Die Methode und das Muster sind nicht neu. Heinrich Mann hat seine 1945 erschienene Autobiografie »Ein Zeitalter wird besichtigt« genannt. Sein Schriftstellerkollege Stefan Zweig ließ es kürzer angehen und gab sich 1927 mit »Sternstunden der Menschheit« zufrieden. John Reed, als Reporter Augenzeuge der Oktoberrevolution in Russland, beschrieb die Ereignisse im Petersburger Spätherbst des Jahres 1917 als »Zehn Tage, die die Welt erschütterten«. Unter dem Titel »Februar 33« erzählte im vergangenen Jahr der Autor und Literaturkritiker Uwe Wittstock, wie zum Beispiel Erich Kästner, Alfred Döblin oder Else Lasker-Schüler die beginnende NS-Zeit, jenen »Winter der Literatur«, erlebt haben. Um eine ganze Epoche ging es dagegen dem 1891 in Prag geborenen und 1973 in Hamburg gestorbenen Publizisten Willy Haas in seinem 1967 erschienenen Buch über »Die Belle Époque«. Er schilderte die Jahre zwischen 1880 und 1914 als »erregende Zeitenwende, als eine Kulturepoche, die mit dem Ersten Weltkrieg unwiderruflich versank«.
Die Aufzählung ließe sich mühelos fortsetzen, denn diese Art der Darstellung historischer Abläufe, gebündelt in Raum und Zeit, stößt in der Regel auf das Wohlwollen der Leserschaft. Das – soweit mir bekannt – bisher jüngste Werk dieser Kategorie hat der in Düsseldorf lebende Publizist und Autor Helge Hesse vorgelegt. In »Die Welt neu beginnen« beschreibt er wie Willy Haas eine Zeitenwende, die sich allerdings gut 100 Jahre früher vollzog. Hesse richtet das Augenmerk auf die Jahre zwischen 1775 und 1799. Dank seiner lebendigen Schilderung macht er erfahrbar, »wie sich in vielen Schlüsselmomenten in Deutschland, England, Frankreich und den gerade entstehenden USA die gesellschaftlichen Fundamente und Werte bildeten, die unsere Welt bis heute prägen und stets neu verhandelt werden müssen«.
Schlüsselmomente brauchen Personen, die eine Schlüsselrolle ausfüllen und an deren Handeln und Erlebnissen die Ereignisse dargestellt werden können. Hesse weiß, dass »in jedem Moment die Welt neu beginnen« kann. Aber 1775 fiel in Nordamerika, der Philosoph Ralph Waldo Emerson sei zitiert, »der Schuss, der um die ganze Welt gehört wurde«. Und der britisch-amerikanische Revolutionär Thomas Paine tat den Ausspruch, der dem Buch seinen Titel gab: »Wir haben es in der Hand, die Welt aufs Neue zu beginnen.« Der Unabhängigkeitskrieg zwischen den amerikanischen Kolonien und dem britischen Mutterland begann.
Das Buch endet mit dem Staatsstreich in Frankreich am 10. November 1799, dem 18. Brumaire des Revolutionskalenders, und der Erklärung des neuen Ersten Konsuls Napoleon am 15. Dezember: »Bürger! Die Revolution ist zu ihren Grundsätzen zurückgekehrt, von denen sie ausging; sie ist zu Ende.« Ein Tag zuvor war der Mann gestorben, mit dem Hesses Buch 1775 begonnen hatte: George Washington, der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
»Ein Vierteljahrhundert, das die Welt radikal verändert. Ein Vierteljahrhundert der tiefgreifenden Aufbrüche und Umstürze in Politik, Naturwissenschaft, Technik und Philosophie. Helge Hesse lässt kenntnis- und anekdotenreich die Akteure jener Jahre – von Washington bis Wollstonecraft, von Rousseau bis zu den Brüdern Montgolfier – auftreten und zeigt so, wie revolutionäre Entwicklungen entstehen«, urteilte im vergangenen November Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg und Mitglied der dreiköpfigen Jury, die damals an den Schriftsteller den Bayerischen Buchpreis für das beste Sachbuch des Jahres 2021 vergab.
Die Liste der heute noch bekannten Protagonisten jener Jahre zwischen 1775 und 1799, deren Tun und Lassen wir verfolgen können, ist lang. Da Hesse »politische Geschichte mit Alltags- und Wissenschaftsgeschichte« verknüpft, wie es die Jury in der Begründung ihrer Entscheidung lobend formulierte, ist sie auch kunterbunt.
Wir treffen und begleiten neben den schon erwähnten Personen u. a. Marie Antoinette und Louis XVI., James Cook, Georg Forster und William Bligh, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Georg Christoph Lichtenberg, Wolfgang Amadeus Mozart und William Turner, Napoleon Bonaparte, Maximilien de Robespierre, Georges Danton und Charles-Maurice de Talleyrand, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schlegel, Friedrich Hegel und Immanuel Kant, Thomas Jefferson und John Adams, James Watt und Allessandro Volta, Charlotte von Stein und Christiane Vulpius, Novalis, Friedrich Hölderlin und Voltaire, die Humboldt-Brüder und die Geschwister Herschel, Adam Smith und Matthew Boulton. Ein beeindruckendes Tableau.
Für den Bayerischen Buchpreis 2021 war im Übrigen in der Kategorie Sachbuch auch der Schweizer Historiker Philipp Sarasin nominiert. Der Titel des Buchs? »1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart«. Und einer meiner Söhne ist gerade begeistert von dem 2013 erschienenen Bestseller des amerikanisch-britischen Schriftstellers Bill Bryson: »Sommer 1927«. Da ist es keine Kunst, ähnliche Titel vorauszusagen. Vorschlag für das Jahr nach der Wahl von Donald Trump zum 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika: »6. Januar 2021 – Sturm aufs Capitol«. Unterzeile: »Der Tag, an dem der Untergang der Demokratie in den USA begann«.
Helge Hesse: »Die Welt neu beginnen«, Reclam, Ditzingen 2021, 431 S., 25 €.