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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Aufstand für den Frieden

Aus heu­ti­ger Sicht mag es sich wie ein Mär­chen anhö­ren, wenn man dar­an erin­nert, dass vor gera­de ein­mal 40 Jah­ren in West­deutsch­land eine der größ­ten Frie­den­be­we­gun­gen gegen die wei­te­re Mili­ta­ri­sie­rung Euro­pas und für kon­kre­te Abrü­stungs­schrit­te ein­ge­tre­ten ist – ver­bun­den mit der Losung »Kei­ne Crui­se Mis­sile und Pers­hing 2« zu stationieren.

Im Okto­ber 1983 haben 1,5 Mil­lio­nen Men­schen in West­deutsch­land für den Frie­den demon­striert. Die­se brei­te Frie­dens­be­we­gung ent­stand selbst­ver­ständ­lich nicht über Nacht oder spon­tan, son­dern war das Ergeb­nis eines brei­ten gesell­schaft­li­chen Dis­kur­ses, der sich um den »Kre­fel­der Appell« von Novem­ber 1980 her­um ent­wickelt hat­te. Unter der ein­gän­gi­gen und über­zeu­gen­den Losung: »Atom­krieg bedroht uns alle – kei­ne Atom­ra­ke­ten in Euro­pa!« unter­zeich­ne­ten mehr als vier Mil­lio­nen Men­schen die­sen Appell. Die gesell­schaft­li­che Brei­te der Bewe­gung zeig­te sich in der Liste der Erst­un­ter­zeich­ner. Zu ihnen gehör­ten die »Grün­der­vä­ter« der »Kampf-dem-Atom­tod-Bewe­gung«, wie Mar­tin Niem­öl­ler, Hel­mut Rid­der und Gös­ta von Uex­küll, gleich­zei­tig waren wich­ti­ge Reprä­sen­tan­ten aus dem Umfeld der dama­li­gen außer­par­la­men­ta­ri­schen Bewe­gung und der Deut­schen Frie­dens­uni­on (DFU) dort ver­tre­ten, z. B. Petra Kel­ly, Grün­dungs­mit­glied der Grü­nen, Josef Weber (DFU) und die Schrift­stel­le­rin Lui­se Rin­ser. Mit Chri­stoph Strä­sser (ehem. Jung­de­mo­kra­ten) und Ver­tre­tern der Jusos waren auch die Jugend­or­ga­ni­sa­tio­nen von Bun­des­tags­par­tei­en ver­tre­ten. Frie­dens­in­itia­ti­ven ent­stan­den bis hin­ein in Kir­chen­ge­mein­den bei­der Kon­fes­sio­nen, die sich enga­giert in die Bewe­gung einbrachten.

Trotz die­ser brei­ten und qua­li­fi­zier­ten Pro­te­ste war die Bun­des­re­gie­rung unter Hel­mut Schmidt nicht bereit, von ihren Plä­nen zur Umset­zung der Nato-»Nachrüstung«, wie es damals benannt wur­de, abzu­ge­hen. Erst nach dem Kon­struk­ti­ven Miss­trau­ens­vo­tum vom Herbst 1982 und den Bun­des­tags­wah­len 1983, bei denen die SPD end­gül­tig ihre Regie­rungs­macht ver­lor, begann ein Umden­ken. Ange­sichts der neu­en Regie­rungs­mehr­heit wur­den die Pro­te­ste der Frie­dens­be­we­gung umso drängender.

Sol­che gesell­schaft­li­chen Pro­test­be­we­gun­gen gegen die ato­ma­re Auf­rü­stung exi­stier­ten nicht nur in der BRD. So ver­stän­dig­te man sich über den Welt­frie­dens­rat und ande­re inter­na­tio­na­le Ver­net­zun­gen, am Wochen­en­de 22./23. Okto­ber 1983 in vie­len Städ­ten der Welt Mas­sen­ak­tio­nen der Frie­dens­be­we­gun­gen zu orga­ni­sie­ren. Das wur­de ein über­wäl­ti­gen­der Erfolg. Groß­de­mon­stra­tio­nen fan­den statt in Brüs­sel, Hel­sin­ki, Lon­don, Madrid, Paris, Rom, Stock­holm und Wien. Selbst in den USA und Kana­da demon­strier­ten an dem Wochen­en­de in Washing­ton DC, Otta­wa und ande­ren Groß­städ­ten die Frie­dens­kräf­te. Allein bei den west­eu­ro­päi­schen Groß­de­mon­stra­tio­nen zähl­te man etwa zwei Mil­lio­nen Teilnehmende.

Der Schwer­punkt der Aktio­nen lag aber ohne Zwei­fel in West­deutsch­land und West­ber­lin, von wo die Kor­re­spon­den­ten des Neu­en Deutsch­lands am Mon­tag berich­ten konn­ten: Bonn 500.000, Ham­burg 400.000, Stutt­gart 300.000, West­ber­lin 150.000.

Ulrich San­der berich­te­te als Redak­teur für Unse­re Zeit von der Akti­on in Stutt­gart. Geplant war eine Men­schen­ket­te vom USA-Haupt­quar­tier in Euro­pa in Stuttgart/​Vaihingen bis zu den Wiley-Kaser­nen der US-Armee in Neu-Ulm, einem der vor­ge­se­he­nen Pers­hing-Sta­tio­nie­rungs­or­te. Die Strecken­län­ge von 108 Kilo­me­tern war iden­tisch mit der Zahl der Pers­hing-Rake­ten, die in der BRD auf­ge­stellt wer­den soll­ten. In der Vor­be­rei­tung hat­ten die Orga­ni­sa­to­ren Sor­ge, ob es gelin­gen könn­te, über eine solch lan­ge Weg­strecke genü­gend Men­schen zu mobi­li­sie­ren, dass eine geschlos­se­ne Men­schen­ket­te ent­steht. Doch die­se Sor­ge war unbe­grün­det. Mit 200.000 Teil­neh­men­den an der Men­schen­ket­te war sie nicht nur ein­fach geschlos­sen, son­dern die Demon­stran­ten stan­den oft­mals in meh­re­ren Rei­hen. Ulrich San­der schrieb damals: »Frau­en, Män­ner und Jugend­li­che, die in Bus­ko­lon­nen gekom­men waren, fass­ten sich an den Hän­den und bil­de­ten sym­bo­lisch eine Sperr­mau­er gegen die Nato-Pläne.«

Vor mehr als 300 000 Men­schen auf dem Schloss­platz Stutt­garts erin­ner­te der baden-würt­tem­ber­gi­sche DGB-Vor­sit­zen­de Sieg­fried Pom­me­ren­ke an die Atom­bom­ben­op­fer von Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki. Aus ihrem Leid müss­ten die Leh­ren gezo­gen wer­den. Es dür­fe zu kei­ner Sta­tio­nie­rung neu­er Atom­ra­ke­ten im Lan­de kom­men. Eben­falls in Stutt­gart erklär­te Marie-Lui­se Beck-Obern­dorf, die Frak­ti­ons­spre­che­rin der Grü­nen im Bun­des­tag: »Wir sagen nein zum Nato-Dop­pel­be­schluss, nein zur Sta­tio­nie­rung – nein, ohne Wenn und Aber«. Es spra­chen eine Ver­tre­te­rin der US-Frie­dens­be­we­gung und das SPD-Bun­des­vor­stands­mit­glied Erhard Epp­ler. Er wies die Behaup­tung zurück, die neu­en Waf­fen dien­ten der Sicher­heit der BRD.

Ulrich Schnei­der fuhr mit dem Kas­se­ler Frie­dens­fo­rum zur Mas­sen­de­mon­stra­ti­on im Bon­ner Hof­gar­ten. Schon die Anrei­se war ein ein­drucks­vol­les Erleb­nis der gesell­schaft­li­chen Brei­te der Frie­dens­be­we­gung. Da die gro­ße Zahl der Son­der­bus­se in der Stadt Bonn kei­nen Platz fand, wur­de ein Auto­bahn­ab­schnitt kur­zer­hand zu einem Groß­park­platz umfunk­tio­niert. Man muss­te dar­auf­hin län­ger in die Stadt lau­fen, aber der Frie­dens­pro­test wur­de so von allen Men­schen in der Regi­on registriert.

Und es war in kei­ner Wei­se über­trie­ben, was der Kor­re­spon­dent des Neu­en Deutsch­lands schrieb: »Fünf Stun­den lang weh­ten am Sonn­abend­vor­mit­tag Tau­sen­de Fah­nen und Trans­pa­ren­te über dem Bon­ner Hof­gar­ten und den umlie­gen­den Stra­ßen, über­ragt von der Haupt­lo­sung der Akti­ons­wo­che in der BRD: ›Es ist an der Zeit: Sagt Nein! Kei­ne neu­en Atom­ra­ke­ten in unser Land!‹ Dicht an dicht dräng­ten sich 500 000 Men­schen, als gegen 12 Uhr in der BRD-Haupt­stadt die macht­vol­le ›Volks­ver­samm­lung für den Frie­den‹ begann.«

Men­schen unter­schied­lich­ster Welt­an­schau­un­gen, aller Berufs­grup­pen, Anhän­ger vie­ler Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen bekun­de­ten die Ein­mü­tig­keit ihres Frie­dens­wil­lens mit Sprech­chö­ren und Losun­gen: »Pers­hing kann uns nicht schüt­zen, son­dern nur Pro­fi­ten nüt­zen«, »Arbeit und Mone­ten statt Rot­stift und Rake­ten«. Eine Grup­pe von Ange­hö­ri­gen der Bun­des­wehr trug das stra­ßen­brei­te Spruch­band: »Nato-Sol­da­ten sagen No zu Crui­se-Mis­siles und Pers­hing zwo«.

Zu den Red­nern und Red­ne­rin­nen die­ser Kund­ge­bung gehör­ten zahl­rei­che inter­na­tio­na­le Gäste, die Gruß­bot­schaf­ten von den ande­ren Frie­dens­ak­tio­nen über­brach­ten, der SPD-Vor­sit­zen­de Wil­ly Brandt, Petra Kel­ly, Ilse Brusis als Ver­tre­te­rin des DGB-Bun­des­vor­stands und der Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Hein­rich Böll. Ein emo­tio­na­ler Moment war die Anspra­che der Anti­fa­schi­stin Etty Gin­gold, die als zier­li­che Per­son damals allein 11000 Unter­schrif­ten für den Kre­fel­der Appell gesam­melt hat­te. Sie appel­lier­te an die Frie­dens­be­we­gung, mit allen Kräf­ten die Sta­tio­nie­rung der USA-Erst­schlag­waf­fen zu ver­hin­dern. Die über­le­ben­den Wider­stands­kämp­fer hät­ten 1945 geschwo­ren, alles zu tun, damit von deut­schem Boden nie wie­der ein Krieg ausgehe.

Bekannt­lich konn­te die­ser Mas­sen­pro­test die Ent­schei­dung des Deut­schen Bun­des­ta­ges nicht ver­hin­dern. Gegen die Stim­men der Mehr­heit der SPD-Frak­ti­on und der Grü­nen wur­de am 22. Novem­ber 1983 im Bun­des­tag die soge­nann­te Nach­rü­stung beschlos­sen. Trotz die­ser Ent­schei­dung hat die Frie­dens­be­we­gung nicht auf­ge­ge­ben. Die Oster­mär­sche im April 1984 waren mit gut 200.000 Teil­neh­men­den ein sicht­ba­res Signal des Frie­dens­wil­lens der Bevölkerung.

Der Pro­test hat­te die län­ger­fri­sti­ge Wir­kung, dass nach lan­gen Ver­hand­lun­gen zwi­schen den USA und der UdSSR am 1. Juni 1988 der INF-Ver­trag in Kraft trat, der ohne Über­trei­bung als Beginn der ato­ma­ren Abrü­stung in der End­pha­se des Kal­ten Krie­ges bezeich­net wer­den kann. Beschlos­sen wur­de zwi­schen den USA und der UdSSR die Ver­nich­tung von Mit­tel- und Kurz­strecken­ra­ke­ten sowie deren Pro­duk­ti­ons­ver­bot. Marsch­flug­kör­per und eine Zahl von Rake­ten mitt­le­rer Reich­wei­te (500 km bis 5500 km) waren zu ver­nich­ten. Neue Waf­fen die­ser Kate­go­rie soll­ten nicht pro­du­ziert und gete­stet werden.

Die Erin­ne­rung an die­sen groß­ar­ti­gen Erfolg der Frie­dens­be­we­gung darf nicht den Blick dafür ver­stel­len, dass mit dem Ende der sozia­li­sti­schen Staa­ten nicht das Ende der Ost-West-Kon­fron­ta­ti­on ver­bun­den war, son­dern sich die USA und die Nato schon bald als Hege­mon einer uni­po­la­ren Welt ver­stan­den. Mit der Behaup­tung, Russ­land habe den Ver­trag gebro­chen, kün­dig­ten 30 Jah­re spä­ter die USA den INF-Ver­trag auf. Falls Russ­land bereit zu »sicht­ba­ren Abrü­stungs­schrit­ten« sei, kön­ne der INF-Ver­trag wie­der in Kraft gesetzt wer­den, erklär­te die US-ame­ri­ka­ni­sche Regie­rung. Fak­tisch ist der INF-Ver­trag seit August 2019 Geschich­te. Weder die Bun­des­re­gie­rung noch ande­re euro­päi­sche Regie­run­gen ver­such­ten poli­tisch auf die US-Admi­ni­stra­ti­on ein­zu­wir­ken, um die­ses Abrü­stungs­ab­kom­men zu retten.

Somit bleibt viel Arbeit für die Frie­dens­be­we­gung. Und sie ist durch­aus noch da (anders als es viel­fach behaup­tet wird). Sie ist jedoch geschwächt, auch dadurch, dass die Grü­nen und die SPD, die 1983 auf der Sei­te der Frie­dens­ak­tio­nen stan­den, heu­te Kriegs­par­tei­en sind und die Mehr­heits­me­di­en noch krie­ge­ri­scher auf­tre­ten als die Poli­ti­ker. Da Anfang der 1980er Jah­re sich die Medi­en und damit die ver­öf­fent­lich­te Mei­nung von der Frie­dens­be­we­gung ent­schei­dend beein­flus­sen lie­ßen, die öffent­li­che Mei­nung zu einer fried­li­chen ver­öf­fent­lich­ten Mei­nung wur­de, war damals ein wesent­li­cher Schritt für den Erfolg der Frie­dens­be­we­gung getan. Das ist der­zeit nicht zu erwarten.

Aktu­ell geht es der Frie­dens­be­we­gung dar­um, Nato und Russ­land, die sich auf ukrai­ni­schem Boden einen Krieg lie­fern, zum Ein­hal­ten zu brin­gen. Diplo­ma­tie und Waf­fen­still­stand sind die vor­dring­li­chen For­de­run­gen an Stel­le von Waf­fen­lie­fe­run­gen und wei­te­rem Öl ins Feu­er gie­ßen durch Mos­kau, Kiew und Nato. Schon das ist eine gro­ße Herausforderung.