Entstanden Unrecht und Unmoral daraus, dass jemand einen Zaun zog und das Eigentum begründete? Machen der Fortschritt, der Kapitalismus, die Digitalisierung unsere schöne Welt zu einem unwirtlichen Ort? Oder sind die Fehlentwicklungen, die wir beklagen, vielleicht doch nur das Werk von sinistren Schurken, die mit dem Schaden anderer den eigenen Reichtum mehren? Ach, wenn es das Letztere wäre. Solchen Gegnern müsste doch beizukommen sein. Aber so einfach ist es leider nicht. Der Feind, dem wir so gern allerlei Begriffsmäntelchen umhängen – und ihn damit in Wahrheit eher verbergen als kenntlich machen –, ist und bleibt doch immer der Gleiche: Wir sind es selbst.
Nennen wir den »Schuldigen« also endlich einmal beim Namen: Die Ursache aller Probleme bin ich! Da steht es – und es ist durchaus buchstäblich gemeint. Um die eigene Verstrickung hier nur anzudeuten: Wer für sein Erspartes den größtmöglichen Ertrag sucht, wer im Discounter (oder im Internet) auf Schnäppchenjagd geht, wer sich privat kranken- und rentenversichert, mit der Billig-Airline in den Urlaub fliegt oder seiner demokratischen Pflicht mit einem Kreuz bei der FDP nachkommt und die Politik ansonsten bestenfalls spießig findet, der ist deshalb sicher noch kein schlechter Mensch. Er (oder sie) macht sich aber ganz gewiss nicht für eine friedliche, gerechtere Welt, für fairen Handel, den Erhalt der Natur oder einen existenzsichernden Mindestlohn verdient. In anderen Worten: Wenn ich die Ursache aller Probleme bin, dann bin ich in Wahrheit viele und stehe hier gewissermaßen stellvertretend am Pranger. Für uns. Oder genauer, um die Sache etwas interessanter zu machen: für die Männer unter uns. Noch präziser: für eine sich aus demütigender Entbehrlichkeit speisende männliche Hybris.
Ja, ich behaupte, wir Männer sind die Ursache aller Probleme. Das mag für die Frauen keine Neuigkeit sein, ist aber, finde ich, eine (Selbst-)Anklage, die nach Erklärung verlangt. Beginnen wir mit dem Wesentlichen, dem ebenso Basalen wie Banalen: Frauen und Männer sind nicht gleich. (Wer sich keiner dieser Zuschreibung zuordnen kann, möge die Differenzierung philosophisch nehmen, »Yin und Yang« eben.) Sie werden es niemals sein. Und das ist gut so. Einerseits. Die Verschiedenartigkeit von Mann und Frau ist eine nicht versiegende Quelle emotionaler, intellektueller und körperlicher Unruhe, der wir zweifellos die höchsten Kulturleistungen verdanken, aus der Poesie und Musik entspringen, in der Literatur und Malerei, Intimrasur und Samstag-Abend-Shows ihren Ursprung haben. Kurz, alles Schöne und Schillernde, Abseitige und Überflüssige, all dasjenige, was unser ansonsten recht jämmerliches Erdendasein mit Sinn und Sinnlichkeit anzufüllen imstande ist, resultiert aus der Andersartigkeit der Geschlechter. Woraus denn sonst?
Das ist aber leider nicht die ganze, sondern erst weniger als die halbe Wahrheit. Wo Licht ist, findet sich auch Schatten. Aus derselben, Liebe und Lust spendenden, Kultur und Konsum nährenden Ungleichheit erwachsen andererseits auch nahezu sämtliche Unerfreulichkeiten des Alltags sowie die allermeisten Beschädigungen unseres Seelenheils. »Kabale und Liebe« – die Reihenfolge ist nicht zufällig. Kriege wurden entfacht, fruchtbare Landstriche verwüstet, Sippschaften gemeuchelt, Brunnen vergiftet, Karrieren und Lebenswege zerstört, nur weil es zwischen ihr und ihm nicht recht klappen wollte, weil sie ihn oder er sie nicht erhörte, weil man sich gegenseitig belog, betrog, beleidigte, erniedrigte, tyrannisierte. Der ganz normale Horror eben, millionenfach erlebt und erlitten.
Aber, um auf des Pudels Kern zu kommen: Die Hauptleidtragenden aller geschlechtlichen Wechselspiele waren und sind entgegen landläufiger Meinung die Männer. Sie sterben nicht nur früher als Frauen, sie tragen auch ansonsten die erheblich größeren Lasten. Wer bevölkert die Gefängnisse? Wer ist obdachlos? Wer zieht in den Krieg? Wer ist für die niederen und gefährlichen Arbeiten zuständig, wer schwitzt auf Bohrtürmen und friert bei der Robbenjagd? Wer trägt den Müll runter? Ganz überwiegend Männer! Und wenn Frauen dieses Faktum, wie üblich, als patriarchale Demagogie abtun wollen, seien sie an das amerikanische Arbeitsministerium verwiesen, dessen unbestechliche Statistiken belegen, dass 93 Prozent aller bei der Arbeit Getöteten Männer sind. Und das ist noch nicht alles: Auch in ihrer Freizeit kann sich die angebliche Krone der Schöpfung keineswegs in Sicherheit wiegen. So hatten beispielsweise auf der Titanic selbst die reichsten Männer eine niedrigere Überlebensrate (34 Prozent) als die ärmsten Frauen (46 Prozent).
So sieht es aus. Das ist der ungeschönte Stoff, aus dem nun für gewöhnlich die falschen Gender-Geschichten gestrickt werden. Denn die Geschlechter-Ungleichheit, nennen wir sie ruhig »Ungerechtigkeit«, beruht nicht auf einer Männer- oder Frauenverschwörung, ist nicht, wie unablässig kolportiert, Ausdruck eines immerwährenden Geschlechterkampfes, mit Tätern auf der einen und Opfern auf der anderen Seite. Nein, die Differenzen sind Natur, und in der Natur herrscht der reine Pragmatismus: Aus der Perspektive der Evolution sind die Männer nämlich durchaus entbehrlich. Für eine erfolgreiche Fortpflanzung braucht eine Kultur möglichst alle gebärfähigen Frauen, aber längst nicht alle Y-Chromosomenträger. Verliert eine Gruppe die Hälfte ihrer Männer, kann die nachfolgende Generation immer noch die größtmögliche Zahl haben. Verlöre sie die Hälfte ihrer Frauen, würde die künftige Generation deutlich reduziert sein. Das ist der ganz und gar plausible Grund für die unterschiedlich verteilten Risiken: Die spezifische Merkmalsverteilung hat sich evolutionär bewährt, sie ist mithin biologisch begründet.
Klingt komisch? Wird noch verrückter! Tatsächlich haben neuere Forschungen auf der Basis von DNA-Analysen das seltsam anmutende Ergebnis zutage gefördert, dass die heute lebenden Menschen von doppelt so viel Frauen wie Männern abstammen. Das heißt, dass sich in der Menschheitsgeschichte vielleicht 80 Prozent der Frauen, aber nur 40 Prozent der Männer fortgepflanzt haben (so die Ergebnisse ernsthafter anthropologischer Forschung). Würde ein biologischer Organismus Zensuren verteilen, kämen die Frauen auf eine gute 2, die Männer allenfalls auf ein Mangelhaft. Das ist für Reproduktionszwecke zwar immer noch ausreichend, hat jedoch erhebliche Auswirkungen auf die, nennen wir es behutsam, intelligible Ausstattung von Männern und Frauen.
Um auf sich aufmerksam zu machen, blieb den Männern – historisch und aufs Ganze betrachtet – gar nichts anderes übrig, als Geschichte zu schreiben, sich zu »verfleißigen« (lat. industria, Fleiß) und ein immer größeres Rad zu drehen. Sie riskierten Leib und Leben, zogen forschend (ja, auch plündernd) in die Welt und konkurrierten unablässig mit ihresgleichen um Macht und Reichtum, weil nur die Starken, diejenigen, die aus der Masse herausragen, auf Erfolg hoffen durften (gemessen an der Zahl ihrer Nachkommen). Die Frauen hingegen waren und sind in dieser Hinsicht dann am erfolgreichsten, wenn sie Risiken meiden und sich, in möglichst angenehmer Deckung, für den »Richtigen« bereithalten.
Diese unterschiedlichen Strategien blieben natürlich nicht ohne sittlich-charakterliche Folgen. Frei heraus gesagt: Frauen sind nicht nur biologisch erfolgreicher, sondern einfach auch sympathischer als Männer. Liebenswert zu sein, Vertrauen und Intimität zu stiften, ist für sie die beste Gewähr, einen Partner zu finden, während die wettbewerbs- und mehrwertorientierten Männer ihre Chancen vor allem dadurch erhöhen können, dass sie – hengstbissig – viele andere Männer ausstechen. Dschingis Khan hatte nach unbestätigten Schätzungen angeblich mehr als tausend Kinder, er war aber gewiss kein zartfühlender Gefährte, mit dem man die Nächte durchquatschen, sich in Kleiderfragen beraten, den Kräutergarten hegen oder einen Kindergeburtstag vorbereiten konnte.
»Du lieber Himmel«, höre ich die eine oder andere nicht mehr geneigte Leserin aufstöhnen, »was für ein reaktionärer Schmarren«. Schwert versus Kelch, Mars versus Venus, Konkurrenz versus Kooperation – man kennt das aus dem Effeff und ist bestens darin geübt, müde abzuwinken. Jede und jeder kann sofort etliche Gegenbeispiele präsentieren – man denke an Mahatma Gandhi oder Margaret Thatcher –, die eindeutig belegen, dass wir es hier mit einem konstruierten, die alte Männerdominanz zementierenden Zerrbild zu tun haben. Die Empörung mag ja auch politisch korrekt sein, sie hat aber leider weit weniger Evidenz auf ihrer Seite als ihr Auslöser. Zugegeben, der Eine und die Andere mögen sich nicht so recht ins Raster fügen. Die Menschen sind komisch, und jeder ist irgendwie ein bisschen anders. Aber machen wir uns, wiederum übers Ganze gesehen, doch nicht länger etwas vor. Die vermeintlichen Vorurteile sind gar keine. Wie jedes Klischee konnte auch das Mars-Venus-Bild nur reüssieren, weil es einen realitätshaltigen Kern enthält. Ja, es ist, wie wir gesehen haben, evolutionär durchwirkt.
Kurzum, es gibt Indizien, die nahe legen, dass die Dynamik sozialer, kultureller, technischer Entwicklungen zu großen Teilen einer gewissermaßen instinktiven, natürlichen Suchbewegung entspringt. Salopp formuliert: Cherchez la femme! Aber der dieser Suche zugrunde liegende Trieb hat sich als ein Überlebensprogramm mit erheblichen Nebenfolgen erwiesen. Ja, das natürliche Streben (der Männer) hat die Ureinwohner Amerikas nahezu ausgerottet, es holzt den Regenwald ab und verdreckt die Atmosphäre. Es hat uns aber en passant auch viele Dinge beschert – Gewürze, Kartoffeln oder Pasta, Kathedralen, archäologische Museen oder die Olympischen Spiele, Nylonstrümpfe, Teflon, die Computermaus oder Energiesparlampen –, die wohl die wenigstens von uns heute missen möchten.
Das Trauma der männlichen Entbehrlichkeit und die männliche Sorge, sich nicht fortzupflanzen, sind die wahren Einpeitscher des Fortschritts. Auf Selbstbegrenzung und Subsistenz sind die (wir) armen wilden Kerle eben nicht ausgerichtet. Sie sind auf Risiko konditioniert, auf Wachstum, Beschleunigung. Sie wollen, ach was, müssen etwas hermachen. Aber dürfen wir das so verstandene Männliche deshalb schelten? Denn wenn meine Argumentation halbwegs stichhaltig ist, dürfte so ziemlich alles, was wir Kultur zu nennen pflegen, aus solcher – natürlichen – männlichen Hybris hervorgegangen sein.
Wer nun die Natur über den freien Willen stellt und die Naturwissenschaft für Religion, also für sakrosankt hält, könnte jetzt achselzuckend ausrufen: »Kommt schon, was ist ein läppischer Krieg, eine ölverschmierte Küste oder ein Staatsbankrott gegen das Werk von Goya, gegen Goethes Faust, Mozarts Zauberflöte, den Dom von Monreale oder einen gelben Ferrari? Auch das Schöne, Gute, Wahre hat eben einen Preis, den wir nur immer wieder aufs Neue zu drücken versuchen können, um dessen Begleichung wir aber nie herumkommen werden.«
Ja, das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Dass der Fortschritt seltsame Gegensätze aus sich hervortreibt und in sich vereint, ließe sich durch zahllose Indizien zu einer Gewissheit erhärten. Im Filmklassiker »Der dritte Mann« etwa sagt Orson Welles sinngemäß, die Renaissance in Italien sei in einer Zeit entstanden, als Bruderkriege, Verrat und Mord einen Höhepunkt erreichten, während der lange, ruhige Frieden der Schweiz nur die Kuckucksuhr hervorgebracht habe. Müssen wir also, wenn wir so etwas wie die Renaissance goutieren und die Kuckucksuhr vermeiden wollen, Mord und Totschlag billigen? Nein. Oder zumindest: nicht mehr. Denn der verstörende, leider unbestreitbare Zusammenhang ist wiederum allenfalls die halbe Wahrheit. Was warum woraus folgt, ist nicht leicht aufzuklären. Tatsächlich wissen wir nicht, ob es ohne Hölle keinen Himmel, ohne das Böse auch nichts Gutes gäbe. Wir können es nicht wissen, weil das Gegenläufige, weil Schwarz und Weiß in der »großen« Welt nun einmal existieren. Beides. Gleichzeitig. Wir können uns aber in unserer »kleinen« Welt für das Eine oder das Andere entscheiden. Wir haben mittlerweile – und das war ja nicht immer und ist leider nicht überall so – die zuweilen quälende Freiheit, eine Wahl zu treffen. Wir müssen keine Aktien kaufen, weil es sie gibt. Wir müssen keinen Atomstrom beziehen, weil die Meiler am Netz sind. Und so weiter. Aber wir können all das tun und machen es ja zuweilen auch. Und genau das ist der Grund, warum wir selbst die Ursache aller Probleme sind. Denn nur wer frei ist, zu wählen, macht sich auch schuldig. Zwar mag es in unseren unübersichtlich gewordenen Zeiten alles andere als leicht sein, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es bleibt aber möglich.