Hätte jemand Anfang des Jahres die Prognose gewagt, in Deutschland würden demnächst Hunderttausende für politische Ziele auf die Straße gehen, wäre er oder sie bestenfalls ausgelacht worden. Doch es ist passiert: Riesige Menschenmassen drängten sich in Großstädten wie kleinen Orten bei Demonstrationen für Demokratie und Menschenrechte und gegen Rechtsextreme. An einem einzigen Wochenende Mitte Januar etwa anderthalb Millionen Bürgerinnen und Bürger: unfassbar!
Umso mehr, als nicht Promis und Parteien zu den Kundgebungen aufgerufen hatten, sondern Initiativen und lokale Bündnisse, die sich als Brandmauer gegen Rassismus und Rechtsentwicklung kurzfristig zusammengetan haben, nachdem Berichte über ein Nazi-Geheimtreffen erschienen waren. Ganz verschiedene Gruppen riefen zu den Demos, von Kirchen und Gewerkschaften über Seenotrettung bis zur Antifa. Zwar wollten Kanzler Scholz und Außenministerin Baerbock in ihrem Wahlkreis mit ihrer Teilnahme auch ein Zeichen gegen rechts setzen, aber Politpromis hielten sich sonst eher im Hintergrund.
Die bunte Vielfalt der Demonstrationen machte ihre Stärke aus – und auch ihre Schwäche. So sehr man sich einig fühlen konnte gegen AfD und rechte »Remigrations«-Parolen, so unklar blieben die Ziele und Forderungen: Wollte man Demokratie erhalten oder erkämpfen? Menschenrechte verteidigen oder endlich verwirklichen? AfD verbieten oder Fluchtursachen beheben? Auch die sympathische Einheit in der Vielfalt bekam schnell Risse: Bereits kurz nach den beeindruckenden Demos begannen die Absatzbewegungen etwa der Kirchen von der Antifa oder der bürgerlichen Beteiligten von antikapitalistischen Reden. Und schon versuchen Parteien, sich mit eigenen Interessen an die Spitze der Bewegung zu stellen, denn sie wollen die starke Konkurrenz der rechten Partei loswerden.
Bislang waren ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt, der AfD durch modifizierte Kopien der flüchtlingsfeindlichen Forderungen die Wählerstimmen abzujagen. Noch am Tag vor den größten Demos verabschiedete der Bundestag – nein, kein Remigrations-, sondern ein »Rückführungsbeschleunigungsgesetz«. Die Koalition stimmte mit einzelnen Ausnahmen bei den Grünen geschlossen dafür, CDU/CSU und AfD dagegen, da es ihnen nicht radikal genug war. Und rekapitulieren wir einige wenige Schlagzeilen aus den Wochen davor: »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben«, forderte Olaf Scholz im Oktober 23; Bayerns Ministerpräsident Söder will Ausreisezentren für schnellere Abschiebungen nach Nordafrika (September 23); NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) verlangt im November ein »Ruanda-Modell«, also sofortiges Abschieben und Asylverfahren in Afrika; auch Jens Spahn, CDU, will irregulär Eingereiste zur Abschreckung binnen 48 Stunden nach Ruanda oder Ghana abtransportieren (Dezember). Im Jahr 2023 starben 2.797 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer; seit 2014 sind 28.547 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken. Und: Das israelische Ministerium für Geheimdienste hat einen Plan zur Umsiedlung von 2,3 Millionen Palästinensern aus dem Gazastreifen auf die ägyptische Sinai-Halbinsel ausgearbeitet.
Solange die Hintergründe des Erstarkens der AfD und all der rechten und faschistischen Parteien und Regierungen in Europa nicht einmal analysiert, geschweige denn bekämpft werden, geht das Aufbäumen gegen die AfD ins Leere. Nach Wahlprognosen erreicht die rechte Partei in vier von fünf neuen Bundesländern über 30 Prozent der Stimmen. Es wäre eine fatale Schlussfolgerung, diese WählerInnen für Hardcore-Faschisten zu halten, auch wenn ihre Protestwahl ein gefährlicher Irrtum ist, der sich gegen sie selbst richtet. Die meisten sind Enttäuschte und Getäuschte, die sich auf Grund ihrer Erfahrungen mit der Politik der überwiegend westdeutschen Elite von dieser verachtet fühlen und keine Lösung ihrer bedrohlichen Probleme von ihr erwarten.
Manch eine/r mag verständnislos denken: Wären Riesendemos nicht schon vor Jahren fällig gewesen angesichts der Aufrüstung und Nato-Osterweiterung oder der neoliberalen Demontage der sozialen Sicherung? Man hätte damit manchen Krieg, zahlreiche Katastrophen und den Aufwind für Faschisten verhindern können. So mischt sich die Freude über die Erhebung der Massen mit Skepsis. Man täusche sich nicht: Der Kampf gegen rechts ist wichtig, aber die politischen Machtverhältnisse in einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft bilden den fruchtbaren Boden für Unzufriedenheit, Angst – und für Faschismus; für Ausbeutung des globalen Südens, Flucht und Taxierung der Menschen in Verwertbare und Wertlose, die man in Lager sperren, vertreiben oder ertrinken lassen kann.
Kaum sind die Großkundgebungen vorbei, melden sich Vertreter aus Konzernen, Parteien und Interessenverbänden, um den Protest zu vereinnahmen: Wir wollen ja alle dasselbe! Den Konzernen ist die Hautfarbe egal, wenn es nur billige Fachkräfte sind. Und die Parteien freuen sich über die Proteste gegen die AfD. Wenn CDU-Chef Merz »mit einer sehr klaren, sehr harten Auseinandersetzung, insbesondere gegen die AfD« in das Superwahljahr zu gehen verspricht, weiß man: Die Machtelite wird alles tun, die bedrohliche Konkurrenz der AfD loszuwerden und die Verhältnisse, die zu ihrem Erstarken führen, nicht anzutasten. Das Ergebnis kennen wir: eine Elite, die effektiv für sich sorgt, der aber der Alltag der Mehrheit fremd und ihre Bedürfnisse egal sind. Eine aktuelle repräsentative Umfrage unter der erwerbstätigen Bevölkerung in Deutschland belegt eine zunehmende Erschöpfung. Was raubt ihnen die Kraft? Laut Befragten die Politik (46 %), die Vielzahl der Krisen (43 %), die wirtschaftliche Lage und die Spaltung der Gesellschaft (je 42 %). Und eine Mehrheit glaubt, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können, wie eine andere Umfrage zeigt.
Dennoch, ein Hoffnungsschimmer bleibt: Die Demos als emotionales Aufbäumen gegen Rassismus und Zerfall der Gesellschaft vermitteln eine neue Erfahrung – viele waren zum ersten Mal bei einer Kundgebung – und vermögen gegen Resignation und Ohnmacht zu wirken. Wir können der AfD das Wasser abgraben, wenn wir eine Politik durchsetzen, die sich um das allgemeine Wohl der Menschen und der Natur kümmert, sich für gerechte Verhältnisse und international für friedliche Konfliktlösungen einsetzt.