Früher einmal war das Übertragen menschlichen Handelns auf Tierfabeln ein probates Mittel, etwa um die nachfolgende Rache der Herrschenden zu vermeiden. Doch es ist m.E. noch mehr, nämlich eine Chance, komplizierte Zusammenhänge verständlich zu machen. Nehmen wir mal den Löwen als Beispiel: Er ist einer der großen Räuber, aber nicht der einzige. Doch wer es wagen sollte, in seinem Jagdrevier zu wildern, wird seine Strafe zu spüren bekommen – ob Leopard, Hyäne oder Schakal. Ja, er dehnt sein Jagdgebiet so weit aus, wie es möglich ist, verscheucht alle anderen Raubtiere, damit er sich richtig vollfressen kann. Doch was ist, wenn sein Jagdgebiet zu groß wird: Kann er es dann noch überblicken, geschweige denn unter Kontrolle halten? Früher oder später wird er sich verzetteln; seine Löwinnen hetzen sich selbst zu Tode, um ihn zu versorgen; andere Raubtiere werden sich breitmachen und möglicherweise die ganze Löwenbande zur Strecke bringen.
Sie meinen, das ist ein sehr windiges Beispiel? Na gut, belegen wir es mit ein paar Fakten: Die menschliche Gesellschaft hat bisher viele Großreiche erlebt: von den Persern über das Römische Reich bis zu den Mongolen. Die meisten endeten durch Überdehnung ihres Herrschaftsbereichs. Der momentane Löwe in der Weltpolitik dehnt sein Revier beständig aus. Nicht alle Konflikte muss er selbst austragen; oft sollen das andere für ihn tun. Aber es braucht dafür auch nicht immer einen Krieg: Das Arsenal an »nichtdiplomatischer Einflussnahme« reicht von Korrumpierung von Staaten über falsche Versprechen oder Lügen, über Bündnisse bis zu Sabotage und Aufwiegelung kleiner ethnischer Gruppen. Und wenn man eben »nur« genug Waffen in die Krisengebiete liefert …
Heutzutage kann sich der Löwe nicht mehr alles erlauben – das Leben läuft in geordneten Bahnen, man hat sich mit anderen Spezies geeinigt, und ein paar davon stärken dem Löwen sogar die Flanken. Nein, diese sind auch keine Harmlosen, sondern ebenfalls Raubtiere – das liegt allen jenen im Blut! Und irgendwann bricht dieser Drang durch; man sieht es gerade in Südostasien, in Osteuropa, im Nahen Osten, im Grenzgebiet zwischen Iran und Pakistan, auch in Teilen von Afrika. Und dann erfinden diese Raubtiere jedes Mal ganz tolle Ausreden, um ihre Attacken zu rechtfertigen, dass er ja überhaupt nicht anders ginge als … Sie erfinden also ihre eigenen Werte, nach denen sich die anderen zu richten haben!
Aber es geht nicht nur um brutale, deutlich sichtbare Attacken, sondern auch um viele kleine Nadelstiche: Ob man anderen den Weg zur Wasserstelle blockiert oder an deren Schlafbaum pinkelt – so etwas geht immer!
Doch der Löwe will auch seine Mitläufer auf Distanz halten! Dafür hat er seine Trickkiste schon ziemlich weit geöffnet: das Wegbeißen von den Futterquellen, das Austricksen des einen gegen den anderen, also Zwietracht zwischen den Fresskumpels …
Aber da ist immer noch dieser Hunger: nach Rohstoffen, nach billigen Produzenten, nach Vormachtstellung – und darin gleichen sich wieder alle diese Raubtiere! Dafür würden sie selbst einen riesigen Bären angreifen! Denn einmal konnten sie den Bärenkopf schon vernebeln (oder hat er sich selbst benebelt?) und ihm einiges entreißen … Das klappte dann nicht mehr – und seitdem ist der Bär der Böse, der Feind schlechthin! Und sie schlichen sich immer dichter an ihn heran, bequatschten und stachelten andere an, um bis vor seine Höhle zu gelangen – und diese anderen waren sogar echt so naiv, dem Löwen zu glauben … Wussten sie nicht, was ein Löwe ist?!
Aber zurück aus dem Reich der Fabeln in die reale Welt: Das westliche Militärbündnis gelangt schon an seine Grenzen, wenn es Kriegspartei oder »nur« Steigbügelhalter in gerade mal einem lokal begrenzten Kriegsherd ist. Dies passiert nicht zum ersten Mal, sondern mehrfach seit dem 2. Weltkrieg: Korea, Vietnam, Afghanistan und jetzt in der Ukraine. Bei mehreren Brandherden wäre das Bündnis überfordert – nein, schlimmer noch: Die Weltmachtträume sind schon in den letzten zwei Jahren im Ukraine-Konflikt zerschellt – strategisch und waffenmäßig. Und wer jetzt noch vorhat, in Südostasien zündeln zu müssen und gleichzeitig im Nahen Osten einzugreifen – fehlt da nicht ein gewisser Realitätsbezug? Natürlich! Doch das wird übertüncht durch Propaganda mit Siegesfanfaren – wie schon seit dem alten Ägypten üblich. War das Brecht, der schrieb: »dass nicht sein kann, was nicht sein darf«?
Jenseits der Meinungsmache gibt es jedoch viel wichtigere, weil tatsächlich ablaufende Vorgänge. Zum einen: Viele Länder lösen sich von der Vormundschaft des Wertewestens, angefangen vom westlichen Afrika bis nach Ostasien – und es sind nicht unbedingt arme Länder! Als eine Art »Kondensationskern« fungiert hierbei das BRICS-Bündnis. Dieser Zusammenschluss ist nicht nur politisch untermauert (als Alternative zum Wertewesten), sondern auch finanziell sehr bedeutsam: Verschiedene Länder handeln untereinander nicht mehr auf Dollar-Basis, sondern mit lokalen Währungen. Je intensiver dies geschieht, desto weniger Bedeutung hat der Dollar weltweit, desto stärker wirken finanzielle Schwankungen der USA sich weltweit aus. Wer jedoch davon abgekoppelt ist (zumindest teilweise), den tangieren solche Schwankungen weniger. Wie man heute sieht, haben die SWIFT-Beschränkungen Russland nicht wesentlich geschadet; die Kooperation mit China läuft stark mittels Yen und Rubel; die Maßnahmen der Sanktionierer haben keine große Wirkung gezeigt.
Ein weiterer Aspekt: Der Wertewesten ist auf den Rest der Welt angewiesen – sei es, um Bananen zu importieren oder seltene Erden, sei es für den Export ihrer Fertigwaren. Schon diese weinigen groben Zusammenhänge zeigen, dass man dies nur unter gleichberechtigten Partnern tun kann – ohne Handelsdiktate (Kuba-Blockade), ohne Strafzölle (von USA gegen zig andere Länder), ohne Finanztricks (Gold-Blockade gegenüber Venezuela und Westafrika).
Neben vielen Ländern, die sich abkoppeln, gibt es jedoch auch die, die jede Abweichung von der Linie der USA verdammen. Ja, mehr noch: Sie lassen sich strategisch wichtige Infrastrukturen zertrümmern, ohne sich darum zu scheren! Dass sie sich damit rohstoffseitig und ökonomisch in eine ungeheure Abhängigkeit begeben – das wird alles »weggelächelt« (oder gegrinst?). Ob sich Europas Großkonzerne gegen die aktuelle Politik stellen, ob Millionen dagegen protestieren – es ist keine Änderung in Sicht! Lieber nochmal dicke Milliarden in die Ukraine geschickt – oder bleibt das Staatsgeld doch hier im Lande, nur in anderen Taschen, z. B. der Rüstungskonzerne? Hieß es nicht so ähnlich aus dem US-Außenministerium?
Nun könnte man mutmaßen, dass die USA mit guten Dollar-Spritzen andere Länder wieder an sich binden. Aber woher soll das Geld kommen – das Staatssäckel der USA ist leer. Schlimmer noch: Die Schuldenlast ist so riesig wie das Bruttoinlandsprodukt mehrerer entwickelter Staaten in Summe!
Vielleicht haben findige Köpfe schon eine Simulation programmiert, wie sich diese genannten Abläufe in Zukunft entwickeln könnten – die Politiker-Kaste scheint dies nicht gemacht zu haben.
Einzelne Artikel zur US-Politik haben zumindest die Entwicklung in der Ukraine etwas realistischer reflektiert. Doch dies ist ja nur eine der politischen »Baustellen« – wie wird es mit den anderen Konfliktherden weiter gehen? Wie der Wertewesten sehen kann: Niemand kann die Rolle des »Weltgendarmen« aktuell wiederbeleben. Um auf die Fabeln zurückzukommen: Dieser Machthunger ist trotzdem noch da! Und wenn ein Raubtier ausgehungert ist, ist es gieriger auf Fressen als im satten Zustand. Vielleicht kann es keinen Krieg mehr riskieren, aber Sabotage, Verleumdung, Geheimoperationen gehen wohl immer …