Als russische Truppen am 24. Februar 2022 die Ukraine angriffen, warfen führende deutsche Sozialdemokraten – wie schon die Reichstagsabgeordneten der Partei am 4. August 1914 durch Bewilligung von Kriegskrediten für die kaiserliche Armee – über Nacht jahrzehntelang bewährte Grundsätze der Friedenssicherung über Bord: Waffen nicht in Krisen- und schon gar nicht in Kriegsgebiete zu liefern, hatte für die SPD bis dahin zur Staatsräson der Bundesrepublik gehört. Seither wurden Panzerfäuste, Luftabwehrraketen, Panzerhaubitzen, Mehrfachraketenwerfer und Flakpanzer in ein Kriegsgebiet exportiert, das andere Nato-Staaten schon vorher mit schweren Waffen vollgestopft hatten. Dabei ist »unsere Sicherheit« entgegen anderslautenden Parolen weder am Hindukusch noch am Dnepr verteidigt worden.
Anstatt der Militarisierung des Denkens, der Sprache und der Medienberichterstattung entgegenzutreten, verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner von Ovationen begleiteten Parlamentsrede am 27. Februar 2022, jährlich »mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts«, also mindestens die Hälfte mehr als bisher, für Rüstung ausgeben und ein Sondervermögen in der schwindelerregenden Höhe von 100 Milliarden Euro für die mit einem Rüstungshaushalt von über 50 Milliarden Euro angeblich schlecht ausgerüstete, weil »unterfinanzierte« Bundeswehr schaffen zu wollen.
Nicht viel besonnener als die meisten SPD-Politiker verhielt sich das Regierungspersonal von Bündnis 90/Die Grünen: Plötzlich scherte sich diese Partei, als deren Markenkern seit ihrer Gründung die Bewahrung von Umwelt, Natur und Klima galt, nicht mehr um ihre Prinzipien, sondern winkte das größte Aufrüstungsprogramm seit Gründung der Bundeswehr durch. Dabei schadet der Umwelt, der Natur und dem Klima nichts mehr als das Militär. Dies reicht schon im Frieden von einem riesigen Energie- und Landverbrauch über Manöverschäden bis zum Tieffluglärm von Militärjets. Plötzlich galt den Bündnisgrünen, bei denen ein Salonbellizismus um sich griff, selbst der Import des vorher als Teufelszeug verdammten Fracking-Gases als Königsweg aus der Energieabhängigkeit von Russland.
Alle etablierten Parteien (mit Ausnahme der LINKEN) waren plötzlich bereit, mehr Geld für die »Ertüchtigung« der Bundeswehr auszugeben – dieser neuerdings häufig verwendete Begriff erinnert stärker an Turnvater Jahn als an eine moderne Armee. Man habe die von Russland ausgehende Kriegsgefahr jahrzehntelang unterschätzt, hieß es meistens zur Begründung. Dass man die einzig verfassungskonforme Zielsetzung der Landesverteidigung zugunsten einer Umrüstung der Bundeswehr zur überall einsetzbaren Interventionsarmee aufgegeben hatte, wurde hingegen verschwiegen.
Dass unser Land von der Russischen Föderation, ihrem Präsidenten oder irgendeinem anderen Staat auf der Welt militärisch bedroht würde, war und ist nicht erkennbar. Vielmehr ist es absurd zu glauben, russische Truppen könnten irgendwann eine deutsche Stadt erobern, gelang es ihnen doch wochenlang nicht, ein Stahlwerk in Mariupol oder Donezk und Luhansk militärisch unter Kontrolle zu bekommen. Trotzdem machte die vom Deutschen Bundestag herausgegebene Wochenzeitung Das Parlament am 8. August 2022 mit der Titelschlagzeile »Putin ante portas« (für Leser/innen ohne das Kleine oder Große Latinum sei es übersetzt: »Putin vor den Toren«) auf, ganz so, als stünden russische Truppen demnächst in Berlin, Hamburg oder München.
Zehnmal sprach Scholz in seiner »Zeitenwende«-Rede von »Putins Krieg«, wozu die »Fragen eines lesenden Arbeiters« von Bertolt Brecht wie die Faust aufs Auge passen: »Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?« Wie kann man das Geschehen in der Ukraine nur derart simplifizieren, dessen Entstehungsursachen nach Bildzeitungsmanier auf eine Person verkürzen, die gesellschaftlichen Hintergründe und die machtpolitischen Interessen des Konflikts jedoch völlig ignorieren?
Obwohl der Oppositionsführer Friedrich Merz vom russischen Präsidenten in seiner Antwort auf Scholz als »Kriegsverbrecher« sprach, fuhr er mit einem Seitenhieb auf den Bundeskanzler fort: »Aber so einen Krieg befiehlt nicht einer allein, und er entsteht auch nicht ohne politisches Umfeld.« Glaubwürdiger wäre Merz allerdings, wenn er jene US-Präsidenten, die über tausend Personen – darunter zahlreiche Unbeteiligte, Frauen und Kinder – mit Kampfdrohnen unter direkter Beteiligung der Ramstein Air Base in Deutschland völkerrechtswidrig (ohne Gerichtsverfahren oder Kriegserklärung) exekutieren ließen, ebenfalls als Mörder bezeichnen würde.
Zu einer fundierten Analyse der Kriegsursachen trug Scholz mit seiner Rede, die bestenfalls Stammtischniveau aufwies, nichts bei. Die von ihm favorisierte Kurzformel erinnerte an die Personalisierung, Psychologisierung und Pathologisierung zwecks Entpolitisierung im Nachklang des Zweiten Weltkrieges. Indem seinerzeit von »Hitlers Krieg« die Rede war, sprachen sich viele Deutsche selbst von jeglicher Schuld frei. Diese hatten folglich weder die Nazis, ihre konservativen Gesinnungsfreunde und Mitläufer noch das Großkapital und seine Verbände auf sich geladen, sondern eine Person, die vermeintlich »durchgeknallt« war und den Krieg allein vom Zaun gebrochen hatte.
Nun behauptet man im Grunde dasselbe von Wladimir Putin. Doch ein Krieg wird nie bloß von einer Person herbeigeführt, sondern immer auch von der Elite eines Landes oder mehrerer Länder – der ökonomischen, der politischen und Verwaltungselite. Putin ist aufgrund seiner Spitzenposition als Präsident der Russischen Föderation zweifellos hauptverantwortlich für die am 24. Februar 2022 begonnene Invasion. Ihm diesen Krieg jedoch allein anzulasten und an seiner psychischen Konstitution zu zweifeln, blendet andere Determinanten – darunter die Mitverantwortung ukrainischer Politiker und der Nato – aus.
Was wegen des fortexistierenden Antisowjetismus und Antikommunismus oftmals übersehen wird: Das heutige Russland ist kein sozialistischer oder kommunistischer Staat wie die UdSSR, mit der es immer noch identifiziert wird, vielmehr eine kapitalistische Gesellschaft wie die Ukraine. Das übersehen auch manche Linke in Ostdeutschland, die mit Putin aufgrund ihrer traditionellen Verbundenheit mit dem früheren »Bruderstaat« der DDR sympathisieren. Russland und die Ukraine sind durch ein hohes Maß an sozioökonomischer Ungleichheit gekennzeichnet. Deshalb gilt für sie wie für andere imperialistische Staaten, was der am 31. Juli 1914 ermordete französische Sozialistenführer Jean Jaurès in einem berühmten Vergleich folgendermaßen ausgedrückt hat: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.«
Scholz fiel in übelste Kalte-Kriegs-Rhetorik zurück, als er von einem »Konflikt zwischen Putin und der freien Welt« sprach. Dagegen avancierte die Ukraine in kürzester Zeit zum Sympathieträger, obwohl sie wegen ihrer fanatischen, ultranationalistischen und militanten Nazi-Kollaborateure unter dem vom früheren Botschafter Andrij Melnyk verehrten Stepan Bandera, wegen der ausgeprägten Korruption mit Oligarchen als eigentlichen Landesherrn sowie aufgrund der US-Amerikanisierung von Wirtschaft und politischer Kultur (mit einem Komiker als Präsidenten und einem Boxer als Bürgermeister der Hauptstadt) schlecht beleumundet war. Dazu trug auch bei, dass die Massenmedien in der Ukraine weitgehend gleichgeschaltet, sozialistische/kommunistische Parteien verboten und Gewerkschaften verpönt sind.
Entgegen monokausalen Erklärungsmustern tragen meistens beide Partner ihren Teil zur Entstehung und Verschärfung der gegenseitigen Spannungen bei, bis es zum »großen Knall« kommt. So war es auch beim Ukrainekrieg, der einen längeren Vorlauf hatte. Am ehesten hätten die Entstehungsursachen des Konflikts bei der Auflösung des Warschauer Vertrages 1990/91 beseitigt werden können. Zwar hat die Ukraine seinerzeit gegen entsprechende Sicherheitsgarantien Russlands auf ihren Atomwaffenbestand verzichtet, über den sie ohnehin nicht die Kommandogewalt besaß, eine sehr viel nachhaltigere Friedenssicherung wäre jedoch möglich gewesen, wenn die Nato-Mitglieder und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion am Ende des Kalten Krieges ein kollektives Sicherheitssystem in Europa geschaffen hätten. Wären die USA als Führungsmacht der westlichen Allianz bereit gewesen, das Zeitalter der hoch gerüsteten und atomar bewaffneten Militärpakte auf unserem Kontinent für immer zu beenden, hätte man alle potentiellen Kriegsgegner gleichberechtigt eingliedern, Russland seine historisch begründeten Einkreisungsängste nehmen und die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs durch Schaffung einer gemeinsamen Abwehrfront aller übrigen beteiligten Staaten minimieren können.
Wenn die Geschichte der internationalen Beziehungen etwas lehrt, dann vor allem dies: Gefährdet war der Friede in Europa immer dann, wenn es größere Spannungen zwischen Deutschland und Russland gab. Die zweimalige Osterweiterung der Nato, die auf dem Gipfel in Bukarest 2008 auf Wunsch von US-Präsident George W. Bush erklärte Bereitschaft des Militärbündnisses zur Aufnahme der Ukraine und Georgiens, die Einfügung dieser »strategischen Orientierung« in die ukrainische Verfassung sowie die massive Aufrüstung des Landes durch US-amerikanische Militärhilfe haben der russischen Wahrnehmung eines übermächtigen Westens und einer möglichen Raketenstationierung »vor der eigenen Haustür« immer neue Nahrung gegeben. Hätte »Putins Russland« seinen Nachbarstaat wirklich angegriffen, wenn all das dem Krieg nicht vorangegangen wäre und die Ukraine statt der Nato-Ausdehnung an die russische Westgrenze ihre immerwährende Neutralität zum Verfassungsprinzip erhoben hätte?
Äußert man Skepsis im Hinblick auf das der Ukraine unterbreitete Angebot eines Nato-Beitritts, wird gern auf die Souveränität des Landes verwiesen, das wie jedes andere selbst entscheiden können müsse, ob und ggf. welchem Militärpakt es angehören möchte. Überzeugender wäre dieses Argument, hätten seine Protagonisten auch die Souveränität Kubas verteidigt, als der Karibikstaat im Jahr 1962 sowjetische Mittelstreckenraketen auf seinem Territorium stationieren wollte. Und hat irgendjemand hierzulande dagegen protestiert, dass die USA sogar einen Atomkrieg riskierten, um das »vor ihrer Haustür« zu verhindern?
Für einen kritischen Beobachter lautet die Schlüsselfrage: Wem nützt das Gemetzel auf dem Schlachtfeld? Hauptprofiteure sind die russische und die US-amerikanische Rüstungsindustrie bzw. deren Großaktionäre. Krieg ist unter kapitalistischen Rahmenbedingungen ein riesiges Geschäft für den militärisch-industriellen Komplex. Waffensysteme werden im Kampfmodus erprobt, zerstört und anschließend neu entwickelt, was den Aktienkurs von Rüstungskonzernen explodieren lässt. Hauptverliererin des Krieges ist die arbeitende Bevölkerung, der sowohl die meisten Gefallenen wie auch die Opfer seiner wirtschaftlichen Folgen angehören, von seinen enormen Kosten, die sie aufgebürdet bekommt, ganz zu schweigen.
Unternehmen wie Rheinmetall – Deutschlands größter Rüstungskonzern, dessen Aktienkurs sich im Frühjahr 2022 verdoppelte – haben ein Interesse daran, dass es möglichst lange und viele Waffenlieferungen in die Ukraine gibt. Ob schwere Waffen das sind, was die Menschen vor Ort wirklich brauchen, ist jedoch zu bezweifeln. Denn solche Waffenlieferungen verlängern möglicherweise sogar den Krieg, das Sterben und das Leiden der Bevölkerung. Sinnvoller wären politische oder diplomatische Friedensbemühungen, nicht weitere Konflikt- und Gewalteskalation. Schließlich entwickeln Kriege praktisch ausnahmslos eine fatale Eigendynamik: Je länger sie dauern, umso mehr Waffen und Soldaten werden mobilisiert, umso größer wird der wechselseitige Hass, und umso stärker stumpfen alle direkt oder indirekt daran Beteiligten ab, obwohl ihr energischer Widerstand notwendig wäre, um das Morden der entfesselten Militärmaschinerie zu stoppen.
Die Kubakrise im Oktober 1962 machte den USA wie der Sowjetunion klar, dass ihr Konfrontationskurs die Gefahr eines die Welt vernichtenden Atomkrieges in sich barg und Entspannungsbemühungen überfällig waren. Bald darauf wurde eine als »Heißer Draht« oder »Rotes Telefon« bezeichnete Fernschreibverbindung zwischen Moskau und Washington eingerichtet sowie der Atomwaffensperrvertrag geschlossen. In jüngster Zeit fürchtete Russland atomare US-Mittelstreckenraketen auf der Krim oder im Donbass ebenso wie die USA damals russische Nuklearraketen auf Kuba. Sieht man davon ab, dass es in der Ukraine – anders als seinerzeit – zum Krieg gekommen ist, ähnelt dieser Konflikt frappierend der Kubakrise. Deshalb sollten beide dieselben Schlussfolgerungen wie damals ziehen und sich um Deeskalation bemühen. Friedensverhandlungen, ein Waffenstillstand und die Beendigung des Krieges müssen allerhöchste Priorität haben.