Wäre es nicht dieses besondere Haus, dann hätte das Buch wahrscheinlich einen anderen Titel erhalten, einen Titel, der näher bei den Bewohnerinnen und Bewohnern und ihrem Schicksal wäre.
So aber heißt es »Das Haus am Waldsängerpfad«. Erst in zweiter Reihe steht, um was es in dem Buch geht: »Wie Fritz Wistens Familie in Berlin die NS-Zeit überlebte«. Autor ist der 1967 in Basel geborene promovierte Theaterwissenschaftler Thomas Blubacher, der unter anderem 2011 eine Monographie über Gustav Gründgens veröffentlichte.
Über das Haus erfahren wir aus der Datenbank des Landesdenkmalamtes Berlin Genaueres: Haus Lewin, Bezirk: Steglitz-Zehlendorf, Ortsteil: Nikolassee, Straße: Waldsängerpfad, Hausnummer: 3, Wohnhaus & Zweifamilienhaus, Baudenkmal, 1929/30 erbaut.
»Konsequent in der sachlichen Formensprache des Neuen Bauens« (Blubacher) vom Werkbunddesigner Peter Behrens entworfen, sollte der asymmetrisch proportionierte, weiß verputzte Bau zum neuen Heim des Ehepaars Gertrud und Kurt Lewin werden. Kurt Lewin lehrte als nichtbeamteter außerordentlicher Professor für Psychologie und Philosophie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Aber für »den neuen Lebensstil eines liberal eingestellten jüdischen Bürgertums« (Blubacher), den der Bauhaus-Kubus verkörpern sollte, war die Zeit abgelaufen. Lewin erkannte frühzeitig »die Aussichtslosigkeit seiner Zukunft in Deutschland« und emigrierte schon im Herbst 1933 mit seiner Familie in die USA.
Am 30. Januar 1933 war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden, am 27. Februar hatte der Reichstag gebrannt, am 15. März war im Württemberger Landtag Gauleiter Wilhelm Murr zum Staatspräsidenten gewählt worden, und am 27. März klingelte das Telefon in der Wohnung des am Württembergischen Landestheater in Stuttgart seit 21 Jahren engagierten Schauspielers Fritz Wisten: Entlassung und sofortiges Auftrittsverbot.
Da von dem Tag an jüdische Künstlerinnen und Künstler nicht mehr an Theatern in städtischer oder staatlicher Trägerschaft beschäftigt werden durften, gab es für Wisten in Württemberg keine Perspektive als Schauspieler. Als er von dem »Plan zur Errichtung eines deutsch-jüdischen Kulturbundes mit eigenem Theater, eigenen Konzerten & Vorträgen« in Berlin erfuhr, bot er seine Mitwirkung an. Und wurde engagiert.
Nachdem Wisten sich am neuen Kulturbundtheater etabliert hatte, beschloss er, seine Familie aus Stuttgart nachzuholen: seine Frau Gertrud, die nicht zum Judentum konvertiert war, sowie die Töchter Susanne und Eva, die im August 1933 evangelisch getauft worden waren.
Gertrud Wisten machte sich in Berlin zusammen mit einem Makler auf die Suche nach einem geeigneten Objekt. Dieser erwähnte das leerstehende Haus am heutigen Waldsängerpfad, der damals noch Dianastraße und zwischen 1939 und 1947 Betazeile hieß, benannt nach dem antisemitischen Publizisten Ottomar Beta (1845 – 1913). Am 1. Juli 1935 geht das Haus in den Besitz der »Arierin« Gertrud Wisten über. Die vierköpfige Familie und Großvater Isidor Weinstein ziehen ein.
Während Fritz Wisten am Theater des Kulturbundes probt und spielt und immer mehr zentrale Aufgaben übernimmt und sich dabei über die aktuelle Situation Täuschungen hingibt, organisiert Gertrud den immer schwierigen Alltag. Blubacher schildert in der Folge akribisch, wie sich nach und nach das Umfeld in der »bevorzugten Wohngegend des wirtschaftlich gutsituierten Berliner Bildungsbürgertums« verändert. Mehr und mehr siedelt sich NS-Prominenz an.
»Tür an Tür lebten in Nikolassee Spitzen des NS-Staates und von ihnen Verfolgte, stille Helfer und ›brave Nationalsozialisten‹.« »Schräg gegenüber residierte Walter Gross, der Begründer und Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP.« Reinhard Heydrich lebte »ab 1937 quasi ums Eck im heutigen Reifträgerweg«. »Er war ein auffallend gutaussehender Mann«, beschrieb ihn Susanne Wisten 2016 im Gespräch mit dem Autor. Heydrich begegnete den Wisten-Töchtern, wenn er »blond und blauäugig, 1,85 Meter groß, von sportlicher Statur« seine Schäferhunde ausführte. »Wir haben uns gesehen, aber nicht gegrüßt« (Susanne Wisten). 150 Meter vom Haus der Wistens entfernt wohnte Wilhelm Canaris, »Wegbereiter und Gegner Hitlers zugleich«, der als »gläubiger Christ zahlreichen Juden das Leben gerettet« hat und 1942 auch Fritz Wisten vor der Deportation in ein Konzentrationslager bewahrte. Seine Frau musizierte mit Heydrich.
Wie die Verfolgten überlebten, welche Zufälle lebensrettend eingriffen, welche hilfreichen Nachbarn Solidarität bewiesen, davon berichtet Thomas Blubacher. Und all das Geschehen konzentriert sich im und um das Haus am Waldsängerpfad. Obwohl selbst gefährdet, riskierten Gertrud und Fritz Wisten ihr Leben, um andere zu retten. Heute erinnert eine Gedenktafel am Treppenaufgang des Hauses an ihre Mitmenschlichkeit.
Das faktenreiche Buch endet mit einem Epilog, der Fritz Wistens Wirken in der DDR beschreibt, von seinen Erfolgen und seinen Schwierigkeiten. Er starb 1962 in seinem Haus am Waldsängerpfad, Gertrud Wisten starb 1986. Sie wurde 1994 posthum als »Gerechte unter den Völkern« von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem anerkannt.
Schlussbemerkung: Erinnern Sie sich an den berühmten Schlusssatz »Nobody’s perfect« in Billy Wilders Filmkomödie »Manche mögen’s heiß« aus dem Jahr 1959? Die deutsche Synchronstimme mit dem »Na und? Niemand ist vollkommen!« stammt von Alfred Balthoff (1905 – 1989). Der Schauspieler, als Jude und Homosexueller doppelt in Gefahr, verdankt sein Überleben ebenfalls den Wistens; sie versteckten ihn zeitweise im Haus am Waldsängerpfad, so dass seine Geschichte mit einem Happy End endete. Wie der Film.
Thomas Blubacher: »Das Haus am Waldsängerpfad«, Berenberg, 192 Seiten, 22 €