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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Und am Ende wieder Leben

Wäre es nicht die­ses beson­de­re Haus, dann hät­te das Buch wahr­schein­lich einen ande­ren Titel erhal­ten, einen Titel, der näher bei den Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­nern und ihrem Schick­sal wäre.

So aber heißt es »Das Haus am Wald­sän­ger­pfad«. Erst in zwei­ter Rei­he steht, um was es in dem Buch geht: »Wie Fritz Wistens Fami­lie in Ber­lin die NS-Zeit über­leb­te«. Autor ist der 1967 in Basel gebo­re­ne pro­mo­vier­te Thea­ter­wis­sen­schaft­ler Tho­mas Blub­a­cher, der unter ande­rem 2011 eine Mono­gra­phie über Gustav Gründ­gens veröffentlichte.

Über das Haus erfah­ren wir aus der Daten­bank des Lan­des­denk­mal­am­tes Ber­lin Genaue­res: Haus Lewin, Bezirk: Ste­glitz-Zehlen­dorf, Orts­teil: Niko­las­see, Stra­ße: Wald­sän­ger­pfad, Haus­num­mer: 3, Wohn­haus & Zwei­fa­mi­li­en­haus, Bau­denk­mal, 1929/​30 erbaut.

»Kon­se­quent in der sach­li­chen For­men­spra­che des Neu­en Bau­ens« (Blub­a­cher) vom Werk­bund­de­si­gner Peter Beh­rens ent­wor­fen, soll­te der asym­me­trisch pro­por­tio­nier­te, weiß ver­putz­te Bau zum neu­en Heim des Ehe­paars Ger­trud und Kurt Lewin wer­den. Kurt Lewin lehr­te als nicht­be­am­te­ter außer­or­dent­li­cher Pro­fes­sor für Psy­cho­lo­gie und Phi­lo­so­phie an der Ber­li­ner Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät. Aber für »den neu­en Lebens­stil eines libe­ral ein­ge­stell­ten jüdi­schen Bür­ger­tums« (Blub­a­cher), den der Bau­haus-Kubus ver­kör­pern soll­te, war die Zeit abge­lau­fen. Lewin erkann­te früh­zei­tig »die Aus­sichts­lo­sig­keit sei­ner Zukunft in Deutsch­land« und emi­grier­te schon im Herbst 1933 mit sei­ner Fami­lie in die USA.

Am 30. Janu­ar 1933 war Adolf Hit­ler zum Reichs­kanz­ler ernannt wor­den, am 27. Febru­ar hat­te der Reichs­tag gebrannt, am 15. März war im Würt­tem­ber­ger Land­tag Gau­lei­ter Wil­helm Murr zum Staats­prä­si­den­ten gewählt wor­den, und am 27. März klin­gel­te das Tele­fon in der Woh­nung des am Würt­tem­ber­gi­schen Lan­des­thea­ter in Stutt­gart seit 21 Jah­ren enga­gier­ten Schau­spie­lers Fritz Wisten: Ent­las­sung und sofor­ti­ges Auftrittsverbot.

Da von dem Tag an jüdi­sche Künst­le­rin­nen und Künst­ler nicht mehr an Thea­tern in städ­ti­scher oder staat­li­cher Trä­ger­schaft beschäf­tigt wer­den durf­ten, gab es für Wisten in Würt­tem­berg kei­ne Per­spek­ti­ve als Schau­spie­ler. Als er von dem »Plan zur Errich­tung eines deutsch-jüdi­schen Kul­tur­bun­des mit eige­nem Thea­ter, eige­nen Kon­zer­ten & Vor­trä­gen« in Ber­lin erfuhr, bot er sei­ne Mit­wir­kung an. Und wur­de engagiert.

Nach­dem Wisten sich am neu­en Kul­tur­bund­thea­ter eta­bliert hat­te, beschloss er, sei­ne Fami­lie aus Stutt­gart nach­zu­ho­len: sei­ne Frau Ger­trud, die nicht zum Juden­tum kon­ver­tiert war, sowie die Töch­ter Susan­ne und Eva, die im August 1933 evan­ge­lisch getauft wor­den waren.

Ger­trud Wisten mach­te sich in Ber­lin zusam­men mit einem Mak­ler auf die Suche nach einem geeig­ne­ten Objekt. Die­ser erwähn­te das leer­ste­hen­de Haus am heu­ti­gen Wald­sän­ger­pfad, der damals noch Dia­na­stra­ße und zwi­schen 1939 und 1947 Beta­zei­le hieß, benannt nach dem anti­se­mi­ti­schen Publi­zi­sten Otto­mar Beta (1845 – 1913). Am 1. Juli 1935 geht das Haus in den Besitz der »Arie­rin« Ger­trud Wisten über. Die vier­köp­fi­ge Fami­lie und Groß­va­ter Isi­dor Wein­stein zie­hen ein.

Wäh­rend Fritz Wisten am Thea­ter des Kul­tur­bun­des probt und spielt und immer mehr zen­tra­le Auf­ga­ben über­nimmt und sich dabei über die aktu­el­le Situa­ti­on Täu­schun­gen hin­gibt, orga­ni­siert Ger­trud den immer schwie­ri­gen All­tag. Blub­a­cher schil­dert in der Fol­ge akri­bisch, wie sich nach und nach das Umfeld in der »bevor­zug­ten Wohn­ge­gend des wirt­schaft­lich gut­si­tu­ier­ten Ber­li­ner Bil­dungs­bür­ger­tums« ver­än­dert. Mehr und mehr sie­delt sich NS-Pro­mi­nenz an.

»Tür an Tür leb­ten in Niko­las­see Spit­zen des NS-Staa­tes und von ihnen Ver­folg­te, stil­le Hel­fer und ›bra­ve Natio­nal­so­zia­li­sten‹.« »Schräg gegen­über resi­dier­te Wal­ter Gross, der Begrün­der und Lei­ter des Ras­sen­po­li­ti­schen Amtes der NSDAP.« Rein­hard Heyd­rich leb­te »ab 1937 qua­si ums Eck im heu­ti­gen Reif­trä­ger­weg«. »Er war ein auf­fal­lend gut­aus­se­hen­der Mann«, beschrieb ihn Susan­ne Wisten 2016 im Gespräch mit dem Autor. Heyd­rich begeg­ne­te den Wisten-Töch­tern, wenn er »blond und blau­äu­gig, 1,85 Meter groß, von sport­li­cher Sta­tur« sei­ne Schä­fer­hun­de aus­führ­te. »Wir haben uns gese­hen, aber nicht gegrüßt« (Susan­ne Wisten). 150 Meter vom Haus der Wistens ent­fernt wohn­te Wil­helm Cana­ris, »Weg­be­rei­ter und Geg­ner Hit­lers zugleich«, der als »gläu­bi­ger Christ zahl­rei­chen Juden das Leben geret­tet« hat und 1942 auch Fritz Wisten vor der Depor­ta­ti­on in ein Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger bewahr­te. Sei­ne Frau musi­zier­te mit Heydrich.

Wie die Ver­folg­ten über­leb­ten, wel­che Zufäl­le lebens­ret­tend ein­grif­fen, wel­che hilf­rei­chen Nach­barn Soli­da­ri­tät bewie­sen, davon berich­tet Tho­mas Blub­a­cher. Und all das Gesche­hen kon­zen­triert sich im und um das Haus am Wald­sän­ger­pfad. Obwohl selbst gefähr­det, ris­kier­ten Ger­trud und Fritz Wisten ihr Leben, um ande­re zu ret­ten. Heu­te erin­nert eine Gedenk­ta­fel am Trep­pen­auf­gang des Hau­ses an ihre Mitmenschlichkeit.

Das fak­ten­rei­che Buch endet mit einem Epi­log, der Fritz Wistens Wir­ken in der DDR beschreibt, von sei­nen Erfol­gen und sei­nen Schwie­rig­kei­ten. Er starb 1962 in sei­nem Haus am Wald­sän­ger­pfad, Ger­trud Wisten starb 1986. Sie wur­de 1994 post­hum als »Gerech­te unter den Völ­kern« von der israe­li­schen Gedenk­stät­te Yad Vas­hem anerkannt.

Schluss­be­mer­kung: Erin­nern Sie sich an den berühm­ten Schluss­satz »Nobody’s per­fect« in Bil­ly Wil­ders Film­ko­mö­die »Man­che mögen’s heiß« aus dem Jahr 1959? Die deut­sche Syn­chron­stim­me mit dem »Na und? Nie­mand ist voll­kom­men!« stammt von Alfred Balt­hoff (1905 – 1989). Der Schau­spie­ler, als Jude und Homo­se­xu­el­ler dop­pelt in Gefahr, ver­dankt sein Über­le­ben eben­falls den Wistens; sie ver­steck­ten ihn zeit­wei­se im Haus am Wald­sän­ger­pfad, so dass sei­ne Geschich­te mit einem Hap­py End ende­te. Wie der Film.

Tho­mas Blub­a­cher: »Das Haus am Wald­sän­ger­pfad«, Beren­berg, 192 Sei­ten, 22 €