anschuldigungen gegen die Insulaner erfunden waren, tatsächlich hatten sie sich dagegen gewehrt, eingefangen und als Arbeitssklaven an Plantagenbesitzer verkauft zu werden.
Es war die unheilige Allianz von Kolonialherren, Gott und Kaiser, die mit Unterstützung durch die herbeigerufene oder extra aus dem fernen Europa hergeschickte Marineinfanterie auf ihren »Strafexpeditionen« genannten Raub- und Mordzügen gegen sich wehrende Einheimische durch die Inselwelt zog.
Zurück zum Luf-Boot, seinem Raub und seinem »Heimathafen« in Berlin. Aly schreibt, er kenne das Schiff schon aus den 1970er Jahren von regelmäßigen Besuchen mit den Kindern in der Südseeabteilung des in Westberlin gelegenen Museums. Das Schiff ist »stattliche 15 Meter lang, ohne einen einzigen Nagel fest zusammengefügt und mit wundervollen Schnitzwerken und Malereien verziert. Es ist hochseetauglich und konnte bis zu 50 Krieger oder Reisende aufnehmen.« Ein technisches und künstlerisches Meisterwerk.
Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz beschreibt die Herkunft am 28. Mai 2018, »als die 18 Meter lange Kiste (…) in die erste Etage des Humboldt Forums einschwebte«, folgendermaßen: »Max Thiel, der Direktor der deutschen Handelsgesellschaft Hernsheim & Co., kaufte das Boot 1903«, nachdem er es wie zufällig gesehen hatte. Nach dem »Kauf« wurde es zum »Museum für Völkerkunde in Berlin« verschifft. Die Bundes-Kulturstaatsministerin jubelte ebenfalls: »Von jetzt an strahlt das Humboldt Forum als Kulturort, in dem Menschheitskulturgeschichte erzählt werden kann.«
Für Aly dagegen ist »das Paradeobjekt der Berliner ethnologischen Sammlung und des Humboldt Forums (…) nicht nur ein bedeutsames, unbedingt bewahrenswertes Zeugnis menschlicher Kultur, sondern auch ein höchst lehrreiches Beispiel für die zehntausendfach angewandten Praktiken kolonialer Gewaltherrschaft«.
Alys in knapp zwei Jahren zusammengetragenen Fakten zu dem nach Berlin verschleppten Boot, für deren Recherche anscheinend weder das Kulturstaatsministerium noch das Museum in all den Jahren Anlass sah, sprechen dagegen eine andere Sprache: »Die Einwohner der Hermit-Inseln störten die koloniale Ausbeutung und waren nicht willens, als Arbeitskräfte daran mitzuwirken. Deshalb unternahmen die deutschen Herren alles, um sie zum Arbeiten zu zwingen und nötigenfalls auszurotten.« »… und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt«, heißt es ja schon im »Erlkönig«.
Aufgepolstert wird die Historie der Strafexpeditionen und des Raubes mit »phantasievollen Ausreden«, die, wie Aly zeigt, sogar Eingang in den Brockhaus von 1902 fanden: Luf sei von Eingeborenen bewohnt, die jedoch im Aussterben begriffen sind. Naja, sie wurden »ausgestorben«. Aly schildert detailliert, wie Luf auf Bismarcks Befehl und auf Betreiben deutscher, schier allmächtiger Plantagenbesitzer und Handelshäuser, vor allem des Importunternehmens Hernsheim, unter Vorwänden zerstört wird. Den Eroberern folgen die Plünderer und Kunsträuber. Aly: »Vor allem Hernsheim und (sein Neffe) Thiel lassen ›rattenkahl‹ absammeln.« Alltagsgerätschaften, Kultobjekte, Schädel, Kunstwerke und nicht zuletzt das Luf-Boot, auch wenn es für einen Raub keine konkreten Belege gibt. In den Memoiren Hernsheim steht zu lesen, das Luf-Boot sei in seinen Besitz übergegangen. Im Klartext heißt das für Aly, man habe sich das Boot im Gefühl kolonialer Allmacht angeeignet.
Im Nationalmuseum von Papua-Neuguinea gibt es viele Leerstellen. Berlin könnte sie füllen.
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Ein kurzer Schlenker auf einen anderen Erdteil zu einem anderen »kolonialen Erbe« sei erlaubt. Am 27. Mai wurde bekannt, dass die Bundesregierung 113 Jahre nach dem Ende des Vernichtungskrieges des Deutschen Kaiserreichs gegen die Herero und Nama (1904 bis 1908) in Namibia, der damaligen deutschen Kolonie »Deutsch-Südwestafrika« (1884 bis 1915), diese Kolonialverbrechen erstmals offiziell als Völkermord anerkennen wird (siehe dazu den Beitrag »Völkermord und Kapitalismus« in diesem Heft).
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Auch heute noch unterhalten Länder wie Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und die USA koloniale Beziehungen. Vor allem in der Karibik sind viele Inseln unter der Kontrolle der ehemaligen Kolonialmächte. »Spitzenreiter«, was die Anzahl der Kolonien betrifft, ist Großbritannien.
Götz Aly: Das Prachtboot, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021, 235 S., 21 €.