Ach EU-Europa. Da bist du so stolz auf deine Werte, die du – wie jüngst in Luxemburg bei den Beratungen deiner 27 Mitgliedsstaaten – mit Abkommen über Obergrenzen, Rückführungen, Kontingente oder Nachjustierungen vor all jenen Menschen aus Afrika und anderswoher zu schützen versuchst, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen auf den Weg machen, um an eben diesen Werten teilzuhaben und auch um ein wenig von deinem Wohlstand abzubekommen. Und dann kommt der US-amerikanische Schriftsteller Howard W. French daher, Professor für Journalistik an der Columbia University in New York, und will nichts Geringeres, als dein Weltbild revidieren, deine Geschichte sozusagen vom Kopf auf die Füße stellen. Auf Schwarze Füße.
Ein Vorgang, der mich spontan an die neue Projektion für Weltkarten des Historikers und Kartographen Arno Peters denken lässt. Mit ihr hatte dieser 1974 – ähnlich wie 120 Jahre zuvor James Gall in Edinburgh – den Versuch unternommen, die Länder der Erde in flächentreuem Größenverhältnis darzustellen. Dabei schrumpfte der europäische Kontinent im Vergleich zur Mercator-Projektion flächenmäßig fast zu einem Wurmfortsatz des asiatischen Kontinents, während sich Afrika sowie Nord- und Südamerika als riesige langgezogene Landmassen präsentieren durften.
Was aber das Verblüffendste an Frenchs Korrektur der gängigen Geschichtsschreibung ist: Sein in diesem Frühjahr erschienenes Geschichtswerk »AFRIKA und die Entstehung der modernen Welt« wird trotz seines neuen Ansatzes in den deutschen »Leitmedien« durchweg als »Meisterwerk« (Die Zeit) gefeiert.
Auch ich finde, dass das Buch den Stoff besitzt, um unser traditionelles Weltbild zu verändern. Nichts da mit »Afrika – Dunkel lockende Welt« (Karen Blixen), nichts da mit Tarzan, dem König des Dschungels (Edgar Rice Burroughs), nichts da mit Lambarene im zentralafrikanischen Regenwald, wo der spätere Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer vor über 100 Jahren sein »Urwaldspital« gründete. Im Register des Buches tauchen diese Namen nicht auf.
Stattdessen macht uns French mit Abu Bakr II. bekannt, an der Wende zum 14. Jahrhundert ein unvorstellbar reicher Kaiser des sudanesischen Reiches Mali, das dem heutigen Land seinen Namen gab und das dem langlebigen großen Reich Ghana folgte, dessen Macht im 11. Jahrhundert zerbröckelt war. Bakr II. war von der Idee besessen, die westlichen Grenzen des Atlantischen Ozeans per Schiff zu erreichen. Anders als im damaligen Europa galt nämlich schon seit rund 300 Jahren in der arabischen Welt und den afrikanischen Reichen die Annahme als gesichert, dass die Erde eine Kugel sei.
French zitiert den nachfolgenden Kaiser Mansa Musa, der 1324/25 auf seiner Pilgerreise nach Mekka dem Statthalter von Kairo berichtete, dass Bakr II. 3000 Schiffe – vermutlich große Einbäume – mit Mannschaften, Wasser, Nahrungsmitteln und Gold ausrüsten ließ. Das Edelmetall gab es übrigens in Hülle und Fülle und war durch die Jahrhunderte ein wichtiges Handels- und Tauschgut. »Dann übertrug er mir die Regentschaft während seiner Abwesenheit und begab sich mit seinen Männern auf diese Reise über den Ozean, von der er nie zurückkehren oder ein Lebenszeichen geben sollte.«
Bakr II. und Musa sind in der 30-bändigen Brockhaus-Enzyklopädie nicht zu finden, denn wie schreibt French: »Es wäre ungewöhnlich, wenn eine am falschen Ort begonnene Geschichte zu den richtigen Ergebnissen kommen würde. Mit der Geschichtsschreibung dazu, wie unserer allgemeinen Vorstellung nach die moderne Welt entstand, ist es nicht anderes. (…) Die traditionellen Darstellungen haben Europas Zeitalter der Entdeckungen im 15. Jahrhundert und dem so langersehnten Seeweg zwischen West und Ost den Vorrang des Ortes zugestanden und mit dieser historischen Großtat den bedeutsamen, wenn auch zufälligen Fund der sogenannten Neuen Welt verbunden.«
French leugnet nicht die Bedeutung der Reisen berühmter Seefahrer wie Magellan, da Gama, Dias oder Kolumbus. »Doch egal, wie geläufig sie in der allgemeinen Vorstellung sind – wenn man die moderne Geschichte mit diesen Heldentaten der Entdeckungen einsetzen lässt, (…) verdunkelt man die wahren Anfänge der Geschichte dazu, wie der Erdball auf Dauer zusammenkam und damit ›modern‹ wurde. Und man erzählt die Rolle Afrikas so dramatisch falsch, dass es einer schwerwiegenden Fehldarstellung gleichkommt.«
Denn nicht Europas Sehnsucht nach engeren Verbindungen mit Asien habe das Zeitalter der Entdeckungen angestoßen, »sondern vielmehr der jahrhundertealte Wunsch des Kontinents, Handelsbeziehungen zu sagenhaft reichen Schwarzen Gesellschaften zu knüpfen, die sich irgendwo im Herzen des ›dunkelsten‹ Westafrika verbargen.« Die berühmten Seefahrer, Kolumbus eingeschlossen, hätten bei ihren Fahrten an die Westküste Afrikas ihr Wissen und ihre Erfahrungen vervollkommnet in Kartographie und Navigation, in der Konstruktion von Schiffen sowie über atlantische Winde und Strömungen – Rüstzeug, das ihnen später auf ihren großen historischen Entdeckungsfahrten von Nutzen war.
Genau in dem Moment aber, schreibt French, »in dem Europa und das heute sogenannte subsaharische Afrika in einen dauerhaften intensiven Kontakt traten, wurden die Fundamente des modernen Zeitalters gelegt«. Denn diese Ereignisse und Aktivitäten, die sich aus den Begegnungen von Afrikanern und Europäern ergaben, hätten die Europäer auf jenen Weg gebracht, »der ihren Kontinent an den großen zivilisatorischen Zentren Asiens und der islamischen Welt vorbeiziehen ließ«. In einem noch immer nicht anerkannten Maß baue der damit einhergehende Zuwachs an Macht und Wohlstand auf dem Fundament der ökonomischen und politischen Beziehungen Europas zu Afrika auf. Dabei habe neben dem Handel mit Gold »der massive jahrhundertelange transatlantische Handel mit Sklaven im Mittelpunkt gestanden, die zu Millionen eingesetzt wurden, um Zucker, Tabak, Baumwolle und andere Marktfrüchte auf den Plantagen der Neuen Welt anzubauen«.
Mitte des 16. Jahrhunderts habe der vor allem von Portugal betriebene Handel mit Afrikanern dem Gold als gewinnbringendster afrikanischer Quelle des Wohlstands den Rang abgelaufen und sei zur Grundlage eines neuen Wirtschaftssystems geworden, das »Europa im Laufe der Zeit reicher machen sollte als das afrikanische Gold oder auch Asiens so heiß begehrte Seidenstoffe und Gewürze«. Schätzungen von heute gehen von zwölf Millionen Afrikanern aus, die nach Amerika gebracht wurden. Weitere sechs und mehr Millionen starben bei den Sklavenjagden, bei den brutalen Märschen an die Küste, während des Aufenthalts in Verliesen bis zum Verladen auf die Sklavenschiffe oder während der Überfahrt – mit unermesslichen Auswirkungen auf Afrikas Entwicklung in den folgenden Jahrhunderten.
French will mit seiner Globalgeschichte klarmachen, dass »Afrika mehr als jeder andere Teil der Welt der Motor in der Maschinerie der Moderne war«. »Ohne afrikanische Völker, die von den Küsten des Kontinents aus verkauft wurden, hätte Amerika wenig zum Aufstieg des Westens beitragen können. Afrikanische Arbeitskraft in Form von Sklaven wurde zum begünstigenden Faktor, der die Entwicklung Amerikas erst ermöglichte. Ohne sie sind Europas Kolonialprojekte in der Neuen Welt, wie wir sie kennen, schlicht nicht vorstellbar.«
Die Geschichtsforschung jedoch habe sich über die Bedeutung Afrikas bei der Entstehung der modernen Welt in Schweigen gehüllt. Diese für unser Weltverständnis so grundlegende Auslassung ist für French nur »eines von zahlreichen Beispielen in einem jahrhundertealten Prozess der Schmälerung, Trivialisierung und Löschung von Afrikanern und Menschen afrikanischer Abstammung aus der Erzählung von der modernen Welt«, erforschbar bis tief in heute noch wirkende koloniale Strukturen hinein.
Frenchs Werk ist eine »kraftvolle Neudeutung der Geschichte«, wie es zutreffend im Klappentext heißt, die zum radikalen Umdenken auffordert. Sie reicht durch die vergangenen sechs Jahrhunderte bis in die Gegenwart und rückt im letzten Teil die Rolle der Sklaven im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und im Bürgerkrieg in ein neues Licht. Denn letzten Endes war es nicht Lincoln, der im Übrigen entgegen landläufiger Erzählung nichts gegen die Sklaverei hatte, sondern es waren die »Schwarzen Frauen und Männer selbst, jene Nachkommen von Menschen aus Afrika, die sich der Herausforderung ihrer Befreiung stellten«.
Der Autor selbst, ich habe es noch nicht erwähnt, ist in langer Linie ein Abkömmling von nach Amerika verschleppten Sklaven. Sein Geschichtswerk, das zu einer neuen Wahrnehmung des afrikanischen Kontinents führen soll, ist, wie er im Nachgang schreibt, »aus persönlicher Erfahrung erwachsen«, in »Lektionen, die ich schon als afro-amerikanisches Kind zu lernen begann und die mal subtil, mal brutal daherkamen«. Lektionen, die in diesem lesenswerten Buch Seite für Seite präsent sind.
Howard W. French: AFRIKA und die Entstehung der modernen Welt. Eine Globalgeschichte. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karin Schuler, Thomas Stauder, Andreas Thomsen, Klett Cotta 2023, 508 Seiten, 35 €. – Howard W. French schreibt in der Originalfassung seines Buches das Wort »Black«, wenn es sich auf die Ethnizität bezieht, konsequent groß. Dies soll darauf verweisen, dass es um mehr geht als die reine Hautfarbe, weil mit dem Wort anthropologische und soziale Vorurteile verbunden sind. Klett Cotta hat in der deutschen Fassung ebenfalls in dem genannten Zusammenhang das Wort »Schwarz« immer großgeschrieben. Ossietzky hat sich dieser Schreibweise angeschlossen.