Aus heutiger Sicht mag es sich wie ein Märchen anhören, wenn man daran erinnert, dass vor gerade einmal 40 Jahren in Westdeutschland eine der größten Friedenbewegungen gegen die weitere Militarisierung Europas und für konkrete Abrüstungsschritte eingetreten ist – verbunden mit der Losung »Keine Cruise Missile und Pershing 2« zu stationieren.
Im Oktober 1983 haben 1,5 Millionen Menschen in Westdeutschland für den Frieden demonstriert. Diese breite Friedensbewegung entstand selbstverständlich nicht über Nacht oder spontan, sondern war das Ergebnis eines breiten gesellschaftlichen Diskurses, der sich um den »Krefelder Appell« von November 1980 herum entwickelt hatte. Unter der eingängigen und überzeugenden Losung: »Atomkrieg bedroht uns alle – keine Atomraketen in Europa!« unterzeichneten mehr als vier Millionen Menschen diesen Appell. Die gesellschaftliche Breite der Bewegung zeigte sich in der Liste der Erstunterzeichner. Zu ihnen gehörten die »Gründerväter« der »Kampf-dem-Atomtod-Bewegung«, wie Martin Niemöller, Helmut Ridder und Gösta von Uexküll, gleichzeitig waren wichtige Repräsentanten aus dem Umfeld der damaligen außerparlamentarischen Bewegung und der Deutschen Friedensunion (DFU) dort vertreten, z. B. Petra Kelly, Gründungsmitglied der Grünen, Josef Weber (DFU) und die Schriftstellerin Luise Rinser. Mit Christoph Strässer (ehem. Jungdemokraten) und Vertretern der Jusos waren auch die Jugendorganisationen von Bundestagsparteien vertreten. Friedensinitiativen entstanden bis hinein in Kirchengemeinden beider Konfessionen, die sich engagiert in die Bewegung einbrachten.
Trotz dieser breiten und qualifizierten Proteste war die Bundesregierung unter Helmut Schmidt nicht bereit, von ihren Plänen zur Umsetzung der Nato-»Nachrüstung«, wie es damals benannt wurde, abzugehen. Erst nach dem Konstruktiven Misstrauensvotum vom Herbst 1982 und den Bundestagswahlen 1983, bei denen die SPD endgültig ihre Regierungsmacht verlor, begann ein Umdenken. Angesichts der neuen Regierungsmehrheit wurden die Proteste der Friedensbewegung umso drängender.
Solche gesellschaftlichen Protestbewegungen gegen die atomare Aufrüstung existierten nicht nur in der BRD. So verständigte man sich über den Weltfriedensrat und andere internationale Vernetzungen, am Wochenende 22./23. Oktober 1983 in vielen Städten der Welt Massenaktionen der Friedensbewegungen zu organisieren. Das wurde ein überwältigender Erfolg. Großdemonstrationen fanden statt in Brüssel, Helsinki, London, Madrid, Paris, Rom, Stockholm und Wien. Selbst in den USA und Kanada demonstrierten an dem Wochenende in Washington DC, Ottawa und anderen Großstädten die Friedenskräfte. Allein bei den westeuropäischen Großdemonstrationen zählte man etwa zwei Millionen Teilnehmende.
Der Schwerpunkt der Aktionen lag aber ohne Zweifel in Westdeutschland und Westberlin, von wo die Korrespondenten des Neuen Deutschlands am Montag berichten konnten: Bonn 500.000, Hamburg 400.000, Stuttgart 300.000, Westberlin 150.000.
Ulrich Sander berichtete als Redakteur für Unsere Zeit von der Aktion in Stuttgart. Geplant war eine Menschenkette vom USA-Hauptquartier in Europa in Stuttgart/Vaihingen bis zu den Wiley-Kasernen der US-Armee in Neu-Ulm, einem der vorgesehenen Pershing-Stationierungsorte. Die Streckenlänge von 108 Kilometern war identisch mit der Zahl der Pershing-Raketen, die in der BRD aufgestellt werden sollten. In der Vorbereitung hatten die Organisatoren Sorge, ob es gelingen könnte, über eine solch lange Wegstrecke genügend Menschen zu mobilisieren, dass eine geschlossene Menschenkette entsteht. Doch diese Sorge war unbegründet. Mit 200.000 Teilnehmenden an der Menschenkette war sie nicht nur einfach geschlossen, sondern die Demonstranten standen oftmals in mehreren Reihen. Ulrich Sander schrieb damals: »Frauen, Männer und Jugendliche, die in Buskolonnen gekommen waren, fassten sich an den Händen und bildeten symbolisch eine Sperrmauer gegen die Nato-Pläne.«
Vor mehr als 300 000 Menschen auf dem Schlossplatz Stuttgarts erinnerte der baden-württembergische DGB-Vorsitzende Siegfried Pommerenke an die Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki. Aus ihrem Leid müssten die Lehren gezogen werden. Es dürfe zu keiner Stationierung neuer Atomraketen im Lande kommen. Ebenfalls in Stuttgart erklärte Marie-Luise Beck-Oberndorf, die Fraktionssprecherin der Grünen im Bundestag: »Wir sagen nein zum Nato-Doppelbeschluss, nein zur Stationierung – nein, ohne Wenn und Aber«. Es sprachen eine Vertreterin der US-Friedensbewegung und das SPD-Bundesvorstandsmitglied Erhard Eppler. Er wies die Behauptung zurück, die neuen Waffen dienten der Sicherheit der BRD.
Ulrich Schneider fuhr mit dem Kasseler Friedensforum zur Massendemonstration im Bonner Hofgarten. Schon die Anreise war ein eindrucksvolles Erlebnis der gesellschaftlichen Breite der Friedensbewegung. Da die große Zahl der Sonderbusse in der Stadt Bonn keinen Platz fand, wurde ein Autobahnabschnitt kurzerhand zu einem Großparkplatz umfunktioniert. Man musste daraufhin länger in die Stadt laufen, aber der Friedensprotest wurde so von allen Menschen in der Region registriert.
Und es war in keiner Weise übertrieben, was der Korrespondent des Neuen Deutschlands schrieb: »Fünf Stunden lang wehten am Sonnabendvormittag Tausende Fahnen und Transparente über dem Bonner Hofgarten und den umliegenden Straßen, überragt von der Hauptlosung der Aktionswoche in der BRD: ›Es ist an der Zeit: Sagt Nein! Keine neuen Atomraketen in unser Land!‹ Dicht an dicht drängten sich 500 000 Menschen, als gegen 12 Uhr in der BRD-Hauptstadt die machtvolle ›Volksversammlung für den Frieden‹ begann.«
Menschen unterschiedlichster Weltanschauungen, aller Berufsgruppen, Anhänger vieler Parteien und Organisationen bekundeten die Einmütigkeit ihres Friedenswillens mit Sprechchören und Losungen: »Pershing kann uns nicht schützen, sondern nur Profiten nützen«, »Arbeit und Moneten statt Rotstift und Raketen«. Eine Gruppe von Angehörigen der Bundeswehr trug das straßenbreite Spruchband: »Nato-Soldaten sagen No zu Cruise-Missiles und Pershing zwo«.
Zu den Rednern und Rednerinnen dieser Kundgebung gehörten zahlreiche internationale Gäste, die Grußbotschaften von den anderen Friedensaktionen überbrachten, der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, Petra Kelly, Ilse Brusis als Vertreterin des DGB-Bundesvorstands und der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll. Ein emotionaler Moment war die Ansprache der Antifaschistin Etty Gingold, die als zierliche Person damals allein 11000 Unterschriften für den Krefelder Appell gesammelt hatte. Sie appellierte an die Friedensbewegung, mit allen Kräften die Stationierung der USA-Erstschlagwaffen zu verhindern. Die überlebenden Widerstandskämpfer hätten 1945 geschworen, alles zu tun, damit von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehe.
Bekanntlich konnte dieser Massenprotest die Entscheidung des Deutschen Bundestages nicht verhindern. Gegen die Stimmen der Mehrheit der SPD-Fraktion und der Grünen wurde am 22. November 1983 im Bundestag die sogenannte Nachrüstung beschlossen. Trotz dieser Entscheidung hat die Friedensbewegung nicht aufgegeben. Die Ostermärsche im April 1984 waren mit gut 200.000 Teilnehmenden ein sichtbares Signal des Friedenswillens der Bevölkerung.
Der Protest hatte die längerfristige Wirkung, dass nach langen Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR am 1. Juni 1988 der INF-Vertrag in Kraft trat, der ohne Übertreibung als Beginn der atomaren Abrüstung in der Endphase des Kalten Krieges bezeichnet werden kann. Beschlossen wurde zwischen den USA und der UdSSR die Vernichtung von Mittel- und Kurzstreckenraketen sowie deren Produktionsverbot. Marschflugkörper und eine Zahl von Raketen mittlerer Reichweite (500 km bis 5500 km) waren zu vernichten. Neue Waffen dieser Kategorie sollten nicht produziert und getestet werden.
Die Erinnerung an diesen großartigen Erfolg der Friedensbewegung darf nicht den Blick dafür verstellen, dass mit dem Ende der sozialistischen Staaten nicht das Ende der Ost-West-Konfrontation verbunden war, sondern sich die USA und die Nato schon bald als Hegemon einer unipolaren Welt verstanden. Mit der Behauptung, Russland habe den Vertrag gebrochen, kündigten 30 Jahre später die USA den INF-Vertrag auf. Falls Russland bereit zu »sichtbaren Abrüstungsschritten« sei, könne der INF-Vertrag wieder in Kraft gesetzt werden, erklärte die US-amerikanische Regierung. Faktisch ist der INF-Vertrag seit August 2019 Geschichte. Weder die Bundesregierung noch andere europäische Regierungen versuchten politisch auf die US-Administration einzuwirken, um dieses Abrüstungsabkommen zu retten.
Somit bleibt viel Arbeit für die Friedensbewegung. Und sie ist durchaus noch da (anders als es vielfach behauptet wird). Sie ist jedoch geschwächt, auch dadurch, dass die Grünen und die SPD, die 1983 auf der Seite der Friedensaktionen standen, heute Kriegsparteien sind und die Mehrheitsmedien noch kriegerischer auftreten als die Politiker. Da Anfang der 1980er Jahre sich die Medien und damit die veröffentlichte Meinung von der Friedensbewegung entscheidend beeinflussen ließen, die öffentliche Meinung zu einer friedlichen veröffentlichten Meinung wurde, war damals ein wesentlicher Schritt für den Erfolg der Friedensbewegung getan. Das ist derzeit nicht zu erwarten.
Aktuell geht es der Friedensbewegung darum, Nato und Russland, die sich auf ukrainischem Boden einen Krieg liefern, zum Einhalten zu bringen. Diplomatie und Waffenstillstand sind die vordringlichen Forderungen an Stelle von Waffenlieferungen und weiterem Öl ins Feuer gießen durch Moskau, Kiew und Nato. Schon das ist eine große Herausforderung.