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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Überwältigende Proteste – ziellos?

Hät­te jemand Anfang des Jah­res die Pro­gno­se gewagt, in Deutsch­land wür­den dem­nächst Hun­dert­tau­sen­de für poli­ti­sche Zie­le auf die Stra­ße gehen, wäre er oder sie besten­falls aus­ge­lacht wor­den. Doch es ist pas­siert: Rie­si­ge Men­schen­mas­sen dräng­ten sich in Groß­städ­ten wie klei­nen Orten bei Demon­stra­tio­nen für Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te und gegen Rechts­extre­me. An einem ein­zi­gen Wochen­en­de Mit­te Janu­ar etwa andert­halb Mil­lio­nen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger: unfassbar!

Umso mehr, als nicht Pro­mis und Par­tei­en zu den Kund­ge­bun­gen auf­ge­ru­fen hat­ten, son­dern Initia­ti­ven und loka­le Bünd­nis­se, die sich als Brand­mau­er gegen Ras­sis­mus und Rechts­ent­wick­lung kurz­fri­stig zusam­men­ge­tan haben, nach­dem Berich­te über ein Nazi-Geheim­tref­fen erschie­nen waren. Ganz ver­schie­de­ne Grup­pen rie­fen zu den Demos, von Kir­chen und Gewerk­schaf­ten über See­not­ret­tung bis zur Anti­fa. Zwar woll­ten Kanz­ler Scholz und Außen­mi­ni­ste­rin Baer­bock in ihrem Wahl­kreis mit ihrer Teil­nah­me auch ein Zei­chen gegen rechts set­zen, aber Polit­pro­mis hiel­ten sich sonst eher im Hintergrund.

Die bun­te Viel­falt der Demon­stra­tio­nen mach­te ihre Stär­ke aus – und auch ihre Schwä­che. So sehr man sich einig füh­len konn­te gegen AfD und rech­te »Remigrations«-Parolen, so unklar blie­ben die Zie­le und For­de­run­gen: Woll­te man Demo­kra­tie erhal­ten oder erkämp­fen? Men­schen­rech­te ver­tei­di­gen oder end­lich ver­wirk­li­chen? AfD ver­bie­ten oder Flucht­ur­sa­chen behe­ben? Auch die sym­pa­thi­sche Ein­heit in der Viel­falt bekam schnell Ris­se: Bereits kurz nach den beein­drucken­den Demos began­nen die Absatz­be­we­gun­gen etwa der Kir­chen von der Anti­fa oder der bür­ger­li­chen Betei­lig­ten von anti­ka­pi­ta­li­sti­schen Reden. Und schon ver­su­chen Par­tei­en, sich mit eige­nen Inter­es­sen an die Spit­ze der Bewe­gung zu stel­len, denn sie wol­len die star­ke Kon­kur­renz der rech­ten Par­tei loswerden.

Bis­lang waren ihre Bemü­hun­gen nicht von Erfolg gekrönt, der AfD durch modi­fi­zier­te Kopien der flücht­lings­feind­li­chen For­de­run­gen die Wäh­ler­stim­men abzu­ja­gen. Noch am Tag vor den größ­ten Demos ver­ab­schie­de­te der Bun­des­tag – nein, kein Remi­gra­ti­ons-, son­dern ein »Rück­füh­rungs­be­schleu­ni­gungs­ge­setz«. Die Koali­ti­on stimm­te mit ein­zel­nen Aus­nah­men bei den Grü­nen geschlos­sen dafür, CDU/​CSU und AfD dage­gen, da es ihnen nicht radi­kal genug war. Und reka­pi­tu­lie­ren wir eini­ge weni­ge Schlag­zei­len aus den Wochen davor: »Wir müs­sen end­lich im gro­ßen Stil abschie­ben«, for­der­te Olaf Scholz im Okto­ber 23; Bay­erns Mini­ster­prä­si­dent Söder will Aus­rei­se­zen­tren für schnel­le­re Abschie­bun­gen nach Nord­afri­ka (Sep­tem­ber 23); NRW-Mini­ster­prä­si­dent Hen­drik Wüst (CDU) ver­langt im Novem­ber ein »Ruan­da-Modell«, also sofor­ti­ges Abschie­ben und Asyl­ver­fah­ren in Afri­ka; auch Jens Spahn, CDU, will irre­gu­lär Ein­ge­rei­ste zur Abschreckung bin­nen 48 Stun­den nach Ruan­da oder Gha­na abtrans­por­tie­ren (Dezem­ber). Im Jahr 2023 star­ben 2.797 Men­schen bei der Flucht über das Mit­tel­meer; seit 2014 sind 28.547 Geflüch­te­te im Mit­tel­meer ertrun­ken. Und: Das israe­li­sche Mini­ste­ri­um für Geheim­dien­ste hat einen Plan zur Umsied­lung von 2,3 Mil­lio­nen Palä­sti­nen­sern aus dem Gaza­strei­fen auf die ägyp­ti­sche Sinai-Halb­in­sel ausgearbeitet.

Solan­ge die Hin­ter­grün­de des Erstar­kens der AfD und all der rech­ten und faschi­sti­schen Par­tei­en und Regie­run­gen in Euro­pa nicht ein­mal ana­ly­siert, geschwei­ge denn bekämpft wer­den, geht das Auf­bäu­men gegen die AfD ins Lee­re. Nach Wahl­pro­gno­sen erreicht die rech­te Par­tei in vier von fünf neu­en Bun­des­län­dern über 30 Pro­zent der Stim­men. Es wäre eine fata­le Schluss­fol­ge­rung, die­se Wäh­le­rIn­nen für Hard­core-Faschi­sten zu hal­ten, auch wenn ihre Pro­test­wahl ein gefähr­li­cher Irr­tum ist, der sich gegen sie selbst rich­tet. Die mei­sten sind Ent­täusch­te und Getäusch­te, die sich auf Grund ihrer Erfah­run­gen mit der Poli­tik der über­wie­gend west­deut­schen Eli­te von die­ser ver­ach­tet füh­len und kei­ne Lösung ihrer bedroh­li­chen Pro­ble­me von ihr erwarten.

Manch eine/​r mag ver­ständ­nis­los den­ken: Wären Rie­sen­de­mos nicht schon vor Jah­ren fäl­lig gewe­sen ange­sichts der Auf­rü­stung und Nato-Ost­erwei­te­rung oder der neo­li­be­ra­len Demon­ta­ge der sozia­len Siche­rung? Man hät­te damit man­chen Krieg, zahl­rei­che Kata­stro­phen und den Auf­wind für Faschi­sten ver­hin­dern kön­nen. So mischt sich die Freu­de über die Erhe­bung der Mas­sen mit Skep­sis. Man täu­sche sich nicht: Der Kampf gegen rechts ist wich­tig, aber die poli­ti­schen Macht­ver­hält­nis­se in einer in Klas­sen gespal­te­nen Gesell­schaft bil­den den frucht­ba­ren Boden für Unzu­frie­den­heit, Angst – und für Faschis­mus; für Aus­beu­tung des glo­ba­len Südens, Flucht und Taxie­rung der Men­schen in Ver­wert­ba­re und Wert­lo­se, die man in Lager sper­ren, ver­trei­ben oder ertrin­ken las­sen kann.

Kaum sind die Groß­kund­ge­bun­gen vor­bei, mel­den sich Ver­tre­ter aus Kon­zer­nen, Par­tei­en und Inter­es­sen­ver­bän­den, um den Pro­test zu ver­ein­nah­men: Wir wol­len ja alle das­sel­be! Den Kon­zer­nen ist die Haut­far­be egal, wenn es nur bil­li­ge Fach­kräf­te sind. Und die Par­tei­en freu­en sich über die Pro­te­ste gegen die AfD. Wenn CDU-Chef Merz »mit einer sehr kla­ren, sehr har­ten Aus­ein­an­der­set­zung, ins­be­son­de­re gegen die AfD« in das Super­wahl­jahr zu gehen ver­spricht, weiß man: Die Macht­eli­te wird alles tun, die bedroh­li­che Kon­kur­renz der AfD los­zu­wer­den und die Ver­hält­nis­se, die zu ihrem Erstar­ken füh­ren, nicht anzu­ta­sten. Das Ergeb­nis ken­nen wir: eine Eli­te, die effek­tiv für sich sorgt, der aber der All­tag der Mehr­heit fremd und ihre Bedürf­nis­se egal sind. Eine aktu­el­le reprä­sen­ta­ti­ve Umfra­ge unter der erwerbs­tä­ti­gen Bevöl­ke­rung in Deutsch­land belegt eine zuneh­men­de Erschöp­fung. Was raubt ihnen die Kraft? Laut Befrag­ten die Poli­tik (46 %), die Viel­zahl der Kri­sen (43 %), die wirt­schaft­li­che Lage und die Spal­tung der Gesell­schaft (je 42 %). Und eine Mehr­heit glaubt, ihre Mei­nung nicht mehr frei äußern zu kön­nen, wie eine ande­re Umfra­ge zeigt.

Den­noch, ein Hoff­nungs­schim­mer bleibt: Die Demos als emo­tio­na­les Auf­bäu­men gegen Ras­sis­mus und Zer­fall der Gesell­schaft ver­mit­teln eine neue Erfah­rung – vie­le waren zum ersten Mal bei einer Kund­ge­bung – und ver­mö­gen gegen Resi­gna­ti­on und Ohn­macht zu wir­ken. Wir kön­nen der AfD das Was­ser abgra­ben, wenn wir eine Poli­tik durch­set­zen, die sich um das all­ge­mei­ne Wohl der Men­schen und der Natur küm­mert, sich für gerech­te Ver­hält­nis­se und inter­na­tio­nal für fried­li­che Kon­flikt­lö­sun­gen einsetzt.